Astana
Seit der Unabhängigkeit sucht Kasachstan nach einer eigenen Identität. Die neue Hauptstadt soll zum Symbol der Nation werden. Nicht alle sind begeistert.
Die Bühne ist ein paar hundert Meter breit und knapp drei Kilometer lang. Sie ist schmutzig und laut. Auf ihr drehen sich Kräne hoch oben im Wind, während unten Bagger tiefe Gruben ausheben. Zwischen der aufgerissenen Erde und den staubigen Pisten stehen schon einige Requisiten he-rum: Die Zentrale der staatlichen Ölgesellschaft Kaztransoil wirkt, als sei sie aus Stalins Spielzeugkasten gefallen, das Verteidigungsministerium protzt mit einer zweiflügeligen Schloss-Kopie, das Parlament schmückt sich mit einer blauen Kuppel. Am Rand der großen Baugruben steht auf einem Plakat: "Eine neue Hauptstadt, ein neuer Staat, ein neuer Start in eine strahlende Zukunft."
Das Stück aber, das mitten in der Steppe gespielt wird, heißt: Nursultan Nasarbajew schenkt seinen Untertanen Astana. Als der mächtige Präsident am 10. Juni 1998 die neue Hauptstadt ihrer Bestimmung übergibt, spart er nicht mit großen Worten: "Was wir heute feiern, ist das ruhmreiche Ende blutiger Schlachten, das Ergebnis unbeirrbarer Träume und mutiger Revolten." Das Pathos der Proklamation passt zur Verlegung der Hauptstadt: Fast 1.300 Kilometer liegen zwischen Almaty an der Grenze zu China und Astana in der Mitte des Landes. Es ist eine symbolische, keine pragmatische Entscheidung. Die kleine frühere Provinzstadt Zelinograd wird zur Millionen-Metropole Astana umgebaut. Die endlose Steppe soll ein Zentrum bekommen.
Kasachstan ist das neuntgrößte Land der Erde. Es besitzt eine Ost-West-Ausdehnung von der Größe Australiens und hat gut 14 Millionen Einwohner, das sind gerade einmal sechs Einwohner pro Quadratkilometer. Wäre Deutschland so gering besiedelt, lebten in der Bundesrepublik lediglich zwei Millionen Menschen statt 82 Millionen. Astana soll die Leere mit Leben füllen.
Geht es nach Kisho Kurokawa, dann wird Astana in ein paar Jahrzehnten zu einer der lebendigsten Städte der Welt gehören. Der japanische Architekt gewann 1998 den Wettbewerb um den Masterplan für die neue Hauptstadt: "Eine Stadt ist ein Organismus, der Platz zum Wachsen braucht", sagt der Architekt. Er hat um den alten Kern von Zelinograd einen Ring von Clustern gelegt, die in den nächsten Jahrzehnten bebaut werden sollen.
Langsam füllen sich die Flächen. Neue Wohngebäude für Regierungsbeamte wachsen an den breiten Straßen in die Höhe, Nationalmuseum und Bibliothek sehen aus wie eine Hightech-Moschee, das Finanzministerium versteckt sich hinter verspiegeltem Glas.
Die Gebäude entwerfen fast ausschließlich kasachische Architekten. Ihr Stil mischt westliche Glasfassaden mit Kuppeln, Türmchen und Minaretten. Die Bauten sollen der jungen Nation das erste Mal eine eigene Architektur schenken. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lebten die Nomadenvölker Kasachstans in Jurten. Danach bauten die Zaren Forts und Poststationen, Nikita Chruschtschow ließ sowjetische Wohnblocks in die Steppe stellen. Die Einwohner von Astana nennen die Plattenbauten heute noch "Chruschtschowkas".
Fast fertig sind ein neues Konzerthaus, ein Theater, ein Kino und ein Sportzentrum. "Astana ist eine offene Stadt", sagt Kurokawa. Anders als die gigantische Stadtstruktur Brasilias, der 1960 errichteten neuen Hauptstadt Brasiliens, soll die Entwicklung Astanas niemals abgeschlossen sein. Der Architekt gibt gern zu, dass seine Ideen im Buddhismus wurzeln. Auch beim Bauen soll alles fließen
Die Vorstellungen von Präsident Nursultan Nasarbajew sind da durchaus konkreter. Am Rand des Regierungsviertels wird an einem Fernsehturm gebaut. Ursprünglich sollte der 199,7 Meter hoch werden, um symbolisch an das Jahr 1997 zu erinnern, als das kasachische Parlament den Hauptstadtbeschluss verabschiedete. Doch nun wünscht sich der Präsident einen 300 Meter hohen Turm. Denn auch im Jahr 3.000 soll Astana immer noch eine Hauptstadt von Weltgeltung sein.
Symbole und Zahlen spielen in Kasachstan eine große Rolle. Am Rand der Baugruben sind mit Blumen die Worte Kasachstan 2030 angepflanzt worden. Kasachstan 2030 ist Nursultan Nasarbajews Programm, seine Agenda 2010. Bis 2030 soll Kasachstan das wirtschaftliche Niveau der Europäischen Union erreicht haben.
Schon jetzt sei das Land auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen. Für Europa sei Kasachstan ein verlässlicher Partner in der Region, sagt Kassymschumart Tokajew. Der Außenminister bittet an den Konferenztisch unter einem großen Kristallleuchter. Noch residiert Tokajew im provisorischen Amtssitz im alten sowjetischen Zentrum Astanas, erst nächstes Jahr zieht er um in seinen prächtigen Neubau an der großen Allee. Der Minister erklärt ausführlich, warum sein Land ein professionell arbeitender Staat ist. "Der Motor unserer Entwicklung ist das Öl." Präsident Nasarbajew, da will Tokajew keinen Zweifel lassen, mache Kasachstan zu einem modernen Land. Eine Einschätzung, die von der Weltbank geteilt wird: Das kasachische Bruttoinlandsprodukt wächst und wächst und wächst.
Das Öl aus dem Kaspischen Meer ist für Kasachstan Segen und Fluch. Der Lebensstandard der Menschen wächst jedes Jahr. Die knapp acht Millionen türkisch-muslimische Kasachen, die fünf Millionen slawischorthodoxen Russen sowie jeweils Hunderttausende von Stalin in die Steppe verschleppte Ukrainer, Weißrussen, Koreaner und Tartaren haben ein gemeinsames Ziel: So schnell so viel Geld wie möglich verdienen. Das Vorbild ist der Geschäftsmann im dunklen Anzug, der an der Hauptstraße von Astana von Plakaten lächelt und für Autos und Fernsehgeräte wirbt.
Gleich daneben feiern Transparente die Leistungen des großen Präsidenten Nasarbajew. Ihre Botschaft lautet schlicht: "Alle lieben Nursultan." Der Personenkult um den 65 Jahre alten obers-ten Kasachen erinnert an sowjetische Heldenverehrung. Seit 16 Jahren ist der einstige kommunistische Parteifunktionär nun schon an der Macht. Und daran wird sich auch kaum was ändern, glaubt ein westlicher Diplomat in Astana. "Der Öl-Boom deckt vieles zu. Tatsächlich hat Nasarbajew noch unter Breschnew gelernt, straff zu führen und hart durchzugreifen. "Der Präsident bestimmt, wer ins Parlament und die Regierung kommt. Die Opposition bekommt nur so lange keine Probleme, bis sie nicht gefährlich wird. Und das Fernsehen sendet nichts, was als Kritik am Präsidenten verstanden werden kann. So nahmen die Kasachen auch die Verlegung der Hauptstadt hin. Die Stadt werde der Brückenkopf, verspricht Nasarbajew: Zwischen den Russen, die vor allem im Norden siedeln, und den Kasachen, die im Süden leben. Ein Projekt der Versöhnung soll Astana sein. Doch der Umzug nützt vor allem dem Machtapparat des Präsidenten, der dadurch den Einfluss großer südkasachischer Clans auf die Politik zurückgedrängt hat.
Zwar bleibt das zwei Millionen Einwohner große Almaty (das frühere Alma-Ata) mit seinen Universitäten und Theatern, Cafes und Restaurants die attraktivste Stadt des Landes, in das die Regierungsbeamten am Wochenende aus der unwirtlichen Steppe fliehen. Der Flug dauert fast drei Stunden. Die politische Kommandozentrale aber liegt in der Retortenstadt Astana.
Aber wie lange wird sie auch wirklich Hauptstadt bleiben? Viele Politiker aus dem Süden des Landes würden sofort die Hauptstadt ins alte Almaty zurückverlegen, wenn sie denn könnten. Da sind sich westliche Beobachter sicher. Doch mit jedem neuen Ministerium, mit jeder neuen Botschaft, die von Almaty nach Astana zieht, schwindet das Provisorische. Schon jetzt hat die Stadt fast 500.000 Einwohner. Innerhalb von knapp sieben Jahren sind fast 400.000 Menschen in die Steppe gezogen, angelockt von billigem Wohnraum und der Arbeit in der Verwaltung, die mit einer Steppenzulage versüßt wird.
Im Kasachstan des Jahres 2030 soll Astana eine Million Einwohner haben. Dafür entwirft Architekt Kurokawa Cluster für Cluster und baut Präsident Nasarbajew mit den Petrodollars an seinem Denkmal aus Beton und Glas. 5 Milliarden Dollar soll der Umzug am Ende kosten. Astana bedeutet übersetzt schlicht Hauptstadt. Viele ihrer Einwohner aber sind überzeugt, dass das nicht der endgültige Name sein wird. Spätestens nach dem Tod des "obersten Kasachen" werde die Stadt seinen Namen tragen: Nasarbajew.