ENTWICKLUNG
Viele Probleme haben sich mit der Unabhängigkeit verschärft. Eine Analyse.
In den zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan gibt es seit der Unabhängigkeit eine jeweils eigenständige Entwicklung, die das oftmals zitierte Bild des "einen" Zentralasiens in Frage stellt. Es gibt nicht die eine politische, wirtschaftliche oder soziale Entwicklung in Zentralasien. Es gibt vielmehr eine Vielzahl von "Entwicklungswelten". Verschiedene politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Ausgangsbedingungen sowie die Entscheidungen der jeweiligen Regierungen selbst ließen die Unterschiede wachsen. In allen Staaten gibt es jedoch das Phänomen der "neuen Armut", das nur bedingt in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit beachtet wird.
Zentralasien gehört zu einem Trockengürtel, der sich von Marokko bis nach Afghanistan erstreckt. Daher siedeln die Menschen meist an Flüssen, in Gebirgen oder Gebirgsnähe. Wasser und Land sind äußerst knappe Ressourcen, um die schon jetzt - angesichts des Bevölkerungswachstums - ein heftiger Kampf auf lokaler und regionaler Ebene ausgetragen wird. Alle Staaten sind Binnenländer. Usbekistan ist sogar ein doppeltes Binnenland, es hat weder einen direkten noch einen indirekten (über Nachbarstaaten) Zugang zu den Weltmeeren. Damit ist Zentralasien von dem wichtigen Warentransportweg, dem Meer, abgeschnitten.
Zu Sowjetzeiten wurde Zentralasien nachhaltig durch ABC-Waffen-Versuche, Raubbau an Bodenschätzen, Überdüngung der Felder verseucht. Die gesundheitlichen Folgen sind noch nicht vollständig erfasst.
Regional lässt sich jedoch eine erhöhte Zahl von Miss- und Totgeburten, von Krebsfällen sowie von früher Sterblichkeit nachweisen.
Zentralasien ist ethnisch und religiös enorm reich. Hier leben als Ergebnis vorsowjetischer Wanderungsbewegungen und sowjetischer Umsiedlungen rund 130 verschiedenen Ethnien und religiöse Gruppen, die oft über die Grenzen hinweg siedeln. Bis heute haben sich Reste von Animismus und Schamanismus erhalten. Islam und christliche Religionen überlagern sich. Die Länder sind von mobiler und sesshafter Kultur geprägt. Zwar siedelten die Sowjets seit Ende der 20er-Jahre die Nomaden zwangsweise an. Jedoch konnten sie ihre Traditionen nicht gänzlich aus dem Alltagsleben verbannen (Ahnenverehrung, Zugehörigkeit zur Familie, zum Klan und zur Horde). Ebenso bestehen Traditionen der sesshaften Oasen-Kulturen fort (Zugehörigkeit zur Stadt, zum Stadtteil und zur Mahalla) und islamische Lebenszyklusfeiern (Beschneidung, Beshik Toy, Heirat, Begräbnis).
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts fand in Zentralasien ein reger Kulturaustausch mit allen umliegenden Ländern statt. Er wurde von den Sowjets unterbunden, indem sie den Zugang zu den südlichen und östlichen Nachbarn (Iran, Afghanistan, China) einschränkten. Mit dem Ende der Sowjetunion begann sich Zentralasien langsam zu öffnen. Gleichzeitig jedoch verschärften die zentralasiatischen Staaten - erstmalig in ihrer Geschichte - untereinander die Grenzkontrollen. Der Austausch wird dadurch sehr erschwert.
Zentralasien ist reich an natürlichen Ressourcen. Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan haben bedeutende Erdöl- und Erdgasvorkommen, die nur teilweise erschlossen sind. Kirgisistan und Tadschikistan hingegen haben reichliche Wasserressourcen, die von den Wüsten- und Steppenstaaten Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan zu einem Großteil absorbiert werden. Seit Jahren wird um das vorhandene Wasser zwischen den Staaten gestritten. Bis in die 30er-Jahre hinein galt Zentralasien als eine agrarisch und handwerklich geprägte Region. Erst mit der Evakuierung zahlreicher Großbetriebe während des Zweiten Weltkrieges und der forcierten Neulanderschließung nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung ein. Der Schwerpunkt lag auf dem Abbau von Rohstoffen wie Kohle, Eisen, Erdöl und Erdgas, was auch heute noch so ist. Die Gewinne daraus kommen aber nicht der breiten Bevölkerung zugute.
Die Sowjets etablierten reale Austauschverhältnisse, die die Abhängigkeit der zentralasiatischen Regierungen vom Zentrum in Moskau stärkten. So wurden zentralasiatische Rohstoffe innerhalb der Sowjetunion unterhalb des Weltmarktniveaus gehandelt, während Preise für landwirtschaftliche Produkte wie Baumwolle und Weizen über dem Weltmarktniveau lagen. Gleichzeitig subventionierte Moskau die zentralasiatischen Republiken durch milliardenschwere Transferzahlungen. Nach dem Ende der Sowjetunion stellte das Ausbleiben der Subventionen gerade ärmere Republiken wie Kirgisistan und Tadschikistan vor gewaltige Probleme.
In den 70er-Jahren erzielten die Sowjets beachtliche Erfolge beim Aufbau der sozialen Infrastruktur. Flächendeckende medizinische Versorgung und garantierte soziale Absicherung haben den Gesundheits- und Lebensstandard der Zentralasiaten deutlich erhöht. Bis 1989 wurde der Anteil der Analphabeten an der erwachsenen Bevölkerung auf weniger als drei Prozent gesenkt. Viele dieser "sowjetischen Errungenschaften" wurden ab 1991 abgebaut.
Die zentralasiatischen Regierungen nahmen drastische Kürzungen im staatlichen Budget vor - mit grundlegenden Auswirkungen auf das Gesundheits- und Bildungswesen. Leis-tungen und Vorsorgeansprüche wurden entzogen und Gebühren für den sozialen Dienstleistungssektor erhoben. Medizinische Versorgung wurde kostenpflichtig. Bildung entwickelte sich zu einer "Luxusware". Die Zahl der Analphabeten stieg an, und liegt heute bei bis zu 20 Prozent.
Der Staat zog sich aus dem Arbeitsmarkt zurück. Staatsbetriebe wurden geschlossen oder privatisiert - mit nachhaltigen Folgen gerade für die Bevölkerung in den "company towns", also Städten, deren Funktionsfähigkeit vom Bestehen eines einzigen Großbetriebes abhängig war. Gleichzeitig baute der Staat innerhalb des Verwaltungs- und Regierungsapparates Stellen ab. Die freigesetzten Arbeitskräfte fanden keine Beschäftigungsalternativen. Viele wanderten ab oder suchten Beschäftigung im Billiglohnbereich. Die Arbeitslosenrate stieg an (offiziell bis zu zehn Prozent). Experten gehen in manchen Staaten jedoch von einer verdeckten Arbeitslosigkeit - inklusive Unterbeschäftigung - von 30 Prozent und mehr aus. Viele Arbeitslose suchten in den kommenden Jahren Jobs in Russland.
Mit dem Ende der Sowjetunion erfolgte die Öffnung der Staaten für den Weltmarkt. Die terms of trade veränderten sich grundlegend. Die Preise für Rohstoffe wurden auf Weltmarktniveau angehoben, die Preise für landwirtschaftliche Produkte wie Baumwolle auf Weltmarktniveau gesenkt. Um der drohenden Abhängigkeit von Rohstoffexporten und Industriegüterimporten entgegenzusteuern, entwickelten die zentralasiatischen Regierungen unterschiedliche Formen der Binnenmarkt- und Weltmarktintegration. Während Kasachstan konsequent die Integration in den Weltmarkt betrieb (möglicher WTO-Beitritt 2007), verfolgte Usbekistan im Rahmen einer importsubstituierenden Wirtschaftspolitik eine autozentrierte Entwicklung. Infolgedessen hat sich in Kasachstan die Wirtschaft dynamisch entwickelt. Neben der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen haben Maschinenbau und Dienstleistungen an Bedeutung gewonnen. Private Investitionen und private Nachfrage haben sich ausgeweitet. Usbekistan aber hat deutlich an Wirtschaftsdynamik verloren. Das Land ist weiterhin von Importen von Konsumgütern abhängig.
Eine umfassende Privatisierung hat bisher nicht stattgefunden. Vorherrschend ist nach wie vor ein weitgehend staatswirtschaftliches und unproduktives Wirtschaftssystem.
Im Vergleich zu 1989 haben sich die sozialen Unterschiede in Zentralasien vertieft.
Heute steht eine verarmte Bevölkerungsmehrheit einer schmalen Mittel- und einer noch schmaleren Oberschicht gegenüber. Besonders arm sind die "budzhetniki", also Staatsangestellte wie Lehrer oder Ärzte sowie Pensionäre und sozial Bedürftige, die kaum staatliche Unterstützung erhalten. Noch schlechter geht es teilweise der Landbevölkerung, sie hält sich nur durch die Selbstversorgung über Wasser. Aber auch Städter sind gezwungen, ihre Versorgung durch den Anbau von Gemüse und das Halten von Vieh sicherzustellen.
Die angespannte soziale Lage wird durch die verbreitete Korruption, die insbesondere in den Staatsorganen herrscht, verschlimmert. Ob zur Änderung gesetzlicher Direktiven, bei der Ämtervergabe, bei der Umsetzung von staatlichen Leistungen - überall werden derzeit in Zentralasien "Sonderabgaben" erwartet. Profiteure sind nicht nur Vertreter staatlicher Institutionen, sondern auch Geschäftsleute, die aus den korrupten Systemen Nutzen ziehen. Wer diese "Abgaben" nicht erbringen kann, gehört zu den Verlierern der Gesellschaft.
Zentralasien ist eine Herausforderung für die Entwicklungspolitik. Die zentralasiatischen Staaten kämpfen mit naturräumlichen, demografischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen. Es bedarf einer Vielzahl von Lösungsansätzen, die sich sowohl den hausgemachten Ursachen wie der Mangel an Good Governance oder die Korruption als auch der fehlenden Einbindung der Staaten in die globale Politik und die Weltwirtschaft stellen.
Die neue Armut bereitet Sorgen. In Europa wird Zentralasien als eine instabile Region wahrgenommen, geplagt von Drogenhandel und organisiertem Verbrechen. Europäische Antworten auf die wachsenden Probleme konzentrieren sich auf eine intensive sicherheitspolitische und wirtschaftliche Kooperation. Entwicklungszusammenarbeit, wenn überhaupt gewünscht und möglich, kann nur darin bestehen, sozial abgehängte Menschen in die Lage zu versetzen, aus der Armut Schritt für Schritt selbst herauszufinden.
Marie-Carin von Gumppenberg ist Leiterin der Policy Studies Central Asia in München und Mitarbeiterin der OSCE in Taschkent.