Islam
Die Mehrheit der Menschen will keinen Religionsstaat. Welche Gefahr geht dann von Islamisten aus? Eine Analyse.
Es gibt zahlreiche Gründe für die geopolitische Neuentde-ckung Zentralasiens nach dem Ende der Sowjetunion: Die geografische Lage der Region, die Nachbarschaft zum Konfliktherd Afghanistan, das Spiel alter und neuer Mächte im einstigen kolonialen Hinterhof Russlands, der Rohstoffreichtum und die Auseinandersetzungen um neue Exportwege für Öl und Gas. Außerdem ist Zentralasien die größte vom Islam geprägte Region der ehemaligen Sowjetunion. Würde es eine religiöse "Wiedergeburt" nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft geben?
Die vergessenen Muslime, wie Alexandre Bennigsen und Chantal Lemercier-Quelquejay die Sowjetbürger mit islamischem Kulturhintergrund einst nannten, betraten ihre staatliche Unabhängigkeit zu einem Zeitpunkt, als auch im Westen von der Rückkehr der Religionen die Rede war, Huntingtons "Zusammenstoß der Kulturen" diskutiert wurde und sich Islamismus als politisch-ideologischer Terminus etablierte. Im tadschikischen Bürgerkrieg 1992 bis 1996 trat politischer Islam in Gestalt einer Islamischen Partei der Wiedergeburt in Erscheinung, auch wenn sich dieser Krieg nicht auf eine ideologische Auseinandersetzung zwischen "Postkommunisten" und "Islamis-ten" reduzieren lässt und eher ein politischer Machkampf zwischen regionalen Gruppen des Landes war. Das Ferganatal im Länderdreieck Usbekistans, Kirgistans und Tadschikistans zog als ein Brennpunkt "islamischer Wiedergeburt" im GUS-Raum Aufmerksamkeit auf sich.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und der Intervention in Afghanistan geriet Zent-ralasien in den Fokus eines globalen "war on terrorism". Das bescherte den lokalen Regierungen erhöhte internationale Aufmerksamkeit und verschärfte im GUS-Raum den Diskurs über Extremismus, Islamismus und Terrorismus. Im Westen schwankt die Einschätzung islamistischen Gewaltpotenzials in Zentralasien zwischen "an irritant, but not a risk" und "main risk". Trotz einer Flut von Publikationen gibt es kein genaues Bild über die extremistischen religiös-politischen Organisationen in Zentralasien. Nach wie vor fehlen verlässliche Informationen über die Mitgliederzahl, den Ursprung und die Mittel islamistischer Gruppierungen und ihrer Verbindungen zu internationalen Netzwerken. Das hindert die staatlichen Sicherheitsorgane nicht daran, den "islamistischen Faktor" für innenpolitische Ereignisse zu "benutzen". Die offiziellen usbekischen Erklärungen für das Massaker von Andischan vom Mai 2005 sind ein Beispiel dafür: Sie kreisen um eine islamistische Verschwörergruppe namens Akromiyya, über die niemand etwas Genaues weiß.
Am Ende der sowjetischen Zeit ertönte in verschiedenen Nationalsprachen des Vielvölkerreichs das Schlagwort "Wiedergeburt". Es wurde zur Namensgrundlage für nationale Volksfronten und diverse kulturelle Bewegungen von Estland bis Tadschikistan. Sein religiöser Aspekt unterlag nicht weniger als der ethnische einer Politisierung. Unter verschiedenen Varianten "islamischer Wiedergeburt" bildeten sich auch politische, im Extremfall militante Bewegungen heraus. Die aus sowjetischer Zeit stammenden, sich dem Säkularismus verpflichtenden Machteliten stülpten ein Feinbild des religiösen Extremismus über ein heterogenes Spektrum regimekritischer Kräfte. Daraus erwuchs ein Wechselspiel, das besonders in Usbekistan die Konfrontation zwischen einem repressiven Regime und religiös argumentierenden, teilweise gewaltorientierten Regimegegnern verschärfte. Zum Zusammenstoß und politischen Machtkampf zwischen dem nachsowjetischen Staat und islamistischen Kräften kam es im usbekischen Teil des Ferganatals bereits 1992. Danach übten die Staatsorgane erhöhten Druck auf religiöse Kräfte aus, die sich nicht der staatlichen Kontrolle über die "islamische Wiedergeburt" fügten.
Seit Mitte der 90er-Jahre diente in Russland und Zentralasien ein Schlagwort zur Bezeichnung islamistischer Akteure: Wahhabismus. Er wurde zum Synonym für religiösen Extremismus und religiös begründete Gewalt. Der Terminus war schon in der späten sowjetischen Periode geprägt worden - für religiöse Aktivitäten, die sich außerhalb des staatlich sanktionierten Rahmens der vier regionalen "Geistlichen Verwaltungen der Muslime" bewegten. Er bezeichnet eine in Saudi-Arabien etablierte puristische, am "reinen Islam" der Prophetengemeinde und des frühen Kalifats orientierte Strömung im Islam. Dieser Purismus kollidiert mit dem in Zentralasien und in Teilen des Kaukasus verwurzelten traditionellen Islam und seinem vielfältigen, lokal und ethnisch differenzierten Brauchtum. Der korrektere Sammelbegriff für solche Strömungen lautet Salafismus. Tatsächlich haben sich salafistische Bewegungen, darunter militante und von außen unterstützte, in einigen Teilen des postsowjetischen Raums entfaltet. Der Terminus Wahhabismus hat aber eine derart weitläufige Bedeutung angenommen, dass er kaum noch genau sein kann. Ein Repräsentant der islamischen Gemeinde des Gebiets Rostow in Südrussland wies einmal auf Probleme hin, die islamistische Unruhestifter in seiner Gemeinde schaffen, fügte aber hinzu: "Wir haben heute noch ein anderes Problem. Wenn jemand das rituelle Gebet korrekt vollzieht, nicht trinkt, nicht raucht, nicht flucht, dann hält man ihn für einen Wahhabiten. Heute hält sich jeder Milizionär für einen Spezialisten für Wahhabismus."
Der Terminus suggeriert die Vorstellung, dass riskante Varianten islamischer Wiedergeburt im postsowjetischen Raum stets von außen beeinflusst sind. Die Warnung vor externen Einflüssen ist sicher nicht aus der Luft gegriffen. Aber das Bild vom "importierten Islamismus" drängt regionale politische, kulturelle und sozialökonomische Ursachen für eine Radikalisierung des Islams in den Hintergrund. Die Regierungen konstruieren eine Teilung zwischen einem loyalen, apolitischen, korrekten einheimischen Islam und einem extremistischen, destabilisierenden ausländischen Islam. Die Verknüpfung mit ausländischen Netzwerken wurde zum Beispiel im Fall der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) betont. Ihr militärischer Flügel trat 1999 und 2000 von Stützpunkten in Afghanistan aus mit Gewaltaktionen wie der Entführung japanischer Geologen in Erscheinung und deckte gravierende Sicherheitslücken in einem Land wie Kirgisistan auf.
Die Handlungen dieser Bewegung sind eine Mischung aus Dschihad und Kriminalität. Der IBU wurde nachgesagt, mit ihren Militäraktionen staatliche Sicherheitsorgane von neu etablierten Drogenrouten ablenken zu wollen und tief in die von Afghanistan ausgehende Drogenökonomie involviert zu sein. Das lenkte noch vor dem 11. September 2001 internationale Aufmerksamkeit auf die Sicherheitslage nördlich von Afghanistan. Der militärische Flügel der IBU soll bei amerikanischen Militäroperationen in Nordafghanistan im Oktober 2001 zerschlagen worden sein. Die Ursprünge der Bewegung liegen aber in usbekischen islamistischen Gruppierungen im Ferganatal, die bereits 1991/1992 in Konfrontation zur Regierung unter Präsident Karimow traten und deren Führer damals noch kaum von ausländischen islamistischen Missionaren beinflusst waren. Insofern waren die Ferganatal-Fundamentalisten kein Importprodukt, sondern Teil einer lokalen salafistischen Tradition.
Seit 1996 entfaltete sich zunächst im usbekischen Teil des Ferganatals, dann auch in Kirgisistan und Tadschikistan eine global agierende Bewegung namens Hizb-ut-Tahrir al Islamiyya (Islamische Befreiungspartei), die ihre Hauptquartiere in Westeuropa hat. Sie betreibt eine aktive Propaganda gegen die lokalen Regierungen, insbesondere gegen die usbekische, und will ein Kalifat anstelle der nachsowjetischen Nationalstaaten setzen.
Der transnationale Appell fruchtet besonders in Grenzregionen Usbekistans, Kirgisis-tans und Tadschikistans, in denen die Bevölkerung unter rigiden Grenzregelungen ihrer Regierungen und unter korrupten Grenzverwaltungen leidet. Die Hizb erteilt zwar terroristischer Gewalt offiziell eine Absage, tritt aber so konspirativ und regimefeindlich auf, dass sie ein klares politisches Feindbild für die Regierungen abgibt - in jüngster Zeit auch in dem von islamistischer Mobilisierung kaum berührten Kasachstan.
Von regions- oder auch nur landesweiten islamistischen Massenbewegungen kann im postsowjetischen Zentralasien nicht die Rede sein. Aus Meinungsumfragen geht das Bekenntnis zur eigenen Religion und Kultur, teilweise auch ein Plädoyer für eine verstärkte Rolle des Islams im öffentlichen Leben, aber nur ein ganz minoritäres Votum gegen die bestehende säkulare Ordnung hervor. Die Mehrheit der Bevölkerung ist weit davon entfernt, für ein Kalifat oder den islamischen Staat zu optieren. Dennoch wächst ein ernstzunehmendes Konfliktpotenzial zwischen staatlichen Organen, auf denen der Vorwurf von Korruption und Vetternwirtschaft lastet, und religiös argumentierenden Regimegegnern. Letztere konnten prekäre politische und sozialökonomische Entwicklungen einer Übergangsperiode für sich nutzen und sich mit einem Appell an islamische Gerechtigkeit Gehör verschaffen. Aber auch dieser Befund gilt nur für einen Teil der Region: allenfalls für Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan, kaum für Kasachstan und Turkmenistan.
Dr. Uwe Halbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist Zentralasien und der Kaukasus