Chicago hat drei Millionen Einwohner, in Äthiopien leben 70 Millionen Menschen. Aber es gibt mehr äthiopische Ärzte in Chicago als in Äthiopien. Das bitterarme Land steht in Afrika an der Spitze für die Rate der Auswanderung hochgebildeter Fachkräfte. In den Jahren der 1992 gestürzten kommunistischen Militärdiktatur verließen drei Viertel aller Hochschulabsolventen das Land. Inzwischen ist die Emigrationsrate zwar auf 50 Prozent gesunken, aber eine Konferenz im Jahr 2000 stellte fest, dass es in Äthiopien nur einen einzigen Vollzeit-Ökonomieprofessor gibt - gegen 100 äthiopische Fachökonomen in den USA. Hochqualifizierte Afrikaner haben es in ihren Heimatländern traditionell schwer. Während der Kolonialzeit waren ihnen Verantwortungsposten versperrt. Nach der Unabhängigkeit entschied vielerorts politische Loyalität über Postenvergabe.
Als in den 90er-Jahren Einparteienstaaten reihenweise stürzten, öffneten sich zwar neue Chancen, aber zugleich sorgten Wirtschaftsreformen dafür, dass Gehälter sanken und Stellen rar wurden. Kein Wunder, dass von 600 Ärzten, die Sambias führende medizinische Hochschule zwischen 1978 und 1999 ausbildete, nur 50 im Land blieben. Die meisten medizinischen Fachkräfte aus Ghana und Malawi praktizieren heute in westlichen Industrienationen. In den frühen 80er-Jahren verließen jährlich rund 4.000 hochqualifizierte Afrikaner den Kontinent Richtung Europa und Nordamerika, in den 90er-Jahren waren es schon 50.000. Es leben jetzt weit über 300.000 hochqualifizierte Afrikaner in der Diaspora. Nigeria und Ghana in Westafrika sind neben Äthiopien die Hauptherkunftsländer. Von den hoch qualifizierten Bewohnern Westafrikas waren bis zum Jahr 2000 26,7 Prozent aus ihrer Heimat ausgewandert - weltweit beträgt die Rate 5,5 Prozent.
Zugleich arbeiten auf dem Kontinent rund 100.000 weiße Experten in Positionen, die eigentlich Einheimische inne haben müssten - zu einem Vielfachen der einheimischen Gehälter. Für sie geht ein Drittel der öffentlichen Entwicklungshilfe für Afrika drauf, rund 4 Milliarden Dollar pro Jahr. Oft sind sie es, die afrikanischen Regierungen in Gutachten erklären, wieso es volkswirtschaftlich unverantwortlich wäre, afrikanische Gehälter im öffentlichen Dienst an europäische Standards anzupassen - um dann das Fehlen fähiger afrikanischer Fachkräfte zu beklagen oder um sich zu wundern, wieso die Korruption nicht abnimmt.
Der "brain drain" aus Afrika ist aus afrikanischer Sicht ein Skandal erster Güte, und die sich abzeichnende neue Migrationspolitik Europas verschärft ihn. Die EU hat die Einwanderung nach nordamerikanischem Muster entdeckt - Quotenregelungen nach den Bedürfnissen der eigenen Arbeitsmärkte. Sie erwägt sogar die Einrichtung von Arbeitsämtern in Afrika, in denen mutmaßliche Emigranten sich vor der Ausreise nach einem Job in Europa umsehen könnten. Organisierter Diebstahl sei das, ärgert sich Alpha Oumar Konaré, einstiger Präsident des Emigrationslandes Mali und heute Kommissionschef der Afrikanischen Union.
Es gibt Initiativen, den "brain drain" umzukehren. So raten Experten dazu, afrikanischen Migranten die Möglichkeit flexiblen Reisens zu geben. Auch direkte Kooperationen zwischen staatlichen Institutionen, die beispielsweise ausgewanderten Pflegekräften aus dem südlichen Afrika eine für die Rückkehr nützliche Zusatzausbildung in Europa bieten, werden erwogen.
Doch solche Dinge können, wie alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, längst nicht allen Einzelschicksalen gerecht werden. Bis vor kurzem waren die meisten afrikanischen Akademiker, die ihr Glück in der Fremde suchten, älter als die unabhängigen afrikanischen Staaten, aus denen sie kamen. Da fällt es schwer, besondere Loyalität zu entwickeln.