Imitation
Allerorten werden zerstörte historische Gebäude wieder aufgebaut. Erinnert man sich dabei wirklich an die Geschichte - oder ist die Restauration der verlorenen Bilder letztlich doch nur Lug und Trug?
Amerikaner, das ist bekannt, verlassen ihr eigenes Land ungern. Schließlich können sie alle Art von Reisewünschen innerhalb der Landesgrenzen befriedigen. Und wenn es sie nach Gizeh, Venedig oder Paris gelüstet, reisen sie nach Las Vegas, wo sie die fremden Welten als perfekte Surrogate, aseptisch und mit dem gewohnten Komfort konsumierbar vorfinden.
Japan und neuerdings China holen sich die Touristenattraktionen aus fernen Gegenden ebenfalls ins Land. Die Kulinaria der Welt sind ohnehin in jeder Metropole gleichermaßen zu haben - müssen wir in Zukunft nicht mehr verreisen, um Exotisches 1:1 zu erleben?
Was allerdings die Besucher des Heideparks in Soltau davon haben sollen, wenn sie sich in einer künstlichen Altstadt heimischer Ausprägung bewegen können, ist dann doch einigermaßen rätselhaft angesichts der Tatsache, dass kaum eine halbe Stunde entfernt Verden, Lüneburg oder Celle authentische Erfahrungen zu bieten haben. Weckt das Imitat tatsächlich romantische Gefühle, oder bewundert man nur dessen Perfektion wie man auch Freude an der Miniaturwelt einer Modelleisenbahn hat?
Das Goethehaus in Frankfurt am Main ist nach dem Krieg neu erbaut worden. Es gibt jedoch vor, das Original zu sein. Fühlen wir uns wohl, wenn dort die Besucherin aus Japan vor Rührung in Tränen ausbricht angesichts des Geburtszimmers ihres Idols? Die Architektur erinnert hier nicht an sich selbst, wohl aber an die Geschichte und die Bedeutung des Ortes. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob diese Aufgabe auch durch eine andere, heutigere Architektur hätte gelöst werden können, der nicht der Ruch von Lug und Trug anhaftete.
Längst ist das Gefühl für die historische, gesellschaftliche und soziale Bedingtheit von architektonischen Aussagen und Bautypen verloren gegangen. Wenn nach dem Krieg das Stuttgarter Schloss mit einer der Vorkriegssituation entsprechenden Innenraumstruktur aus Ruinen wieder aufgebaut wurde, werden nur denkmaltheoretisch der reinen Lehre verpflichtete Fachleute die Stirn in Falten legen. Als Ministerium und repräsentativer Veranstaltungsort erlebt es jedenfalls eine plausible Nutzungskontinuität, die auch vergleichbare unzerstörte Schlösser erfuhren.
Wenn wie jetzt in Braunschweig eine Schlossfassade aus dem Nichts wieder aufersteht, nur die Schaufassade, mit einer Schicht "historischer" Räume dahinter, und lediglich als Entree für ein unförmiges, sich in einer Stadtbrache breit machendes Einkaufszentrum dient, geht es nur noch um ein schönes Bild. Weder die Sinngebung des historischen Bauwerks, noch seine Entstehungszusammenhänge und Bedeutung, ja nicht einmal seine ursprüngliche Dimension und städtebauliche Wirkung lassen sich nachvollziehen. Die klassizistische Schlossfassade wird als attraktiver Blickfang missbraucht und dem banalen Konsumcontainer als Brosche angehängt.
Auch beim Berliner Schloss geht es den Protagonisten nur um die Wiedergewinnung eines verlorenen Bildes, und zwar fast ausschließlich um die Westansicht. Alle anderen Aspekte scheinen den Schlossbefürwortern disponibel: welche Nutzungen wie und wo hineinkommen sollen, ob mit der historisch abweisenden Fassade oder mit eingebrochenen (Laden-)Arkaden, ob, wenn leichter finanzierbar, ohne die Kuppel des 19. Jahrhunderts. Und wie die ehemals aus Renaissancezeiten stammende und wegen ihrer bauhistorischen Komplexität als nicht rekonstruierbar geltende Ostseite aussehen soll, ist ihnen ebenfalls gleichgültig. Das Ergebnis ist absehbar: Man wird einen Zwitter bauen, mit einem Innenleben, das mit der an drei Seiten vorgehängten historischen Fassade nichts zu tun haben wird, nicht architektonisch-strukturell und nicht inhaltlich. Aber das Panorama am Ende der Linden wird wieder zu erleben sein, in welcher Perfektion ist noch offen. Über den Blick vom Alexanderplatz her wird allerdings geschwiegen.
Die Gefahr ist offensichtlich. All die Imitationen und Rekonstruktionen vermitteln dem Zeitgenossen das Gefühl, historische Architektur sei beliebig manipulierbar. Ist ein altes Gebäude neuen Ideen im Weg, wird es abgeräumt, ist es hübsch genug, kann man ja seine Fassade dem Neubau vorkleben. Ist der herbei geredete Phantomschmerz über einen Kriegsverlust stark genug, stellt man flugs eine Kulisse auf.
Man kann alte Häuser sammeln und zu neuen Arrangements zusammenstellen wie am Braunschweiger Burgplatz nach dem Krieg geschehen , man kann verlorene Häuser neu aufbauen und dabei nach Gutdünken und neuen Erfordernissen "verbessern", wie beim Hotel Adlon in Berlin, man kann aus Gründen vorgeblicher städtebaulicher Denkmalpflege ganze Quartiere rekonstruieren, wie rings um die Frauenkirche in Dresden.
Nur: Mit Denkmalpflege hat dies alles nichts zu tun, im Gegenteil. Die Rekons- truktion ist der Todfeind der Denkmalpflege. Sie entwertet das authentische Denkmal, die bauhistorische Urkunde, die, weniger perfekt, weniger bunt, weniger anschaulich, es schwer hat, sich Geltung zu verschaffen. Berlin hat eine große Zahl vor sich hinbröckelnder Denkmäler, die dringend der Zuwendung bedürfen, doch man diskutiert über den teuren Neubau eines Schlosses und der Schinkelschen Bauakademie.
Wenn Denkmäler beliebig reproduzierbar scheinen, liegt es nahe, die lästigen Originale abzuräumen und durch bessere, schönere, funktionalere "Denkmäler" zu ersetzen. Doch mit ihnen verschwinden historische Urkunden, Aussagen über Lebensverhältnisse, historische Materialien, Bearbeitungs- und Fügetechniken unwiederbringlich. Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Vielzahl von Techniken der wissenschaftlichen Untersuchung historischer Bauten entwickelt, von denen das historienselige späte neunzehnte Jahrhundert nicht zu träumen wagte.
Logischerweise wird die Wissenschaft auch in Zukunft Methoden zur Verfügung stellen die heute noch unbekannt sind. Wir jedoch berauben künftige Generationen leichtfertig um tagespolitischer, kurzfristig finanzieller Vorteile Willen des unwiederbringlichen historischen Erbes und dieser Erkenntnisfelder. Wer will das verantworten?
Gerade das Dresdner Beispiel führt die Defizite vor Augen. Man baut den Neumarkt um die Frauenkirche wieder auf, doch man kann es sich nicht leisten, dies konsequent zu tun. Nicht einmal die vorgeblich korrekt rekonstruierten "Leitbauten" sind gemäß dem Stand vor der Kriegszerstörung repliziert worden. Die neuen "Altbauten" wirken wie Kulissen. Die Dachlandschaft von perfekter Akkuratesse etwa vermag weder die objektive Gestalt des historischen Ensembles noch das emotional bewegende Bild zurückzugewinnen, das die unregelmäßigen, von Wind und Wetter gezeichneten Dächer in uns hervorriefen. Und auf entsprechende Veränderungen und Patina späterer Jahrzehnte zu warten, ist angesichts der verwendeten modernen Baumaterialien hoffnungslos.
Wir wissen nicht, wie künftige Generationen über unsere und vergangene Epochen denken werden. Ob sie auch dem Potsdamer Schloss nachtrauern oder ob sie den Palast der Republik wieder aufbauen werden. Wir haben die Aufgabe, ihnen das auf uns gekommene Erbe weiterzugeben - nicht mehr oder weniger gelungene Fälschungen.
Der Autor ist Architekturkritiker in Berlin.