Golf heißt der Stadtteil der senegalesischen Hauptstadt Dakar, in dem Ahmed Konté wohnt. Golf hört sich schick, grün und ein bisschen mondän an. Dakar-Golf hat nichts davon. Die Hauptstraße ist chronisch überlastet, sie ist die einzige in diesem Neubauviertel, die geteert ist. Den Gehweg haben die Stadtplaner vergessen. In den Seitenstraßen beherrscht der Sand das Straßenbild. Kinder spielen im Staub. Eineinhalb Stunden Busfahrt sind es von hier bis ins Zentrum. 25 Kilometer, davon 20 Kilometer Stau. Ahmed Konté wohnt bei seinem Onkel. Ihm gehört das weißgetünchte Haus in einer der namenlosen Straßen. Man tritt durch eine braune Holztür und steht in einem dunklen Gang. Nach ein paar Metern ist man im offenen Innenhof. Von hier gehen die vier Zimmer ab, in denen nicht nur Ahmed und sein Onkel, sondern auch dessen Frau, ihre eigenen Kinder und noch ein paar Neffen leben. Der Hof ist peinlich sauber, ein Mädchen fegt. Ahmed und sein Onkel sitzen auf einer Bank vor einem der Zimmer. Es ist das Zimmer, in dem Ahmed schläft. Flache Polyestermatratzen liegen aufeinander gestapelt in einer Ecke, eine Kommode, Seife, Shampoo, Kamm, nackter Estrichboden. Das ist die ganze Einrichtung.
"Wenn wir heute die Jungen dazu drängen, in Europa ihr Glück zu suchen, dann weil sie dort ihren Familien helfen können", sagt der Onkel Samba Roubalde, ein freundlicher älterer Herr mit kleinem Schnauzbart. "Deswegen lassen wir unsere Jungen gehen. Schauen Sie sich um in diesem Haus! Mehr als 14 Leute und ich bin der einzige, der für sie aufkommt, ich muss Wasser und Strom und Telefon bezahlen und das Essen und andere Ausgaben. Einer, der emigriert, kann mir aus Europa jeden Monat Geld schicken."
Ahmed schaut betreten zu Boden. Ein Sohn Roubaldes hat es nach Spanien geschafft, Ahmed nicht. Er gehörte zu den mehr als 2.000 Schwarzafrikanern, die von den marokkanischen Behörden im Herbst 2005 verhaftet, ausgeraubt, in der Wüste ausgesetzt und nach internationalen Protesten schließlich in ihre Heimatländer abgeschoben wurden. Da war Ahmed bereits knappe zwei Jahre unterwegs gewesen, um nach Europa zu kommen. Ahmed sagt: "Es ist unmöglich, hier Arbeit zu finden, und wir brauchen Geld." Er hat Schweißer gelernt. Er ist 24, noch nie in seinem Leben hat er eine Arbeitsstelle gefunden.
Es ist später Nachmittag; am Morgen ist Ahmed in einem der Industrieviertel Dakars unterwegs gewesen. Er hatte einen Vorstellungstermin, doch der Meister sagte ihm, die Auftragslage sei schlecht, er solle in ein paar Monaten wiederkommen. "Seit sechs Monaten geht das schon so - seit ich in den Senegal zurückgekommen bin."
"Er hat mir gesagt, er wolle nach Europa gehen und dort Arbeit suchen, weil er hier zwar seine Arbeit gelernt, aber nie Arbeit gefunden hat. Ich war einverstanden, weil ich ihm hier ja nichts Besseres bieten konnte!", ergänzt Samba Roubalde. Er ist Rentner und hat jahrelang im Freihafen der Stadt gearbeitet. Seine Rente ist mager, die Familie schlägt sich durch. Damit Ahmed und sein Cousin die Reise antreten konnten, hat die ganze Familie zusammengelegt. Wie viel Geld in Ahmeds Reise investiert wurde, will er nicht sagen, aber es muss eine ganze Menge gewesen sein.
Ahmeds Rückkehr im Herbst vor einem Jahr war traurig. " Ich habe mich wirklich geschämt", sagt er. Sein Onkel: "Der Anruf hat mich ziemlich überrascht. "Er sagte, ,Onkel, ich bin wieder da, hol mich ab.' Das habe ich getan, als wir nach Hause zurückkamen, war die ganze Familie da und hat geweint. Er hatte nichts außer einem Hemd und die Hose, die er am Leib trug." Sam Roubalde war nicht wütend, sagt er. Immerhin hatte es sein Sohn nach Spanien geschafft. Mit Abschiebungen kennt Roubalde sich aus: "1966 bin ich vom Dorf nach Dakar gekommen, weil ich nach Frankreich emigrieren wollte. Ich bin dreimal gegangen und man hat mich jedes Mal wieder zurückgeschickt. Mir hat dann ein Onkel einen Job beim Hafen verschafft, aber ich wollte nicht in Dakar bleiben. Ich wollte nach Europa gehen!" Europa, das ist wirtschaftliche Sicherheit. Europa, das ist eine Chance. Senegal, das ist keine Chance. "Europa - da kann man viel verdienen", sagt Ahmed. "Im Vergleich zu hier. Wenn Du 100 Euro verdienst, das sind 65.000 Franc. Wenn Du das pro Tag verdienst, ungefähr, dann geht es Dir gut."
Ahmed weiß: Sein Onkel ist um jeden froh, den er nicht durchfüttern muss. Der sich seine eigene Exis-tenz aufbauen kann. Und wenn alles gut geht, Geld schickt, so wie all die anderen, die es geschafft haben, und die ihren Eltern Häuser bauen und Autos kaufen und den Brüdern und Schwestern Schule oder Uni bezahlen. Und die anrufen daheim und erzählen, wie toll es ist in Europa, und wie schön das Leben und wie reich die Menschen dort sind, und wie sie es geschafft haben in Europa.
Europa ist besser, Ahmed weiß das. Er hat es schließlich schon gesehen, als er über den Zaun klettern wollte, der Marokko von der spanischen Enklave Melilla trennt. "Europa - das ist nicht wie Afrika! Wenn man nur die Straßenlampen vergleicht zwischen Melilla und Nador - das ist nicht dasselbe! Da sieht man schon den Unterschied. Melilla, das ist Europa. Nachts, wenn man die Lichter von Melilla und die von Nador sieht - da sieht man den Unterschied!"
Es wird langsam dunkel, die Hitze lässt nach. Die Tür öffnet sich, der Lärm der auf der Straße spielenden Kinder wird größer. Ein hübsches Mädchen tritt ein, es ist Kumba, Roubaldes Tochter. Dieses Jahr macht sie Abitur, danach will sie studieren - am liebsten in Europa. Im Senegal, sagt sie, sind die Universitäten überfüllt und es wird dauernd gestreikt. Deshalb will sie nach Frankreich - aber nur mit Visum. "Die Emigration ist nötig. Wir leben in einem unterentwickelten Land, also müssen sie in die entwickelten Länder gehen, um Lohn und Brot zu suchen. Deshalb bin ich nicht gegen die Emigration. Aber ich bin gegen die illegale Emigration. Ich bleibe lieber in meinem Land, besorge mir die nötigen Papiere und bewerbe mich um ein Visum, damit ich gehen kann."
Wenn Ahmed einen Job bekommt, dann wird er alles sparen, was er sparen kann. Und dann wird er wieder aufbrechen nach Norden, Richtung Europa, wo er arbeiten kann und Geld verdienen.
Senegal ist ein demokratisches Land. Seit der Unabhängigkeit hat das Land noch keinen Krieg erlebt - im unruhigen Westafrika eine Seltenheit. Seit Jahrzehnten ist der Senegal einer der Lieblingsschüler der Europäer: Mehr als 25 Prozent des Staatshaushaltes stammen aus Entwicklungshilfe westlicher Industrienationen. Genützt hat es nicht viel. Der Senegal ist nicht reicher als seine Nachbarländer, zum Beispiel Mauretanien, Mali oder Guinea. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leben von weniger als zwei Dollar pro Tag, mehr als ein Viertel unter der Armutsschwelle. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent, mehr als 40 Prozent der registrierten Arbeitslosen sind jünger als 29 Jahre.
Vor 20, 30 Jahren sind die Senegalesen vom Land in die Stadt gekommen, mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Städten, ein Rekord in Afrika. "Die Arbeit, für die unsere Eltern in die Stadt gekommen sind, die gibt es hier nicht mehr", meint ein Nachbar von Samba Roubalde beim Abschied. Er ist Mitte 30. Zu alt, sagt er, um sich auf die gefährliche Überfahrt einzulassen. Jetzt hofft er, irgendwie an ein Visum kommen zu können. "Wenn es wenigstens Zwei- oder Drei-Jahres-Visa gäbe", sagt er.
Jetzt kommt die Nacht. Sie kommt hier schnell. Die Garküchen in der Nachbarschaft öffnen. Ein würziger Geruch von Kohlefeuern und Grillfleisch liegt in der Luft. Morgen wird Ahmed wieder um sechs Uhr aufstehen und in die Stadt fahren. Auf der Suche nach Arbeit. Er wird keine finden.
Rüdiger Maack ist Hörfunkjournalist beim Hessischen Rundfunk.