verlust
Die Gebäude der Nierentischzeit werden in Deutschland misstrauisch betrachtet. Das ist verheerend: Allmählich verschwindet die Architektur des Wiederaufbaus.
In Dresden protestierten unlängst tausende Bürger gegen den geplanten Bau einer Brücke. Sorge über die Verschandelung des Elbtales und den drohenden Verlust des Welterbestatus trieb sie an. In Berlin, das vor einigen Monaten beim Welterbekomitee den gleichen Titel für seine Großsiedlungen der Klassischen Moderne beantragte, ging niemand auf die Barrikaden, als bekannt wurde, dass eines der wertvollsten Gebäude der Berliner Wiederaufbaumoderne in Kürze abgerissen werden soll.
Es handelt sich um das sogenannte "Schimmelpfenghaus", das die Architekten Gustav Sobotka und Franz Heinrich Müller 1957 direkt gegenüber von Egon Eiermanns berühmter Gedächtniskirche errichtet haben. Der Großbau glänzt durch eine damals kühne Kombination aus Stahl, Beton und Werkstein; als Sensation und Anknüpfen an die expressiven Bauvisionen der 20er-Jahre galt, dass Sobotka und Müller mit der Architektur die enorm breite Kantstrasse überspannten.
Kurz nach dem "Schimmelpfenghaus" entstanden wenige Schritte weiter das Berliner Zoopalast-Kino, fast so kühn geschwungen wie die legendäre Kongresshalle, und das "Bikinihaus" am Bahnhof Zoo, eine maßvolle und deshalb ansehnliche, ja elegante Paraphrase auf Le Corbusiers giganteske, "Unité d?habitation" genannte Mega-Blocks.
So erhielt Berlin eines der spektakulärsten Ensembles der Wiederaufbau-Moderne. Doch zum Wahrzeichen schaffte es nur Eiermanns Zweiergruppe aus dem Betonwaben-Raster des Neubaus und dem ausgeglühten Turmstumpf der wilhelminischen Gedächtnis-Kirche. Die übrigen Bauwerke jedoch, wie die derzeitige allgemeine Lethargie angesichts des beschlossenen Abrisses des Schimmelpfenghauses und dem drohenden des Zoopalastes zeigen, werden als entbehrliche Bestandteile einer konturlosen Stadtlandschaft wahrgenommen. So werden sie denn zum Freiwild, zur Verfügungsmasse einer Stadtplanung, die bedenkenlos Abrissen im Namen einer mutmaßlichen Aufwertung durch spektakuläre Neubauten zustimmt.
Dieses Los teilen die Berliner Bauten der Nachkriegsmoderne mit denen fast aller deutschen Großstädte: In Frankfurt am Main fiel im Laufe der vergangenen fünf Jahre mehr als ein Dutzend markanter Großbauten dieser Ära der Abrissbirne zum Opfer, darunter Spitzenwerke wie das denkmalgeschützte "Zürich-Hochhaus" an der Alten Oper, das 1962 als Novität aktuellen amerikanischen Hochhausbaus gefeiert worden und den Frankfurtern dank seiner silbrig-blauen Gestalt ans Herz gewachsen war. Wie in diesem Fall so wurden auch Frankfurts zentraler "Fernmeldeturm" von 1954, beste Chicago-Schule und fester Bestandteil der vitalen Szenerie rund um die Hauptwache, niedergelegt, ebenso der so genannte AEG-Turm, der 1947 - Frankfurt galt als designierte Bundeshauptstadt - als künftiges Arbeitsministerium in sonderbaren markanten Mischformen aus Moderne und NS-Klassizismus am Mainufer errichtet worden war. Köln plant den Abriss seines berühmten Opernhauses von 1964, Leipzig den des 1968 als ehrgeiziges Musterbeispiel sozialistischer Moderne errichteten Campus am Augustusplatz, Jena verschandelte seinen bekannten Rundturm von Hermann Henselmann, Bremen hat durch einen entstellenden Umbau eine der kühnsten Messehallen der Nachkriegszeit verloren - die Reihe der Verluste ließe sich seitenlang fortsetzen.
Wie die genannten Beispiele bezeugen, helfen zur Zeit weder herausragende Ästhetik noch geschichtliche Bedeutung, wenn es darum geht, ein Denkmal der Moderne zu beseitigen. Die Zeiten, da Kölns damalige Denkmalpflegerin Hiltrud Kier Anfang der 80er-Jahre reihenweise Bauten der Innenstadt unter Schutz stellte und damit die Tatsache honorierte, dass Kölns Zentrum eine architektonische Mustersammlung der Nierentisch-Ära darstellt, sind lange vorbei. In die Enge getrieben von leeren Stadtkassen, in Panik versetzt angesichts des internationalen gnadenlosen Wettbewerbs der Dienstleistungsstandorte, liefern Kommunen sich und ihre Bauwelt bedenkenlos jedem Inves-tor und Projektentwickler aus, der neue, wettbewerbsfähige und attraktivitätssteigernde Neubauten verspricht.
Doch daraus allein lässt sich das Stillschweigen nicht erklären, mit dem die Bürger diesen Massenverlust an Denkmälern der die Republik prägenden zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinnehmen. Was wir erleben, sind die Spätfolgen jener Ignoranz seitens der deutschen Architektenschaft und der städtischen Bauämter, die nach 1945 im Namen der Moderne das Werk der Bomben des Zweiten Weltkriegs vollendeten: Kaum eine deutsche Stadt, in der nicht neben Kriegstrümmern auch zahlreiche erhaltene Altbauten beseitigt und durch angeblich bessere, lichtere, leichtere und menschenwürdigere Architekturen ersetzt wurden. Der Stil war zweifellos modern, doch er trug allzu oft die Zeichen der materiellen Not und der Eile auf der Stirn, mit der man für Hunderttausende Wohn- und Arbeitsraum, öffentliche Bauten, Straßen und Plätze schuf.
Zwar ragten bemerkenswerte Einzelleistungen und Ensembles aus der Flut des Mittelmäßigen. Trotzdem und zu Recht wuchs das schleichende Unbehagen angesichts einer sich mehr und mehr nivellierenden Bauwelt, bis es sich in Margarete und Alexander Mitscherlichs vehementer Anklage der "Unwirtlichkeit unserer Städte" erstmals Bahn brach. Als beide ihre "Anstiftung zum Unfrieden" publizierten, war der so genannte Betonwirtschaftsfunktionalismus auf seinem Höhepunkt; Kolosse aus Waschbeton und Betonfertigteilen ragten allerorten als Trabantenstädte und Verwaltungsbauten auf. Bis heute schaudert es einen bei den Stichworten "Märkisches Viertel" oder "Frankfurt-Nordweststadt".
Der blanke, die Bewohner dieser Monstrositäten verhöhnende Pragmatismus solchen Bauens ebnete den Weg für die bildverliebte rückwärtsgewandte Postmoderne. Ihr allgemein begrüßtes Schwelgen in historischen Zitaten, in Säulen und Pfeilern, Erkern, Werkstein und Pseudohistorie begleitete ein wahrer Kreuzzug gegen die Architekturen der Moderne.
Plötzlich war alles, vom Bauhaus bis zum Baumarkt, das verdammenswerte Ergebnis einer Verirrung in die nackte architektonische Funktionalität; selbst Genies wie Mies van der Rohe, Walter Gropius oder Le Corbusier galten zeitweise als Architekten, die über der Losung vom "Ornament als Verbrechen" selbst zu Verbrechern an der Baukunst geworden seien.
Diese Verteufelung wirkt bis heute nach. Sie bewirkt, dass auch hervorragende Bauwerke der Nachkriegsmoderne durch eine Brille des Misstrauens und Vorurteils betrachtet und als bedeutungslose Machwerke verkannt werden. Ebenso oft wie nichtssagende Betonkisten der 70er-Jahre, wenn nicht öfter, fallen deshalb hierzulande kostbare außergewöhnliche Großbauten der Nachkriegszeit der derzeitigen wachsenden Abrisswut zum Opfer.
Hinzu kommt, dass durch unsere bildersüchtige Eventkultur die Fähigkeit zu geduldigem Schauen und konzentriertem Erleben verloren gegangen ist: Gute Bauwerke der Nachkriegszeit wirken durch angemessene Proportionen, durch Details wie kühn geschrägte Stützen, Baldachin- und Flugdächer und durch Licht- und Schattenspiele, die erst auf den zweiten oder dritten Blick als Zauber einer vordergründig monotonen Ordnung und Rhythmisierung von Fassaden zu erkennen sind. Wie soll eine Gesellschaft, die auf das rasche Erfassen und Vergessen von Bilderfluten, Grobreizen und Schaueffekten trainiert ist, diese gleichsam stille Schönheit wahrnehmen und würdigen? Es wäre Sache der Denkmalpfleger, aber auch der Baubehörden oder der neuen deutschen "Stiftung Baukultur", dieses bauliche Erbe treuhänderisch zu verwalten und durch öffentliche Anerkennung für die Allgemeinheit zu erschließen. Andernfalls droht Deutschland ein wesentlicher Bestandteil seiner in Architektur manifestierten Geschichte und Identität verlorenzugehen.
Der Autor ist Architekturkritiker
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"