Pamir
Der Highway führt über 800 Kilometer durch wildes Gebirge. Die Landschaft und ihre Menschen machen die Fahrt zu einem einzigartigen Erlebnis.
Wir sitzen auf der Veranda des Gästehauses an der afghanischen Grenze und blicken auf einen kahlen braunen Bergrücken. Heiß bläst der Wind durch das enge Flusstal, an dessen Seiten die Berge aufsteigen. Wir trinken lauwarmes tadschikisches Bier, dem zwei Stunden im Kühlschrank nichts von seiner Schalheit haben nehmen können. Macht nichts. Das ist schließlich eine Abenteuerreise durch Zen-tralasien, kein Ausflug in den bayerischen Biergarten. Wir haben den Satz gelesen, den der Autor des Reiseführers für unsere Route gefunden hat: "This is the cutting edge of adventure travel." Eine Urlaubsfahrt auf Messers Schneide! Sie wird am nächsten Tag beginnen.
Die Nacht bricht schnell ein in Kalaikhum. Bald schon ist der Bergrücken auf der afghanischen Seite des Flusses kaum noch zu erkennen. In den Hof des Gästehauses fährt ein roter Lada Niva vor. Das ist ein gutes Auto für die Rumpelpisten in Tadschikistan. Drei Frauen steigen aus dem Geländewagen. Es sind ältere Damen, Französinnen. Wir stellen uns vor und fragen nach ihrer Route. "Ach, über den Pamir Highway nach Osch", sagt eine Frau. Später werden wir erfahren, dass sie 80 Jahre alt ist. Ihre Begleiterinnen sind zwar jünger, doch auch schon im Pensionsalter. "Abenteuerreise! Auf Messers Schneide, was?", sagt Klaus. Er spricht aus, was wir alle in diesem Moment denken. Der Auftritt der drei Damen, die außer Französisch nur ein paar Brocken Englisch sprechen, ganz gewiss aber kein Russisch, hat unser Abenteuer zu einer gewöhnlichen Reise gemacht. Wir werden zu Hause nicht aufschneiden können, dass es nur harte Kerle schaffen, das Dach der Welt zu überqueren. Klaus sagt: "Das wird wohl eher eine Butterfahrt für Rentner. Und da oben werden sie uns wahrscheinlich Heizdecken aus Yak-Fell andrehen wollen."
Am nächsten Morgen machen wir uns zeitgleich mit den Damen auf den Weg. Am Ortsausgang von Kalaikhum wird getankt. Ein vielleicht 15 Jahre alter Junge in zerschlissener kurzer Hose taucht einen Blecheimer in ein offenes Fass, schöpft Benzin und kippt es dann durch einen verbogenen Trichter in den Tank unseres Wagens. "Gib bitte Gas", sagen wir zu unserem Fahrer. Er soll den roten Lada abhängen. Tatsächlich werden wir ihm nicht mehr begegnen. Vielleicht klappt es doch noch mit der Legende von den harten Kerlen auf dem Dach der Welt.
Der Pamir Highway heißt auf Russisch Pamir-Chaussee. Sowjetische Soldaten haben die Straße in den 30er- und 40er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts in das Hochplateau des Pamir-Gebirges geschlagen. Es ist ein gut 800 Kilometer langes Asphaltband, das in einer Steinwüste von Chorog in Tadschikis-tan nach Osch in Kirgisistan verläuft. Höchster Punkt ist der Ak-Baital-Pass 4.655 Meter über dem Meeresspiegel. Es gibt zwei Theorien, warum diese Straße in dieser dünn besiedelten Gegend gebaut wurde. Weil damit die gut 250.000 Menschen im Pamir endlich versorgt werden konnten, sagen die einen. Die anderen sagen, die junge Sowjetunion habe die Straße aus militärischen Gründen entlang der afghanischen und chinesischen Grenze gezogen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Wazir, unser Fahrer, weiß auch nicht, wa-rum die Straße gebaut wurde. Er sagt nur, dass sie früher besser in Schuss gewesen sei.
Früher, das heißt hier stets: Als es die Sowjetunion noch gab.
Bei Freunden von Wazir in einem Dorf bei Chorog setzen wir uns auf einen Topdschan, ein Freiluft-Sofa, groß wie ein Himmelbett und mit bunten Polstern belegt. Es ist zehn Uhr morgens, es gibt kleine Aprikosen und den ersten Wodka. Wir sprechen über die Vergangenheit, die hier immer noch gegenwärtig ist. Früher gab es hier Kolchosen, sagt der Gastgeber, ein Mann mit Knubbelnase, der früher für die staatliche Kontrollstelle für Saatgut gearbeitet hat. Es gab Kolchosen für Landwirtschaft, für Fischerei, für Holzwirtschaft. Das kann alles nicht sehr ertragreich gewesen sein, aber die Menschen bekamen wenigstens Lohn. Heute, sagt der Gastgeber, gibt es das kaum noch: "Alles ist verschwunden." Wir verabschieden uns und bedanken uns mit einer Postkarte. Sie zeigt bekannte Baudenkmäler aus Deutschland. "Bitte mit Widmung", sagt unser Gastgeber. Was sollen wir schreiben? "Schreibt: In Erinnerung an den Besuch der deutschen Delegation!" So etwas hätte man auch früher geschrieben, als die Pamir-Gegend für Touristen noch nicht zugänglich war und sich allenfalls Delegationen dort einfanden.
"Früher", sagt der stellvertretende Leiter des Botanischen Gartens in Chorog, "hatten wir viele Kontakte mit dem Ausland." Er streift mit uns durch die Anlage, die sich an einem Berghang von 2.100 Metern Höhe auf fast 4.000 Meter hinaufzieht. Von einem Aprikosenbaum pflückt er Früchte, wir müssen verschiedene Birnen- und Äpfelsorten kos-ten. "Früher hatten wir Kontakte zur Humboldt-Universität in Berlin", sagt der Mann und wirkt enttäuscht, weil heute leider nicht mehr früher ist. Bei einer Volksabstimmung über den Anschluss an Russland würden hier die meisten mit einem Ja votieren. Moskau ist für die meisten Pamiris Hauptstadt geblieben.
Seit kurzem immerhin gibt es eine Brücke über den Fluss ins Nachbarland. Afghanen dürfen einmal pro Woche für vier Stunden nach Tadschikistan. Dann ist Grenzmarkt, gemeinsam überwacht von tadschikischen und afghanischen Polizisten. Es wird viel gehandelt, aber wenig umgesetzt. In einer Ecke grillen Tadschiken Fleischspieße, in der anderen Ecke sind es Afghanen. "Ab Mittag fangen sie dann an zu saufen", sagt der Marktmeister, der schon vormittags damit angefangen hat.
Wir machen uns auf den Weg aufs Hochplateau, auf das Dach der Welt. Der Lada röchelt mit jedem Höhenmeter, den er aufsteigen muss, ein wenig mehr. Die gefühlte Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei zwölf Stundenkilometern. "Schmutz im Benzin und zu wenig Sauerstoff", sagt Wazir und spuckt Kautabak aus dem Seitenfenster des Autos. Nach einigen Stunden machen wir Halt in Jelandy, einer kleinen Ortschaft, umgeben von bis zu 6.000 Meter hohen Bergen. Rechts blitzt ein Gletscher auf, auf der linken Seite auch einer. Wazir sagt, man müsse jetzt ein Bad nehmen. Also legen wir uns in das heiße schwefelhaltige Wasser, das unangenehm nach faulen Eiern riecht. "Das ist gesund", sagt Wazir und lacht. Hier oben hat sich ein Sanatorium gehalten. Dann müssen wir essen - eine Suppe aus Kartoffeln und Rindfleisch, dazu getrocknete Käsebällchen, die säuerlich schmecken. "Ist gut bei der Höhe", sagt Wazir, der auch die Theorie vertritt, dass 50 Gramm Wodka zu jeder Mahlzeit Wunder gegen die Höhenkrankheit wirken.
Mittlerweile haben wir die kritische Höhe von 3.500 Metern überschritten, doch die Höhenkrankheit zeigt sich nicht. Mir ist ein wenig schwindlig, und im Kopf wummert es ein bisschen, aber das mag auch am Wodka liegen. Stundenlang fahren wir über das Plateau. Immer geradeaus. Der Asphalt hat sich erstaunlich gut erhalten. Es holpert kaum, und es sind keine Autowracks am Straßenrand zu sehen. So stand es in einer deutschen Zeitung.
Abgestürzte Autos und Panzerwracks aus der Zeit des Bürgerkriegs in Tadschikistan kann man auf der Fahrt zum Pamirgebirge ausgiebig betrachten. Aber hier oben kann man mit dem Auto nicht abstürzen. Hier oben ist nur eine endlos scheinende Fläche, eingesäumt von Gipfeln, die niedriger wirken als sie tatsächlich sind. Von 4.000 Metern Höhe aus gesehen scheint der Pik Ismoil Somoni, der früher Pik Kommunismus hieß, mit seinen fast 7.500 Metern auch nur ein bisschen höher als die Zugspitze von Garmisch zu sein. Die Farbigkeit der Landschaft ist erstaunlich. Das Gestein ist rot, grün, rötlich grün, grünlich rot. Manchmal schimmert es weißlich, manchmal gräulich - ein einziges Spiel der Erdfarben. Entlang der Straße leben Murmeltiere. Ihr Pfeifen ist neben dem Geräusch des Windes der einzige Laut auf dem Pamir-Highway.
Wazir unterhält uns während der Fahrt mit Witzen und Geschichten aus der guten alten Zeit. Als man noch problemlos in der ganzen Sowjetunion umherreisen konnte, wie er sagt. Er ist der beste Fahrer, den wir finden konnten. Er legt alle Hürden um, die sich vor Ausländern in dieser Gegend auftun. Er hat Alkohol eingeladen, um die Polizeiposten gütlich zu stimmen. Aus einem Liter 96-prozentigen Alkohols machen sich die Bewacher des Pamirs sechs Fläschchen Schnaps, sagt Wazir. Er weiß, wie man mit den Grenzsoldaten umgehen muss, die in regelmäßigem Abstand auf der Straße Kontrollstellen aufgebaut haben. Warum sie das tun müssen, wissen die jungen Wehrpflichtigen vermutlich nicht einmal selbst. Offiziell heißt es, sie sollen den Drogenschmuggel aus Afghanistan unterbinden. Inoffiziell weiß jeder, dass das nicht gelingt.
Nach stundenlanger Fahrt ist in der Ferne eine Ortschaft zu entdecken. Der Ort heißt Ali-Tschur. Ein paar Häuser mit Flachdach. Sie sehen aus wie Schuhschachteln aus Stein, die ein Riese verstreut hat. Das ganze Jahr über pfeift der Wind. Ein Mann sagt, nur jemand, der hier wieder wegfahren dürfe, könne sagen, dass es hier schön sei. Wir dürfen weiterfahren.
Nach Murgab, in die Hauptstadt des Plateaus, die sich von Ali-Tschur nur dadurch unterscheidet, dass sie mehr steinerne Schuhschachteln aufweist und dazu noch eine schäbige Kaserne der Grenztruppen, die von hier aus nach Afghanistan und nach China blicken. In Murgab lebt Schakir-Bei, der am Abend gebratene Bergziege auftischt. Seine Schwester hat gekocht. Schakir-Beis Frau hängt in China fest. Sie hat es nicht mehr zurück nach Tadschikistan geschafft, als die Chinesen beschlossen haben, die Grenze für ein paar Tage zu schließen. Mal wieder, sagt Schakir-Bei, und er klingt nicht verärgert. Er nimmt die Bürokratie an der Grenze hin wie den ewigen Wind in seiner Heimat. Er ist Kirgise, trägt von morgens bis abends einen Kaptschak, den für die kirgisischen Nomaden typischen hohen Hut. Tradition ist ihm wichtig. Nur einmal hat er mit der Tradition gebrochen. Damals, als sein Sohn zur Welt kam und gerade ein britischer Entwicklungshelfer zu Besuch war, der Murgab wegen eines Schneesturms nicht verlassen konnte. Schakir-Beis Sohn heißt Robert. Er dürfte das einzige Kind in Murgab sein, das einen nichtkirgisischen Namen trägt. Schakir-Bei ist ein moderner Mann.
Wazir treibt zur Eile. Er will schnell über den Ak-Baital-Pass kommen, den mit 4.655 Metern höchsten Punkt der Reise. Schakir-Beis Schwester muss schon um fünf Uhr morgens Tee kochen, Schir-Tschai. Das ist gesalzener grüner Tee mit Milch, in den ein ordentliches Stückchen Yak-Butter eingerührt wird. Dazu gibt es Brot. Es ist nicht einfach, den Magen eines Europäers von diesem Frühstück zu überzeugen. Wir haben Mühe, unser Unbehagen zu verstecken. Dann fahren wir in den Morgen hinein auf dieser Straße, die nicht enden will. Hinauf geht es, immer hinauf. Der Lada röchelt, an den Schläfen wummert es. Hinauf. Hinauf. Wazir schimpft über das schlechte Benzin, spuckt wieder den Saft seines Kautabaks aus dem Seitenfenster und starrt verbissen auf die Piste vor ihm. Er sagt, er habe keine Probleme mit der Höhe. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen blauen Himmel herunter, aber sie wärmt nicht. Noch eine Stunde bis zur Passhöhe.
Ein Laster kommt hinter uns hergefahren. Ein alter, verbeulter Laster. Er hält neben dem Lada an. Der Fahrer ist mit zwei Gemüsehändlerinnen unterwegs zum Markt nach Osch in Kirgisistan. Zwei Tage hin, einkaufen, aufladen, dann zwei Tage zurück nach Chorog. Die Zahnkronen der Frauen blitzen golden auf. Der Fahrer sagt, er sei seit 30 Jahren auf dem Pamir unterwegs. Hinten runter, nach Kirgisistan, da sei die Straße auch schon einmal besser gewesen, sagt er. Wir verabreden, uns auf der Passhöhe wieder zu treffen. Der Lkw-Fahrer hat behauptet, auf der Höhe funktionierten unsere Gasfeuerzeuge nicht mehr. Wir wetten um eine Flasche Wodka.
Eine gute Stunde warten wir auf der Passhöhe. Der Laster kommt nicht. Wir wissen nicht, was passiert ist. Umkehren können wir nicht, denn Wazir möchte nicht in die Nacht geraten. Wir fahren weiter. Die Feuerzeuge haben gut gebrannt.
Damir Fras ist Redakteur im Außenpolitik-Ressort der "Berliner Zeitung"