Rekonstruktion
Der Wiederaufbau alter Bauten macht diese zu Schöpfungen unserer Zeit
Es ist einer der gängigsten, bequemsten und scheinbar unausrottbaren Vorbehalte gegen Rekonstruktionen im Städtebau: alles Imitation, Falsifikat, "Disneyland". Aber dabei fallen Gesichtspunkte unter den Tisch, die ernst zu nehmen sind.
Rekonstruiert, kopiert, nachgeahmt wird nicht erst heute, sondern seit den Anfängen der Baukunst. Wer die Rekonstruktion aus "moralischen" Gründen verdammt, der müsste die gesamte römische Kultur, die Renaissance, den Historismus des 19. Jahrhunderts in Bausch und Bogen ablehnen und für "unkünstlerisch" erklären.
Was uns vermutlich heute mehr irritiert als die Rekonstruktion als solche, das ist die dreiste Frische, in der uns das wiederauferstandene Alte gegenübertritt. Der Abstand der Zeit scheint ausgelöscht. Das Vergangene erscheint jünger als vieles wirklich Neue. Aber gerade darin liegt seine Legitimation. Es kleidet sich in die Mode der heutigen Zeit. Nichts anderes widerfährt den "echten" Altbauten. Auch sie präsentieren sich in einer Aufmachung, die sie - wie wir von alten Fotos wissen - historisch nie besessen haben.
Grellbunte Fassaden, blank gefegte Marktplätze, hellbunt gekleidete Touristen in blitzenden Stahlkarossen gruppieren sich zu Szenarien, die - wenn wir aktuelle Fotos mit historischen Abbildungen vergleichen -vielfach wie eine Karikatur des in Würde Gealterten erscheinen. Ein realistisches Bild der alten Zeit können diese Stadtbilder nach dem "Face lifting" nicht vermitteln.
Wenn wir hinter die Fassaden blicken, finden wir es bestätigt: Die engen Stiegen sind begradigt und aufgeweitet, die Wände wurden verschoben, so manches Wohnhaus, manche hochherrschaftliche Villa wandelte sich zum banalen Bürogebäude, dessen triste Neonleuchten bei einbrechender Dunkelheit nach draußen strahlen und jede Illusion eines in diesem Etablissement waltenden gehobenen Geschmacks aus kaiserlich-königlichen Zeiten zerstören. Was wir vor Augen haben, ist genau das, was Denkmalpfleger und Architekten immer fordern, wenn vom Wiederaufbau, von der Restaurierung alter Bauten gesprochen wird: Nicht das stehengebliebene Bild einer vergangenen Zeit, sondern das Bild des geschichtlichen Wandels, dem der zeitgenössische "Lifestyle" den letzten Stempel aufdrückt.
Es sind keine Fälschungen, sondern zurechtgemachte Gesichter, die uns in ihrer kessen Jugendlichkeit narren, und doch zugleich vom Adel einer hohen Gesinnung und nie wieder erreichter künstlerischer Vollkommenheit zeugen. Wenn in Frankfurt, in Nürnberg, in Wesel, in Potsdam oder Berlin historische Gebäude neu erstehen, so geschieht es nicht, um einer politischen Restauration oder einer dumpfen Mythenseligkeit den Weg zu bereiten. Trotz ihrer historischen Gestalt präsentieren sich diese Bauwerke als Schöpfungen unserer Zeit.
Da es sich nicht um Projekte des Denkmalschutzes handelt - denn was einmal verloren ist, kann nicht mehr geschützt werden -, kommt es auf die allerletzte Genauigkeit auch gar nicht mehr an. Es muss ein Schein von Authentizität gewahrt werden, "damit uns die große und riesenhafte Gesinnung unserer Vorfahren zur Anschauung gelange und wir uns einen Begriff machen können von dem, was sie wollen durften", wie Goethe einmal geschrieben hat, als es um die in Details durchaus ungewisse Vollendung des Kölner Doms ging. In übertragenem Sinne gilt dies im Grunde für jeden Versuch, ein untergegangenes Bauwerk in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Der Dresdner Kunsthistoriker Jürgen Paul spricht unter Hinweis auf die jüngsten Beispiele der aus dem Nichts wiederauferstandenen neuen Altstadtquartiere von Warschau, Danzig, Hildesheim, Frankfurt (Römerberg), Riga, Kiew und Wilna von einer "Parallelwelt, einer Alternativwelt, die gebraucht wird als Ergänzung, auch mitunter als Kompensation". Und er fügt hinzu: "Der Unterschied zu Disneyland ist, dass Disneyland eine ortlose, klischeehafte Erfindung ist, während hier versucht wird, einen authentischen his- torischen Ort als gebautes Bild zurückzugewinnen."
Paul geht auch den Gründen nach, die eine solche "Parallelwelt" für Menschen von heute "interessant" machen. Er nennt die Kleinformatigkeit, "die sie auf ihre eigene physische Größe beziehen können", die "erzählerischen Eigenschaften" der nicht zweckgebundenen Details, die Natürlichkeit der nichttechnischen Materialien, die Geborgenheit.
Der heimliche Bezugspunkt wäre aus dieser Perspektive immer die Moderne, die uns als voraussetzungslos "neu", gewissermaßen als Kons- trukt ohne Geschichtlichkeit, entgegentritt. Der Zeitgeist will sich mit diesem Bild als These nicht zufriedengeben. Er hat die Antithese nötig, um sich seiner Geschichtlichkeit und tieferen Bedeutung versichern zu können.
Darum wird er nicht ablassen, neben Bilder der Modernität solche der Vergangenheit zu stellen. Er wird sie jedoch mit allen Attributen der Neuheit zu versehen haben, die sie erst mit dem echt Avantgardistischen konkurrenzfähig machen. Denkmalpflege und Kunstwissenschaft mögen darüber die Stirn runzeln. Als Fachdisziplinen mit ganz anderen Zuständigkeiten haben sie sich hierbei herauszuhalten.
Der Autor ist Korrespondent für Städtebau und Architektur der Tageszeitung "Die Welt".