ARALSEE
Früher war er groß und schön. Seit Jahrzehnten siecht er dahin. Doch nun keimt Hoffnung auf eine Wiedergeburt.
Es ging ein kalter Wind und die Sicht war schlecht. Mit Motorboten kämpften sich die Rettungsmannschaften durch den See und fanden nichts. Drei Tage ging das so. Drei Tage, an denen die Frauen von Bugun und Karaschalan auf Nachricht warteten. Ihre Männer trieben auf einer Eisscholle durch den Aralsee, die sich gelöst hatte, als sie beim Fischen waren. Es gab ein glückliches Ende. Alle 63 Fischer konnten gerettet werden, weshalb außerhalb Kasachstans auch nur wenige Menschen Notiz nahmen von diesem Ereignis Ende Dezember. Erst eine Katastrophe hätte es zu einer Nachricht gemacht - zu einer, die vermutlich viele Menschen verwirrt hätte. Es gibt den Aralsee noch? Und es gibt dort noch Fischer?
Der Aralsee stirbt seit vielen Jahren. Der Annahme, er müsste langsam tot sein, ist also nicht abwegig. Sie stimmt nur nicht - jedenfalls nicht ganz. Es gibt wieder Fischer am Aralsee. Einer von ihnen ist Ontalap Kanybetow aus Dschambul. In Reih und Glied stehen weiß getünchte Häuschen mit blau umrandeten Fenstern am Hauptweg, der direkt hinunter führt zum Becken des Aralsees. "Hier war früher der Steg", sagt der 41-Jährige. Vom früheren Steg zum Friedhof der Fischerboote ist es nicht weit. Man kann die kurze Strecke im Geländewagen zurücklegen. Sie führt über jenen holprigen Boden, der einst mit Wasser bedeckt war und nun spärlichen Steppengewächsen eine Heimat bietet.
"Eigentlich müsste man hier ein Museum eröffnen, ein Museum für einen gestorbenen See", sagt Kanybetow und zeigt auf die kleine Flotte rostiger Kähne. Im Sommer verirren sich gelegentlich Touristen hierher. "Geht es hier zum Aralsee?", fragen sie dann. Der See ist schwer zu finden. Seit Jahrzehnten ist er ein flüchtiges Gewässer. Er verdampft, verwandelt sich in Wüste, entzieht sich so auch dem Eifer der Kartografen. "30 Kilometer sind es von hier zum See", sagt Kanybetow. Es ist sein täglicher Weg zur Arbeit. Ertragreich sei die Fischerei neuerdings, berichtet er und blättert zufrieden in einem grünen Journal, in dem er fein säuberlich den Fang eines jeden Tages vermerkt. Eine Tonne ist es meistens, die Kanybetow und seine Leute nun aus dem Aralsee fischen. Dann kramt der Mann noch eine Karte hervor. Zehn Quadranten sind dort eingezeichnet. "Zone fünf und sechs habe ich kürzlich in einer Ausschreibung gewonnen. Dort fischen wir", sagt er. Für hiesige Verhältnisse ist er ein mittelständischer Unternehmer. 15 Boote sind sein Eigen, 30 Fischer werfen die Netze für ihn aus.
Kanybetows Geschichte und die der anderen Fischer vom Aralsee könnte die Geschichte einer Wiedergeburt sein. So jedenfalls sehen es die Weltbank und die kasachische Regierung. Zusammen haben sie einen Damm errichtet, der den kleineren Teil des mittlerweile geteilten Aralsees retten soll. Der Wasserspiegel ist um mehrere Meter gestiegen, die Fläche des so genannten Kleinen Aralsees hat sich vergrößert - angeblich um 900 Quadratkilometer. Fische sind zurückgekehrt, die es seit vielen Jahren nicht mehr gab, Karpfen zum Beispiel. Ein Fischzuchtbetrieb frischt die Bestände auf. Doch Kanybetow misstraut dem Glück, fürchtet, dass es sich als Fata Morgana entpuppt. "In zwei Jahren müssen wir vielleicht alles verkaufen", sagt er, "dann können wir im See baden gehen. Nur Arbeit haben wir keine mehr." Der Mann weiß aus Erfahrung, dass nicht immer Fisch ist, wo Wasser ist. Manchmal entfleucht er auch wieder.
Um die Menschen in der Steppe am Aralsee zu verstehen, ihr Misstrauen und ihren Fatalismus, muss man sich ein Meer vorstellen, das verschwindet. Ein Meer, denn so heißt der Aralsee hier, das einst das viertgrößte Binnengewässer der Welt war. Gespeist von zwei mächtigen Flüssen, dem Amu-Darja im Süden und dem Syr-Darja im Norden, bedeckte er 67.800 Quadratkilometer. Das hätte genügt, um zum Beispiel Bayern unter Wasser zu setzen. Bis die Sow-jetmacht über ihn das Todesurteil sprach. Sowjetische Agrar-Ingenieure waren zur Auffassung gelangt, beim Aralsee handele es sich um einen Irrtum der Natur. Das Wasser der Flüsse Amu-Darja und Syr-Darja sollte sich nicht länger nutzlos in den See ergießen, sondern durch intensive Bewässerung reiche Baumwollernte sichern. In der Folge gab es Jahre, in denen kaum ein Tropfen den Aralsee erreichte. Anfang der 90er-Jahre maß der hauptsächlich zu Usbekistan gehörende Große Aralsee nur noch 33.000 Quadratkilometer, der kleine gerade einmal 3.000. Da sein Schicksal nun schon besiegelt sei, verlangte einst der Gelehrte Grigorij Woropajew, solle der Aralsee wenigstens "in Schönheit sterben". Wie so viele sowjetische Träume, hat sich auch dieser nicht erfüllen wollen.
Der Weg zu Nargali Demeyuw führt mit dem Geländewagen stundenlang durch sandige Ödnis. Der Rückzug des Sees hat das Klima in der Gegend verändert. Hunderte Pflanzen- und Tierarten sind verschwunden. In Agispe, auch dies ein Fischerort, gibt es keine Wege mehr, nur noch Sandpisten. Es kommt nicht oft Besuch, deshalb muss sich Deme-yuw erst ein bisschen sammeln. Der alte Mann stellt sich vor den Spiegel am kleinen Waschbecken im Hof und rasiert sich. Über den Aralsee wolle man sprechen? So, so. "1944 ging ich das erste Mal fischen. Damals war ich zwölf und mein Vater im Krieg. Die Alten zeigten uns, wie es gemacht werden muss", erzählt Nargali Demeyuw, während er sich das Gesicht abtrocknet. Er erinnert sich an harte Arbeit. Es galt die Parole: "Mehr Fisch an die Front und fürs Land."
Nach dem Krieg war nicht weniger Fleiß gefragt. Der junge Demeyuw wollte ein guter Fischer sein und ein guter Kommunist dazu. Der See machte es den Fischern leicht. "Um das Zweifache, um das Dreifache haben wir den Plan übererfüllt", erinnert sich Demeyuw. Er wurde Chef einer Fischerei-Brigade, "verdienter Fischer" und zur Belohnung schließlich 1966 Delegierter des XXIII. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Im Haus zeigt der alte Mann Schwarz-Weiß-Aufnahmen an der Wand. Viele aufgereihte Männer in dunklen Anzügen sitzen da im Kreml und gleichen einander wie Pinguine. Welcher davon er selber ist, kann Demeyuw nicht mehr sagen. Viele Reden habe es gegeben, aber ob über den Aralsee gesprochen wurde? Demeyuw weiß auch das nicht mehr. Wichtig ist es nicht, das Schicksal des Sees war ohnehin besiegelt, und nach seiner Heimkehr war die große Zeit vorbei. Geschwiegen habe er nicht, sagt Demeyuw. Den Genossen habe er ins Gewissen geredet: "Aber sie hörten nicht." Immer weiter zog sich das Wasser zurück, immer salziger wurde es, immer weniger die Fische. "Wir konnten den Plan nicht mehr erfüllen, also mussten wir weg, um anderswo zu fischen."
1991 schickten sie den erfahrenen Deme-yuw dann doch noch einmal raus auf den See. Zu tun hatte das mit dem Flunder-Experiment, an dessen Anfänge in den 70er-Jahren sie sich im Fischerei-Institut von Aralsk mit Heiterkeit erinnern.
"Wir sind nach Kamtschatka gefahren, die Koffer voll von Proben mit Aralwasser", sagt der Biologe Kuanisch Balenbetow. Gesucht waren Fische, die das salzige Aral-Wasser vertragen. Die lange Reise in den Fernen Osten war vergeblich, denn wie sich herausstellte, bevorzugen die Fische dort Süßwasser zum Laichen. Fündig wurden die Forscher schließlich viel näher, im Asowschen Meer. Von dort brachten sie Flundern mit. Die Plattfische fühlten sich im salzigen Aralsee wohl und vermehrten sich so prächtig, dass die Behörden Demeyuw schließlich ersuchten, es noch einmal zu versuchen mit der Fischerei. Die Expedition verlief traurig. Für Flundern hatten die Fischer vom Aral weder die nötige Erfahrung noch die passenden Netze. Und wäre nicht drei Jahre später ein dänischer Fischer namens Kurt Bertelsen Christensen auf Erkundungsreise zum Aralsee gekommen, die Plattfische schwämmen wohl bis heute unbehelligt durch den See. Da der Däne sah, dass er helfen konnte, kam er wieder mit Netzen und Know-how und startete die Aktion "Vom Kattegat zum Aralsee". Erst Dutzende, dann Hunderte kehrten mit Christensens Hilfe zur Fischerei zurück.
Während er plaudert, zieht Nargali Deme-yuw das blau-graue Sakko an mit den golden glänzenden Arbeiterorden. Den Dänen Christiansen mag er, aber er bleibt dabei: Die ganze Fischerei heute taugt nichts. "Staatlich", sagt er, "wäre es besser. Sie stellen Dir ein Boot. Du fischst. Du bekommst Geld." Dann hebt er den Daumen. "Die Sowjetunion war großartig. Da gab es ein starkes, gutes Gesetz. Und ohne Stalin würden hier heute die Deutschen kommandieren." Es scheint so, als fehle dem verdienten Fischer Nargali Demeyuw aus Agispe die große Sowjetunion eben noch ein bisschen mehr als der Große Aralsee. "Bringt mich nach Aralsk", bittet er schließlich. Er hat Freunde dort, mit denen will er über die alten Zeiten sprechen.
Aralsk war einmal eine Stadt mit einer großen Fischfabrik, einer großen Bootswerkstatt - und natürlich mit einem großen Hafen. Dort liegen die Nachimow, die Tochtarow, die Akku und die Lew Berg seit mehr als 30 Jahren auf dem Trockenen. 120 Kilometer zog sich das Ufer von Aralsk zurück. Die meisten der jungen Einwohner haben den See nie gesehen. "Wir sind Kinder der Steppe", sagt Serik Duisebajew vom Verein Aral Tenizi, der die Fischer vereint und die Hilfe aus Dänemark koordiniert. Als Serik 1983 geboren wurde, war der See längst ein Phantom. "Ich wusste nicht, ob es den See wirklich gibt." Serik weiß, dass Fremde gerne rührende Geschichten hören, doch mit Liebe zu einem See, den er nicht kennt, kann der junge Mann nicht dienen. Weder glaubt er an Wunder noch wirklich an den Damm. "Der ist schlecht gebaut. Das ist meine persönliche Meinung."
Das mit dem Damm ist eigentlich eine alte Idee. Er soll das Wasser aus dem Syr-Darja im Kleinen Aralsee stauen, Wasser, das sonst auf dem Weg zum auch immer kleiner werdenden Großen Aralsee nur verdampfen würde. Zwei Mal schon ist der Damm errichtet worden, in "Volksbauweise". Zwei Mal wurde er weggespült. Was diesmal, beim ersten professionellen Versuch, nicht passieren werde, wie die Ingenieure versichern. Gut 13 Kilometer ist der Damm lang, auf halbem Wege durchbrochen durch eine Anlage mit neun Schleusen. Eine russische Firma hat das Stauwerk errichtet. 64,5 Millionen Dollar zahlte die Weltbank, 21,3 Millionen die kasachische Regierung. "Die Qualität ist zufriedenstellend", sagt Aituar Tuligbajew, der die Anlage für das Umweltministerium kontrolliert.
Als im August 2005 der Damm fertig war und die Schleusenanlage auch, da geschah etwas, das erst einmal alle freute. Der Kleine Aralsee füllte sich mit Wasser. "Er tat das schneller als gedacht", sagt Tuligbajew. Von 38 auf 42 Meter stieg der Wasserspiegel, der See eroberte schnell altes Terrain zurück - bis auf 40 Kilometer kam er an Aralsk heran. Da der Druck zu stark geworden wäre, mussten die Schleusen geöffnet werden. Durch sie entwich viel Wasser - und viel Fisch.
Daniel Brössler ist Moskau-Korresondent der "Süddeutschen Zeitung"