KIrgisistan
Einst sollte das Land
am Fuße des Pamir-Gebirges
die Schweiz Zentralasiens werden.
Nach der Revolution von 2005 sieht
die Zukunft jedoch düster aus.
Ein Erklärungsversuch.
Eine laue Frühlingsluft trägt die dünne Stimme eines Popsternchens über den Ala-Too-Platz im Zentrum Bischkeks, der Hauptstadt der zentralasiatischen Republik Kirgisistan. Vielleicht 12.000 Demonstranten haben sich versammelt, um gegen Präsident Kurmanbek Bakijew zu demonstrieren.
Die Demonstranten, überwiegend junge Männer in Trainingsanzügen, nehmen von der Sängerin nur wenig Notiz, sie stehen in kleinen Gruppen vor etwa 25 Jurten, es wird wenig diskutiert und der politische Charakter der Demonstration wirkt bemüht. Nur gelegentlich, wenn einer der Redner auf der Bühne Bakijew erwähnt, rufen einige der Demonstranten müde: "Ketzen Bakijew, ketzen!" (Verschwinde, Bakijew!) Ein Großteil der Demonstranten wird bezahlt (etwa von dem Ex-Premierminister Felix Kulow) - angesichts des fehlenden Enthusiasmus offensichtlich nicht ausreichend. Dennoch, Demonstrationen gehören nicht unbedingt zur Tagesordnung im autoritär regierten Zentralasien, und dies zeigt das Paradox der politischen Entwicklung Kirgisistans zwischen politischer Öffnung und andauernder Krise.
Kirgisistan erlangte seine Unabhängigkeit 1991 weitgehend unvorbereitet. Anders als in den zentralasiatischen Nachbarstaaten übernahm dort jedoch nicht die alte Parteielite der KPdSU die Macht - bei den ersten Präsidentschaftswahlen konnte sich ein Vertreter der Perestroika-Zeit, Askar Akajew, durchsetzen. Akajew verfolgte zunächst eine behutsame politische und wirtschaftliche Öffnung des Landes, die Beobachter hoffnungsvoll in Kirgisistan die "Schweiz Zentralasiens" erkennen ließen.
Doch Ende der 90er-Jahre wurde sein Regime zunehmend autoritär. Eine kleine regionale Elite um seine Familie aus dem Norden des Landes etablierte ein auf Korruption und Vetternwirtschaft basierendes Klientelsys-tem, das die Wirtschaft weitgehend kontrollierte. Inkompetenz, überzogene Erwartungen und das Netz aus Korruption, das sich um die präsidiale Familie spannte, führten zu sozialen und politischen Verwerfungen, die sich schon 2002 im wirtschaftlich benachteiligten Süden in Protesten entluden.
Als Sicherheitskräfte sechs Demonstranten im südkirgisischen Aksy erschossen, konnte Akajew seine Position vorübergehend konsolidieren. Da allerdings niemand die politische Verantwortung übernahm, erodierte die Loyalität der Sicherheitsorgane. Die so genannte Tulpen-Revolution vom 24. März 2005 beendete Akajews Familienregime. Nach manipulierten Parlamentswahlen kam es zu massiven Protesten, die wiederum im Süden ihren Ursprung hatten und rasch auf den Norden übergriffen.
Der schnelle Zusammenbruch des Regimes verweist auf tiefer liegende Ursachen und Folgen: Der Regierungsstil Akajews war hybrid, weder demokratisch noch autoritär wie in den Nachbarländern. Oppositionelle und zivilgesellschaftliche Organisationen hatten zwar mit Repressionen zu kämpfen, konnten jedoch im regionalen Vergleich größere Aktivitäten entfalten. Mit Akajews Fall kollabierten nahezu sämtliche staatlichen Institutionen, die zuvor der Inszenierung eines starken Staates gedient hatten - und dies gilt vor allem für das Präsidentenamt. Wie in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion, so gilt auch in Kirgisistan, dass Staatsmacht exklusiv mit dem Amt des Präsidenten gleichgesetzt und Opposition zum Präsidenten grundsätzlich als Gefährdung des gesamten Staatswesens wahrgenommen wird.
Die März-Ereignisse brachten einen Vertreter des Südens in das Präsidentenamt. Ähnlich wie in Georgien oder der Ukraine war der neue Präsident Kurmanbek Bakijew Teil der politischen Elite der Akajew-Ära, der sich erst spät dem oppositionellen Lager angeschlossen hatte. Auch der neue Premierminister Felix Kulow war ein Vertreter der alten Elite, den Akajew vor den Präsidentschaftswahlen 2000 als Rivalen ausgeschaltet hatte und inhaftieren ließ.
Die Zusammenarbeit des "Tandems" Bakijew-Kulow war von Beginn an überschattet von Differenzen und von Konflikten mit dem noch zu Akajews Zeiten gewählten Parlament. Bakijew, der im Juli klar die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, entwickelte weder eine konsistente Politik noch bemühte er sich, die staatlichen Institutionen zu stärken und das Machtvakuum, das Akajew hinterlassen hatte, zu füllen. Die Konkurrenz regional verankerter Gruppen - insbesondere der virulente Nord-Süd-Konflikt - führte nach kurzer Zeit zu einem Machtkampf um die begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen, wobei nun Vertreter des Südens von Bakijew mit lukrativen Positionen bedacht wurden. Zudem erlangte die organisierte Kriminalität Einfluss auf Politik und staatliche Strukturen, die mehr und mehr zur Durchsetzung privater wirtschaftlicher Interessen missbraucht wurden und werden. Viele ehemalige Oppositionelle, die im März 2005 für eine Demokratisierung und eine Reform des präsidialen zugunsten eines parlamentarischen Systems eingetreten waren, zogen sich enttäuscht aus der Politik zurück und überließen das politische Feld Geschäftsleuten und Politikern, die zunächst Bakijew unterstützt hatten, sich aber bei der folgenden Umverteilung benachteiligt fühlten. Im April 2006 initiierte die Opposition gegen das Tandem Bakijew-Kulow erneut Demonstrationen, die vor allem eine Reform der Verfassung verlangten - eine der Kernforderungen der Opposition. Sie zielte darauf ab, die Rechte des Präsidenten einzuschränken.
Bakijew verzögerte eine öffentliche Diskussion um die Verfassungsreform und versuchte, die Opposition - mit teilweise allzu durchsichtigen Manövern - einzuschüchtern. Dies misslang, sodass die Proteste im November 2006 eskalierten und die Erosion der Staatsmacht mehr als deutlich vorgeführt wurde. Angesichts der drohenden Eskalation gab Bakijew den Forderungen der Opposition am 9. November nach und ratifizierte eine neue Verfassung, die die Rolle des Parlaments zwar stärkte, aber von vielen Beobachtern als widersprüchlich bewertet wurde. Auch waren damit die Konflikte zwischen Opposition und Präsident keineswegs beigelegt: Zur Jahreswende änderte Bakijew seine Politik und begann, Teile der Opposition in die Regierung einzubinden. Erstes Opfer dieser Politik war Premier Kulow, der im Januar bei erneuten Verhandlungen über Verfassungsänderungen nicht in seinem Amt bestätigt wurde. Im März dieses Jahres ernannte Bakijew den früheren Oppositionsführer Almasbek Atambajew zum neuen Premierminister. Kulow, der seine Demission offensichtlich nicht erwartet hatte, wechselte ins oppositionelle Lager, das sich zunehmend aufspaltete.
Die Krise der vergangenen Monate und die wiederholten, überstürzten und wenig durchdachten Änderungen der Verfassung haben die politischen und staatlichen Institutionen Kirgisistans weiter unterminiert. Opposition und Präsident haben in diesem Frühjahr eine bedrohliche Rhetorik angenommen, die weitgehend ohne politische Inhalte auskommt. Eine politische Strategie, wie auf die problematische soziale und wirtschaftliche Entwicklung Kirgisistans reagiert werden könnte, fehlt beiden Lagern.
Welchen Weg wird das Land gehen? Auf dem Ala-Too-Platz im Zentrum Bischkeks werden wohl weiter Jurten aufgeschlagen, neue Konflikte scheinen unausweichlich. Für das Land und seine Menschen keine schöne Aussicht.
Dr. Tim Epkenhans leitet die
OSZE-Akademie in Bischkek