MASSREGELVOLLZUG
Bei erfolgloser Therapie kann das Gericht jetzt Gefängnis anordnen
Als "echte Wachstumsbranche" bezeichnete vor einiger Zeit ein Göttinger Psychiater die Situation in den psychiatrischen Krankenhäusern und den Entziehungsanstalten. Der Experte sagte der Online-Ausgabe der Ärzte-Zeitung, die Zahl der Patienten im so genannten Maßregelvollzug sei in den letzten zehn Jahren sprunghaft angestiegen. Zugleich gingen die entsprechenden Delikte seit Jahrzehnten zurück. Die Zahl der Sexualmorde in Deutschland sei um etwa 31 Prozent gesunken. Gleichzeitig würden aber immer weniger Patienten aus dem Maßregelvollzug entlassen. Als einen Grund nannte der Psychiater, der sich in einer Studie mit dem Problem steigender Patientenzahlen im Maßregelvollzug beschäftigt hatte, nicht zuletzt die Medien, die den öffentlichen Druck auf die Gutachter und die Gerichte erhöhten. Entsprechend zögerlich würden Patienten in die Freiheit entlassen.
Die Bundesregierung ist anderer Meinung. Sie sieht zwar auch die immer weiter wachsende Zahl an psychisch kranken und von Drogen oder Alkohol abhängigen Straftäter. Deswegen hätten neue Anstalten gebaut oder bestehende modernisiert werden müssen (siehe Stichwort). Aber die Regierung ist der Ansicht, dass die Bevölkerung besser vor gefährlichen Straftätern geschützt werden muss. Deshalb beschloss der Bundestag am 27. April mit überwältigender Mehrheit eine Reform des Maßregelvollzugs. Nur die Linksfraktion stimmte dagegen. Die Bundesregierung hatte dazu einen Gesetzentwurf ( 16/1110 , Beschlussempfehlung Rechtsausschuss 16/5137 ) vorgelegt. Als wesentliches Element ist vorgesehen, bei Tätern, die ohne Erfolg im Maßregelvollzug behandelt worden sind, die Freiheitsstrafe ganz oder teilweise vorgezogen werden kann. Zurzeit ist die Maßregel grundsätztlich vor einer eventuell parallel verhängten Strafe zu vollziehen. Mit Vorziehen der Freiheitsstrafe kann es nach Auffassung des Parlaments vermieden werden, dass kostenintensive Therapie blockiert werden. Wenn es sich bei der untergebrachten Person um einen Ausländer handelt, der in naher Zukunft ausgewiesen werden soll, solle ebenfalls die Verbüßung der Freiheitsstrafe vorgezogen werden. Geplant ist des Weiteren, regelmäßig externe Gutachter bei der Überprüfung, wie lange ein Straftäter noch in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden muss, hinzuzuziehen. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) sagte, das Parlament verbessere nach vielen Jahren der Diskussion die fachgerecht Behandlung psychisch kranker oder suchtkranker Straftäter. Man wolle es so den Ländern ermöglichen, die Kapazitäten "effizienter zu nutzen", um die "hohe Qualität" weiter sicherzustellen. Von der "starren Reihenfolge" - erst Behandlung, dann der Strafvollzug - wolle man "in Einzelfällen" abweichen. Im Vordergrund solle stehen, wie krank jemand sei, und nicht, wieviel Freiheitsstrafe er bekommen hat. Für ausreisepflichtige Ausländer gelte in Zukunft: Es mache keinen Sinn, eine Therapie zu beginnen, wenn man sie nicht abschließen könne. Das sei "vergeudetes Geld".
Zwischen 1996 und vergangenem Jahr habe sich die Zahl der Patienten in psychischen Krankenhäuser und Entziehungsanstalten verdoppelt, so ebenfalls der CDU-Abgeordnete Siegfried Kauder. "Da müssen wir endlich eingreifen." Auch der neue Grundsatz, dass die Strafe vor der psychischen Behandlung abgesessen werden muss, sei zu begrüßen. Auch verdiene es Unterstützung, dass das Gericht jetzt jederzeit anordnen dürfe, dass die Therapie abzubrechen sei und der Straftäter in Haft genommen werden müsse. Für die Liberalen meinte deren Parlamentarischer Geschäftsführer Jörg van Essen, die Entscheidungen, die der Bundestag nunmehr treffe, hätten schon früher geschehen müssen. Die entscheidenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts stammten aus den Jahren 1985 und 1994. Viel Zeit sei ins Land gegangen, die eigentlich besser hätte genutzt werden können. Er halte es aber beispielsweise für einen Fortschritt, dass in Zukunft die Erfolgsaussicht des Maßregelvollzug strenger geprüft werde. Der Bundestag legte fest, dass jemand, der zu drei Jahren Haft oder mehr verurteilt wurde, unter Umständen erst mit der Haft und dann mit der Therapie beginnen muss. Wie auch die Grünen wies van Essen aber darauf hin, es dürfe nicht der Fall eintreten, dass jemand länger seine Freiheitsstrafe absitzen müsse, als das Urteil lautete. Für die Linksfraktion stellte Ulla Jelpke fest: "Gefängnisse machen kank." Die Konsequenz müsse demzufolge lauten: Psychisch kranke Straftäter therapieren und nicht bloß einsperren. Es liege auch im Interesse der Öffentlichkeit, dass kranke Strafttäter "im Knast" nicht noch kränker würden und nach der Entlassung weitere Straftaten begehen könnten.
Die Grünen hatten erfolglos beantragt, dass ein Gericht, das über eine Revision eines Falles zu entscheiden hat, den Angeklagten zur Haft verurteilen kann, der vorher in der Psychiatrie untergebracht werden sollte. Eine Vorschrift in der Strafprozessordnung sei zu streichen. Die "klare Verschlechterung zulasten des Angeklagten" dürfe nicht hingenommen werden, so die Grünen. Ihr Änderungsantrag war bereits im Ausschuss gescheitert.
Zypries erklärte dazu im Bundestag, wenn das höhere Gericht einen Angeklagten für schuldfähig erklärte, dann würde die "groteske Situation" entstehen, dass der Straftäter aus der Unterbringung entlassen werden müsse, aber auch nicht mehr bestraft könne, weil er nicht schlechter gestellt werden dürfe. Dies könne niemand wollen, so die Justizministerin.