Einleitung
Es mangelt nicht an Diagnosen: Deutschland gehört zu den Ländern mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate. Nirgends ist die Kluft zwischen Kapitalreichtum und Kinderarmut größer als hier. Das seit 1972 ununterbrochen anhaltende Geburtendefizit der deutschen Bevölkerung unterhöhlt den Generationenvertrag, auf dem das System der Sozialversicherung seit 1957 beruht. Mit einer Geburtenrate von 1,3 wird nicht nur das bei 2,1 liegende Reproduktionsniveau der Gesellschaft weit verfehlt, die deutsche Gesellschaft selbstunterliegt einem dramatischen Alterungsprozess. Diese unausweichliche Entwicklung stellt nicht nur die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung vor einen bisher unbekannten Reformbedarf, sie belastet auch die wirtschaftliche Entwicklung, das Bildungssystem, den Wohnungsmarkt und nicht zuletzt die Innovationsfähigkeit. Zusammen mit der Binnenwanderung führt sie darüber hinaus zur Entvölkerung ganzer Regionen, vor allem in Ostdeutschland. Der Generationenkonflikt scheint vorprogrammiert.
Wenn der Alterslastquotient, also der Anteil der über 65-Jährigen, sich von 24 Prozent am Ende des vergangenen Jahrhunderts auf 51 Prozent 2050 mehr als verdoppelt, wenn zehn Erwerbstätige nicht mehr die Rente von fünf, sondern von zehn Rentnern zu finanzieren haben, dann ist es um die Generationengerechtigkeit geschehen, wenn denn Generationengerechtigkeit heißt, dass eine Generation der folgenden so viele Lebens- und Entfaltungschancen hinterlässt, wie sie selbst vorgefunden hat. Es herrscht sehr große Einigkeit in der Einschätzung der Dramatik der demographischen Entwicklung. Diese zerbricht allerdings schnell, wenn es darum geht, die Ursachen der demographischen Katastrophe zu benennen. Warum werden in Deutschland so wenige Kinder geboren? Liegt es an der finanziellen Belastung, die Kinder für ihre Eltern mit sich bringen? An der Transferausbeutung der Familien in unserem Sozialversicherungssystem? An der familienfeindlichen Emanzipationsideologie der 1960er und 1970er Jahre? An der durch Reformen des Scheidungsrechts begünstigten Instabilität von Ehe und Familie? An der Bindungsangst der jungen Generation? An der Einführung der hormonellen Empfängnisverhütung Mitte der 1960er Jahre und der Freigabe der Abtreibung Anfang der 1970er Jahre? An der mangelnden Vereinbarkeit von Beruf und Familie? An den fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen? Solange über die Ursachen des Geburtenrückgangs kein Konsens zu erzielen ist, solange wird eine Erfolg versprechende Therapie nicht zu entwickeln sein.
Die öffentliche Debatte erweckt gegenwärtig den Eindruck, als sei die Ursache klar: die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Selbst wenn die Schwierigkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren, wirklich die einzige Ursache oder auch nur die Hauptursache des Geburtenrückgangs wäre, so ist damit noch keineswegs geklärt, wie diese Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden könnte - ob durch den heute favorisierten Ausbau der staatlichen Betreuungseinrichtungen oder durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für einen Wiedereinstieg der Mütter ins Berufsleben nach einer kinderbedingten Unterbrechung. Es gibt daneben aber noch eine Reihe tabuisierter Ursachen des Geburtenrückgangs, und darüber hinaus in der Vereinbarkeitsdebatte Ziele, die - nur unzureichend verschleiert - mit der Erhöhung der Geburtenrate nichts zu tun haben, sowie Fragen, die ganz verdrängt werden.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist schwierig. Wer wollte das bestreiten. Einerseits haben sich die Frauenbiographien im vergangenen halben Jahrhundert verändert. In der Ausbildung von Mädchen und Jungen, von jungen Frauen und Männern ist - von der Schule bis zum Hochschulabschluss - nicht nur eine Gleichberechtigung, sondern ein faktischer Gleichstand erreicht worden. Und wer eine lange Ausbildung oder ein Studium erfolgreich absolviert hat, ist auch daran interessiert, den erlernten Beruf wenigstens eine gewisse Zeit lang auszuüben, auch wenn das zur Folge hat, dass das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden immer höher und das biologische Fenster für Empfängnis und Geburt von Kindern immer schmaler wird. Arbeit und Beruf sind darüber hinaus ein hohes Gut, ein Mittel nicht nur des Einkommenserwerbs, sondern auch der Gestaltung der Welt und der Selbstverwirklichung. Arbeit und Beruf ermöglichen es dem Menschen, mehr Mensch zu werden. 1
Andererseits ist die Erziehung von Kindern und das Management eines Familienhaushaltes nicht nur eine Beschäftigung für den Feierabend, sondern selbst ein Beruf, der in bestimmten Lebensphasen des Kindes nur schwer mit einem Erwerbsberuf vereinbar ist. Auch für diesen Beruf gilt, dass er ein Mittel ist, mehr Mensch zu werden. Aber der Beruf der Hausfrau und Mutter hat ein schwerwiegendes Defizit. Ihm fehlen Anerkennung und Einkommen. Dennoch geben derzeit (2004) rund zwei Drittel aller Frauen nach der Geburt eines Kindes ihren Erwerbsberuf vorübergehend auf. Mit einem Kind unter drei Jahren sind rund 30 Prozent der Mütter erwerbstätig. Ist das jüngste Kind im Kindergartenalter, sind es knapp 60 Prozent, und ist das jüngste Kind zwischen sechs und 14, sind es 70 Prozent. 2 Die Wünsche, Beruf und Familie vereinbaren zu können, sehen bei den betroffenen Müttern meist anders aus als die Realität: 44 Prozent der Frauen mit Kindern würden gern eine Teilzeit- und 19 Prozent gern eine Vollzeitbeschäftigung ausüben. Nur 22 Prozent würden sich für eine vorübergehende Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit entscheiden. 3
Auf die Frage nach der Ursache für die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit scheint es nur eine Antwort zu geben: Es fehlen, so heißt es, nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in den Untersuchungen von Stiftungen und Instituten, Kinderbetreuungsinstitutionen, Kitas, Ganztagskindergärten (möglichst ohne oder mit nur ganz kurzen Ferien) und Horte. Dass es für die Entwicklung der Kinder besser sein könnte, wenn die Mutter zumindest in der Stillzeit ihren Erwerbsberuf ganz aufgibt, um sich ohne Stress dem Kind zu widmen, scheint als antiquiert zu gelten.
Schnelle Rückschlüsse von der Dichte der Kinderbetreuungseinrichtungen auf die Höhe der Geburtenrate sind aber wissenschaftlich nicht tragfähig. Sie werden allein schon durch einen Vergleich der Lage in Ost- und Westdeutschland widerlegt. In Ostdeutschland gab es 2004 für 37 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Krippenplatz, in Westdeutschland nur für 3 Prozent; in Ostdeutschland waren 98 Prozent der Kindergartenplätze Ganztagsplätze, in Westdeutschland nur 20 Prozent, Ostdeutschland hatte für 41 Prozent der 6- bis 11-Jährigen Hortplätze, Westdeutschland nur für 5 Prozent. 4 Dennoch war die Geburtenrate in Westdeutschland mit 1,2 deutlich höher als in Ostdeutschland mit rund1,0.
Die Erwartung, mit einer Ausweitung der staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen könne die Geburtenrate erhöht werden, wird schließlich widerlegt durch die Prioritäten der Betroffenen. In der Hierarchie der Bedingungen, die erfüllt sein sollen, um die Bereitschaft zu Kindern zu entwickeln, stehen die Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder weit hinter der Stabilität der Beziehung und dem partnerschaftlichen Konsens, dass beide sich ein Kind wünschen. Während 92 Prozent der 18- bis 44-Jährigen nach einer Allensbacher Untersuchung den Konsens im Hinblick auf den Kinderwunsch und 84 Prozent die Stabilität der Beziehung für entscheidend halten, rangiert die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsmöglichkeiten mit 25 Prozent weit abgeschlagen nur an 9. Stelle von insgesamt 14 Voraussetzungen. 5
Die Tabus: Ehescheidung und Abtreibung
Der Wandel der weiblichen Biographie im vergangenen halben Jahrhundert hin zur Gleichberechtigung in Ausbildung und Studium wird in der Debatte über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie meist nur im Hinblick auf den Preis für die Geburtenrate betrachtet. Der Preis besteht in der Verengung des biologischen Zeitfensters der Frau, das für Empfängnis und Geburt von Kindern optimal ist. Dieses Optimum liegt im Alter von 26 bis 31. Das Risiko, dass der Kinderwunsch erst Gestalt annimmt, wenn sich das biologische Fenster schließt, ist groß. Schneller, als bei den ersten Karriereschritten erwartet, ist es zu spät für die Geburt eines Kindes oder weiterer Kinder nach einer ersten Geburt.
Weithin tabu scheint die Frage zu sein, obder Wandel weiblicher Biographien, der Trend zur eigenen beruflichen Absicherung auch mit dem Stabilitätsverlust der Partnerbeziehung zusammenhängt. Wenn vier von zehn Ehen im Laufe der Zeit geschieden werden, wenn nur 52 Prozent aller Verheirateten bzw. mit einem Partner Zusammenlebenden überzeugt sind, dass die eigene Partnerschaft ein ganzes Leben hält, 6 dann ist die Ausbildung der Frau nicht nur ein Grundrecht und eine wichtige Voraussetzung der Selbstverwirklichung, sondern auch eine Art Versicherungspolice gegen Armut nach dem Zerbrechen der Partnerschaft.
Tabuisiert wird auch die Frage, ob die katastrophale demographische Entwicklung etwas mit der Reform des Abtreibungsstrafrechts zu tun hat. Seit der Einführung der Fristenregelung sind Abtreibungen faktisch freigegeben. Daran haben auch die Verwerfung der Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht am 25. Februar 1975 und die am 12. Februar 1976 eingeführte Indikationenregelung nichts mehr geändert. Mit den Reformen des § 218 StGB von 1992 und 1995 ist die Fristenregelung, kaum kaschiert durch das Beratungsangebot, dann erneut Gesetz geworden. 7 In den 32 Jahren seit der ersten Reform des § 218 1974 sind allein nach den unrealistischen Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland (West und Ost) rund 4,4 Millionen ungeborene Kinder getötet worden. Dass die offiziellen Zahlen unrealistisch sind, hat das Statistische Bundesamt bis zum Jahr 2000 jedes Jahr selbst erklärt. 8 Nach plausiblen Schätzungen müssen die Zahlen verdoppelt werden. Das ergibt rund 8,8 Millionen Abtreibungen von 1974 bis 2005.
Mehr Kinder oder mehr Erwerbstätige?
Die gegenwärtige Familienpolitik begründet alle Forderungen nach einem Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, nach kostenlosen Kindertagesstätten und Kindergärten sowie nach der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten mit dem Geburtenrückgang und der notwendigen Erhöhung der Geburtenrate. In der politischen Debatte nur selten, umso unverhohlener aber in den einschlägigen Studien der Bertelsmann Stiftung, des Instituts der Deutschen Wirtschaft, des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung oder der Evangelischen Akademie Loccum wird die Forderung nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit einem anderen Ziel begründet: mit der Mobilisierung des weiblichen Arbeitskräftepotenzials. Da sich das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2050 um ein Drittel verringere, müssten Frauen, so die Studie der Bertelsmann Stiftung, in erheblich größerem Umfang als bisher erwerbstätig werden. Dies sei "volkswirtschaftlich notwendig, um künftige Fachkräfteengpässe und die Folgen der demographischen Verschiebungen zu begrenzen". 9
Die gegenwärtige Familienpolitik, die mit Kindergeld, Elterngeld, Steuerrecht und Ansprüchen auf Teilzeiterwerbstätigkeit das vollständige oder teilweise Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zwecks Kinderbetreuung erleichtert, führe nicht nur zu einer "Vergeudung von Humankapital, ineffizienter Allokation bei der Produktion haushaltsnaher Dienstleistungen und Risiken für die sozialen Sicherungssysteme", 10 sondern auch dazu, dass "sich tradiertes geschlechtsspezifisches Rollenverhalten verfestigt". 11 Die gegenwärtige Familienpolitik gilt deshalb aus dieser Perspektive als kontraproduktiv, 12ja sogar als "Falle". 13
Die Familienpolitik gerät in dieser Perspektive, in der sich arbeitsmarktpolitische und feministische Motive mischen, zur Magd der Arbeitsmarktpolitik. Die Frage, was dem Wohl des Kindes besser dient, die Erziehung in der Familie oder die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen, wird nicht gestellt, geschweige denn seriös erörtert. Ob Betreuung dasselbe ist wie Erziehung, auch diese Frage wird nicht gestellt. Manche der Studien zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie restaurieren ungeniert die Krippenideologie der DDR, wenn beispielsweise in den Loccumer Protokollen behauptet wird, "die familienpolitische Unterstützung häuslicher Kinderbetreuung zu Lasten der Berufstätigkeit von Müttern konterkariert ... die Förderung von Chancengleichheit" 14 , oder wenn in der Studie der Bertelsmann Stiftung unterstellt wird, in den staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen gelinge es "eher als in privaten Betreuungsformen, pädagogische Standards zu verwirklichen" und "den Kindern Sozialisationserfahrungen (zu) vermitteln, die sie als Einzelkinder oft nicht machen können". 15
Die Studien kritisieren allesamt die bisherigen Instrumente der Familienpolitik als "ausgeprägt transferlastig". 16 Erziehungs- bzw. Elterngeld, Ehegattensplitting und Kinderfreibeträge im Steuerrecht, die beitragsfreie Mitversicherung von Ehefrauen und Kindern in der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Rechtsanspruch auf einen Teilzeitarbeitsplatz und sogar das Kindergeld hemmten die Erwerbstätigkeit der Frauen und vergrößerten den zukünftigen Fachkräftemangel. Deshalb wird für die Aufhebung des Ehegattensplittings, die Umlenkung der Transferzahlungen in den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuungsinfrastruktur und die Einschränkung von Elternzeit, Mutterschutz undTeilzeitanspruch geworben. 17 Das Kindergeld könne "zur Verbesserung der Betreuungssituation wirkungsvoller eingesetzt werden". 18 Mit der Ausweitung von Kindertagesstätten, Ganztagskindergärten und Horten würde nicht nur die Erwerbstätigkeit von Müttern gefördert, es würden auch neue Arbeitsplätze für Frauen geschaffen, da in diesen Einrichtungen in der Regel weibliches Betreuungspersonal tätig ist. 19 Das Kind kommt in diesen Studien, die nicht nur einzelne Stellschrauben der Familienpolitik, sondern deren Strukturen verändern wollen, nur als Störenfried vor. Es geht, so die Loccumer Protokolle 25, um "eine für andere Lebensbereiche störungsarme Kinderbetreuung". 20
Die Frage nach dem Wohl des Kindes wird nicht gestellt. Der Wert der Familie gilt zwar einstweilen noch als unverzichtbar - aber nur für die Reproduktion der Gesellschaft. Ihre Bedeutung für die Sicherung des Humanvermögens bleibt tabu. Wenn in der Vereinbarkeitsdebatte von Humanvermögen oder häufiger noch von Humankapital die Rede ist, dann meist von dem der Mutter, das dem Arbeitsmarkt nicht vorenthalten werden dürfe. Das Humanvermögen der zukünftigen Generation bleibt meist außerhalb des Blickfeldes. Völlig ausgeblendet bleiben die biologischen, psychologischen und gehirnphysiologischen Bedingungen seiner Entstehung.
Das Humanvermögen ist die Gesamtheit der Daseins- und Sozialkompetenzen des Menschen, die dem Erwerb von beruflichen Fachkompetenzen voraus liegen. 21 Sie werden in der frühen Kindheit in der Familie erworben. Hier werden die Weichen gestellt für die moralischen und emotionalen Orientierungen des Heranwachsenden, für seine Lern- und Leistungsbereitschaft, seine Kommunikations- und Bindungsfähigkeit, seine Zuverlässigkeit und Arbeitsmotivation, seine Konflikt- und Kompromissfähigkeit und seine Bereitschaft zur Gründung einer eigenen Familie, zur Weitergabe des Lebens und zur Übernahme von Verantwortung für andere. Hier wird über den Erfolg im schulischen und beruflichen Erziehungs- und Ausbildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der Bewältigung des Lebens mitentschieden.
Die entscheidende Phase für die Entstehung dieses Humanvermögens ist die frühe Kindheit. Die Verhaltensbiologie und die Entwicklungspsychologie haben die Bedeutung dieser Phase, die nicht zwingend, aber doch in der Regel an die biologische Familie gebunden ist, die im Ausnahmefall auch von einer Adoptionsfamilie, nie aber von Betreuungseinrichtungen mit Gruppenbetreuung und wechselndem Betreuungspersonal gemeistert werden kann, immer wieder unterstrichen - sowohl positiv im Hinblick auf die Reifung der Persönlichkeit als auch negativ im Hinblick auf das Scheitern einer solchen Reifung als Folge frühkindlicher Betreuungs- und Bindungsmängel. Was die Verhaltensbiologie, die Psychologie und auch die Kinderheilkunde schon vor mehr als einer Generation wussten und auch verkündeten, 22 hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahren bestätigt: "Frühe emotionale Erfahrungen werden im Hirn verankert, sichere emotionale Bindungsbeziehungen sind die Voraussetzungen für eine optimale Hirnentwicklung. Störungen stellen für Kinder Belastungen dar, die sie umso weniger bewältigen können, je früher sie auftreten. Sie führen zu einer massiven und lang anhaltenden Aktivierung stressintensiver Regelkreise im kindlichen Gehirn" (Gerald Hüther). Und auch der Hirnforscher zieht daraus den Schluss, die elterliche Erziehungskompetenz zu stärken. 23 Wer diese Erkenntnisse nicht völlig ignoriert, kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass Kindertagesstätten allenfalls der Notaufnahme von Kindern in Not geratener Mütter, nicht aber der Zwischenlagerung von Störenfrieden berufstätiger Eltern dienen können. Wenn die Bedürfnisse des Kindes und seine Entfaltungsbedingungen nicht völlig verdrängt werden, dann darf Familienpolitik nicht zu einem Instrument der Arbeitsmarktpolitik verkümmern. Dies aber ist gegenwärtig der Fall - unter Ursula von derLeyen nicht weniger als unter Renate Schmidt.
Bürgerrecht für die Familie
Will die Familienpolitik in Deutschland den Bedürfnissen und Entfaltungsbedingungen des Kindes um des künftigen Humanvermögens willen gerecht werden, muss sie sowohl die einzelnen Familienmitglieder fördern als auch die Institution Familie schützen. Sie darf sich weder in einer Familienmitgliederpolitik noch in einer Institutionenschutzpolitik erschöpfen. 24Dazu drei Forderungen:
Erstens: Transferzahlungen sind unersetzbar. Sie sind Investitionen in das Humanvermögen der Gesellschaft, ohne die das Kapitalvermögen verfällt. Sie sind nicht soziale Stütze. Erziehungs- bzw. Elterngeld, Erziehungsurlaub und Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht sind deshalb notwendig. Sie werden erst dann der Erziehungsleistung gerecht, wenn sie nicht nur symbolisch sind, sondern in Richtung eines Erziehungsgehaltes weiterentwickelt werden und Erziehung auch in der Familie als Beruf anerkennen. 25 Erst dann lassen sie der Familie die Freiheit, zwischen einem Familienmanagement - in der Regel durch die Mutter in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes - und einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit zu wählen. Dringend notwendig ist eine Reform der Alterssicherung, welche die Kinder in den Generationenvertrag einbezieht und sie sowohl bei den Beiträgen als auch bei den Leistungsansprüchen berücksichtigt, um endlich der Transferausbeutung der Familien einEnde zu machen. 26 Kinderfreibeträge im Steuerrecht haben demgegenüber mit Familienpolitik nichts zu tun. Sie sind eine bloße Konsequenz des Gebotes der Steuergerechtigkeit, die gebietet, den Steuerpflichtigen nach dem Maße seiner Belastungsfähigkeit zu belasten und das steuerpflichtige Einkommen um den existenznotwendigen Bedarf zu vermindern. 27
Zweitens: Eine familienorientierte Familienpolitik muss den Müttern nach einer kinderbedingten Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit helfen, wieder in ihren früheren oder einen anderen Beruf einzusteigen. Sie sollte sich um der Kinder und der Mütter willen an einer sequenziellen statt an einer simultanen Vereinbarkeit von Familie und Beruf orientieren. 28 Das wird erleichtert durch eine straffe Ausbildung vor der Erziehungspause wie in Frankreich, wo der Eintritt ins Berufsleben im Alter von 23 oder 24, und nicht wie in Deutschland mit 27 oder 28 erfolgt. Es erfordert aber auch, der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft Anreize zu vermitteln, Mütter nach der Erziehungspause wieder ins Berufsleben zu integrieren. Der Katalog der Kriterien für familienfreundliche Betriebe ist lang, und viele Unternehmen scheinen die Erfüllung dieser Kriterien zunehmend nicht mehr nur als Kostenfaktor, sondern auch als Wettbewerbsvorteil zu verstehen: Teilzeitarbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten, familienfreundliche Urlaubszeiten, Freistellungsmöglichkeiten bei krankheits- oder pflegebedingten Notfällen und Serviceeinrichtungen für Familien gehören zum ABC eines familienfreundlichen Unternehmens. Auch die Kontaktpflege zu Mitarbeiterinnen während einer erziehungs- oder pflegebedingten Pause erleichtern die Inanspruchnahme einer Elternzeit und die Wiedereingliederung in einen Erwerbsberuf, mithin die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die in der Familienphase erworbenen überfachlichen Kompetenzen wie Organisationstalent, Belastbarkeit, Problemlösungs- und Konfliktfähigkeit sowie Verhandlungsgeschick qualifizieren die Mütter für Führungsaufgaben im Betrieb.
Drittens: Wer für die Familie das Bürgerrecht fordert, der muss sich der Frage des Familienwahlrechts stellen. Das Recht, in regelmäßigen Abständen die Regierenden bestimmen und dafür unter mehreren Kandidaten auswählen zu können, ist in der Demokratie das Privileg der Bürgerinnen und Bürger. Dieses Recht muss auch der Familie zuteil werden. 29 Welchem der verschiedenen Modelle eines Familienwahlrechts - Herabsetzung des Wahlalters, Mehrstimmenmodell oder Stellvertretermodell - der Vorzug gegeben wird, ist eine breite öffentliche Debatte wert. Nicht alle Modelle sind mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates vereinbar. Aber es gibt ein Modell, das mit diesen Grundsätzen kompatibel ist. Auch Kinder und Jugendliche sind Bürger. Bisher aber ist dieser Teil der Bürger vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Wahlrechtsmodell, mit dem sich die Exklusion vermeiden und auch eine Kollision mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz "one man-one vote" ausschließen lässt, ist ein Kinderwahlrecht, das die Eltern stellvertretend für die Kinder bis zum Erreichen des gesetzlichen Wahlalters wahrnehmen. Ein solches Familienwahlrecht würde der Verantwortung der Eltern für die Kinder entsprechen, den Status der Familie aufwerten und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft verbessern. Es würde den Bürgerrechtsstatus der Familie stärken.
1 Vgl. Johannes
Paul II., Laborem Exercens 9.
2 Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS),
Familienreport 2005, St. Augustin 2006, S. 36f.
3 Vgl. ebd., S. 35f.
4 Vgl. ebd., S. 42ff.
5 Vgl. Institut für Demoskopie,
Einflussfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer
Repräsentativbefragung der 18- bis 44-jährigen
Bevölkerung, Allensbach 2004, S. 24 (Tabelle 9) und 76.
6 Vgl. ebd., S. 79.
7 Vgl. Manfred Spieker, Kirche und
Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konflikts,
Paderborn 2000, S. 28ff.
8 Die Warnung vor den eigenen Zahlen
unterblieb von 2001 bis 2004, obwohl sich weder die
Rechtsgrundlagen der Abtreibungsstatistik noch die Meldeverfahren
geändert haben. Vermutlich war es der rot-grünen
Bundesregierung inopportun, den eigenen Zahlen mit derartigem
Misstrauen zu begegnen. Seit 2005 wird wieder vorsichtig gewarnt.
Fehler, "die durch eine falsche oder unvollständige
Erfassungsgrundlage bedingt sind", könnten "nicht völlig
ausgeschlossen werden".
9 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.),
verantwortlich: Werner Eichhorst/Eric Thode, Vereinbarkeit von
Beruf und Familie. Benchmarking Deutschland aktuell, Gütersloh
2002, S. 9; Beruf und Familie, IW-Dossier 25, Köln 2004, S.
9.
10 Joachim Lange, Sozial- und
Steuerpolitik: Hindernisse für die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie - Ansätze ihrer Überwindung, in: ders., (Hrsg.),
Kinder und Karriere. Sozial- und steuerpolitische Wege zur
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Rehburg-Loccum 2003, S. 9.
Vgl. auch Katharina Spieß, Vereinbarkeit von Familie und
Beruf - Fakten, Mängel und Reformen, in: Sozialer Fortschritt,
(2003) 1, S. 20.
11 Gerhard Engelbrech, Paradoxien der
Familienförderung, in: Joachim Lange (Hrsg.), Kinder und
Karriere, Rehburg-Loccum 2003, S. 112.
12 Vgl. ebd., S. 103.
13 Ursula Rust, Schutz oder Falle?
Elternzeit, Mutterschutz, Teilzeit, in: J. Lange (Hrsg.) (Anm. 11),
S. 185; Arij Lans Bovenberg, Die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie: Lösungen für die gesamte Lebenszeit, in:
ifo-Schnelldienst, 57 (2001) 21, S. 27.
14 G. Engelbrech (Anm. 11), S.
109.
15 Bertelsmann Stiftung (Anm. 9), S.
51.
16 Bertelsmann Stiftung (Anm. 9), S.
40. Vgl. auch das familienpolitische Papier der Bundestagsfraktion
der Bündnisgrünen "Kinder in den Mittelpunkt. Leben und
Arbeiten mit Kindern" vom 14.2. 2006, S. 3.
17 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Anm. 9),
S. 6f.; Franziska Vollmer, Familienbesteuerung und
Berufstätigkeit im Fokus: Steuerliche Belastung
berufstätiger Mütter, in: J. Lange (Hrsg.) (Anm. 11), S.
147ff.; U. Rust (Anm. 13), S. 171ff.
18 G. Engelbrech (Anm. 11), S. 105.
Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hat sich am 21.3. 2006
dieser Ansicht angeschlossen und eine öffentliche Debatte
ausgelöst mit der Bemerkung "Ich vermute mal, dass ich mit
einer Kürzung des Kindergeldes von 4 bis 6 Euro eine Menge
Geld zusammenkriegen könnte, um die Gebührenfreiheit von
Kindergärten ... zu organisieren." Nachdem sich auch in der
SPD Widerspruch regte, stellte Steinbrücks Pressesprecher die
Bemerkung als Beitrag zu einer "Wertedebatte" dar. Vgl. FAZ vom
23.3. 2006.
19 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Anm. 9),
S. 10.
20 G. Engelbrech (Anm. 11), S
107.
21 Ein weiteres, alle biologischen,
materiellen, anthropologischen und moralischen Leistungen der
Familie einschließendes Konzept von Humanvermögen
vertritt Eberhard Schockenhoff, Die Familie als Ort sozialen und
moralischen Lernens. Moraltheologische Überlegungen zu ihren
anthropologischen Grundlagen, in: Nils Goldschmidt u.a. (Hrsg.),
Die Zukunft der Familie und deren Gefährdungen. Festschrift
für Norbert Glatzel, Münster 2002, S. 27f.
22 Vgl. nur von den zahlreichen
Publikationen der Kinderpsychotherapeutin Christa Meves, Erziehen
lernen. Was Eltern und Erzieher wissen sollten, Gräfelfing
20002. Aus psychologischer Sicht auch Klaus A. Schneewind, Kleine
Kinder in Deutschland: Was sie und ihre Eltern brauchen, in: Arist
von Schlippe u.a. (Hrsg.), Frühkindliche Lebenswelten und
Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs, Münster 2001, S.
124ff. (insbesondere 131ff.), und Steve Biddulph, Wer erzieht Ihr
Kind? Kinderbetreuung - eine wichtige Entscheidung, München
2005, S. 117ff. Aus medizinischer Sicht Theodor Hellbrügge,
Das sollten Eltern heute wissen. Über den Umgang mit unseren
Kindern, München 1975.
23 Vgl. Gerald Hüther,
Hirnforschung: Zuwendung ist der wichtigste Erzieher, in: Christa
Meves, Verführt. Manipuliert. Pervertiert. Die Gesellschaft in
der Falle modischer Irrlehren, Gräfelfing 2003, S. 18. Vgl.
auch G. Hüther, Bedienungsanleitung für ein menschliches
Gehirn, Göttingen 2001, S. 69ff., und Christa Meves, Geheimnis
Gehirn. Warum Kollektiverziehung und andere Unnatürlichkeiten
für Kleinkinder schädlich sind, Gräfelfing
2005.
24 Vgl. Max Wingen, Familienpolitik,
in: Staatslexikon, Bd. 2 (19867), Sp. 534; vgl. auch Mary Ann
Glendon, Family Law and Family Policies in a time of turbulence,
Family Policies Congress des Social Trends Institute am 27.4. 2004
in Rom, Manuskriptband S. 29ff., und Manfred Spieker,
Bürgerrecht für die Familie. Voraussetzungen und
Leitlinien einer subsidiären Familienpolitik, in: ders., Der
verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in
Europa, Paderborn 2005, S. 129ff.
25 Vgl. auch das vom Päpstlichen
Rat Justitia et Pax herausgegebene Kompendium der Soziallehre der
Kirche, Freiburg 2006, Ziffer 251, und Janne Haaland Matlary,
Frauen zwischen Familie und außerhäuslicher
Erwerbsarbeit, in: Christian Leipert (Hrsg.), Familie als Beruf.
Arbeitsfeld der Zukunft, Opladen 2001, S. 53ff.
26 Vgl. Hans-Werner Sinn, Führt
die Kinderrente ein, in: FAZ vom 8.6. 2005; Jürgen Borchert,
Renten vor dem Absturz. Ist der Sozialstaat am Ende?, Frankfurt/M.
1993, S. 118ff.; Hermann von Laer, Ausgebeutet und ins Abseits
gedrängt: Zur ökonomischen Lage der Familie in
Deutschland, in: ders./Wilfried Kürschner (Hrsg.), Die
Wiederentdeckung der Familie, Münster 2004, S. 111ff.
27 Vgl. Paul Kirchhof, Ehe und Familie
als Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit
unserer Gesellschaft, Köln 2003, S. 17f.; Rainer Beckmann,
Kinder, Familie, Bevölkerung - rechtlich betrachtet, in:
Zeitschrift für Lebensrecht, 15 (2006) 1, S. 8.
28 Vgl. Heinz Lampert, Über die
Problematik und den Stellenwert der Familienpolitik in der
Bundesrepublik Deutschland, Eichstätter Universitätsreden
115, Wolnzach 2006, S. 13.
29 Vgl. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Das
Wahlrecht von Geburt an: Ein Plädoyer für den Erhalt
unserer Demokratie, und Winfried Steffani, Wahlrecht von Geburt an
als Demokratiegebot?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30
(1999), S. 556ff.; Konrad Löw, Haben wir schon ein allgemeines
Wahlrecht?, in: Allgemeines Wahlrecht e. V. (Hrsg.), Haben wir
schon ein allgemeines Wahlrecht? Ein aktuelles Petitum in der
Diskussion, Freising 2001, S. 51ff.; Ursula Nothelle-Wildfeuer, Das
Kind als Staatsbürger. Wahlrecht gegen die strukturelle
Benachteiligung von Familien?, in: Herder-Korrespondenz, 58 (2004),
S. 198ff.