Wenn man fragt, wie sich der Staat in der OECD-Welt, also in der Welt hochindustrialisierter Staaten, in den vergangenen 30oder 40 Jahren verändert hat, so bietet die politikwissenschaftliche Literatur im Wesentlichen drei Antworten. Erstens: Der Staat ist am Ende. Die Globalisierung des 20. Jahrhunderts überwältigt den Staat; sie greift seine Grenzen an und schwächt ihn. 1 Zweitens: Der Staat lebt munter weiter. Die Globalisierung begleitet den Aufstieg des modernen Staates seit dem 15. Jahrhundert; sie wird vom Staat kontrolliert und stärkt ihn womöglich sogar. 2 Drittens: Es kommt auf den jeweiligen Staat an. Die Globalisierung gibt unterschiedlichen Staaten aufgrund unterschiedlicher Politiktraditionen, Regierungssystemen, Wohlfahrtsregimen, Parteiensystemen und Rechtstraditionen unterschiedliche Probleme auf, legt ihnen unterschiedliche Problemlösungsstrategien nahe und gibt dadurch unterschiedliche Pfade des Staatswandels vor. 3
Keine der drei Antworten ist vollkommen überzeugend. Die Untergangsprognose der ersten Antwort entspricht zwar einem weit verbreiteten Krisengefühl. Bisher gibt es aber keine stichhaltige Evidenz dafür, dass der Staat tatsächlich in irgendeinem Sinne untergeht. Die Kontinuitätsbehauptung der zweiten Antwort erscheint freilich genauso überzogen, denn das Krisengefühl besteht nicht ohne Grund. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass der Staat sich nachhaltig wandelt. Die dritte Antwort stellt dies in Rechnung, beantwortet die Frage nach dem Wandel von Staatlichkeit aber dennoch nur teilweise. Auch wenn sich kein Staat genauso verändert wie ein anderer, können die unterschiedlichen nationalen Wandlungsprozesse dennoch nur als Variationen eines gemeinsamen internationalen Veränderungstrends bewertet werden.
Wir vertreten die These, dass die Staaten in der OECD-Welt tatsächlich einem gemeinsamen Veränderungstrend unterliegen: Staat und Staatlichkeit entwickeln sich auseinander, weil das, was im 20. Jahrhundert weitgehend im Staat konzentriert und vom Staat monopolisiert war, nämlich Staatlichkeit, sich bei Institutionen jenseits des Staates anlagert. Staatlichkeit zerfasert, trotzdem bleibt der Staat zentral. Er ist der Knotenpunkt, der die verschiedenen Fasern von Staatlichkeit zusammenhält. Aber seine Rolle ändert sich. Er wird vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager.
Wir beginnen mit zwei Definitionen. Als Staat bezeichnen wir einen politischen Herrschaftsverband, der darauf spezialisiert ist, für ein bestimmtes Gebiet - das Staatsgebiet - und für eine bestimmte Gruppe von Menschen - die Staatsbürger - die Versorgung mit Kollektivgütern zu sichern. Damit der Staat Herrschaft zum Zwecke der Kollektivgutproduktion ausüben kann, braucht er bestimmte Fähigkeiten, die wir als Staatlichkeit bezeichnen. Staatlichkeit umfasst drei für die effektive Herrschaftsausübung unerlässliche Kompetenzen: - Entscheidungskompetenz, das heißt die Macht, kollektiv-verbindliche Entscheidungen zu treffen; - Organisationskompetenz, also das Vermögen, kollektiv-verbindliche Entscheidungen verlässlich umzusetzen; - Letztverantwortung, das heißt die Fähigkeit, faktische Anerkennung als höchste politische Autorität zu finden, in deren Namen Herrschaft ausgeübt wird, und die die Folgen einer mangelhaften Kollektivgutproduktion zu verantworten hat.
In welchem Verhältnis stehen nun Staat und Staatlichkeit zueinander? Im Idealtyp des nach innen und außen souveränen Staates fallen beide in eins: Der Staat ist im Vollbesitz von Staatlichkeit. Auf seinem Staatsgebiet besitzt er, und nur er allein, die für die Herrschaftsausübung notwendige Entscheidungs- und Organisationskompetenz und trägt die Letztverantwortung für die Kollektivgutproduktion. In der Realität gelingt es Staaten dagegen praktisch nie, Staatlichkeit vollkommen zu monopolisieren. Zerfallende Staaten, die so genannten "failed states", zeigen anschaulich, dass es Staaten mit sehr geringer Staatlichkeit gibt. Und selbst die westlichen Staaten, denen üblicherweise ein hohes Maß an Staatlichkeit zugeschrieben wird, haben diese keineswegs schon immer besessen, sondern erst in einem historischen Prozess mühsam erworben. In diesem - zum Teil seit dem 15. Jahrhundert laufenden - Aneignungsprozess von Staatlichkeit haben sie übergeordnete Herrschaftsinstanzen wie Kaiser oder Papst aus der Letztverantwortung gedrängt, die Entscheidungskompetenzen von Kirche, Adel und Städten beschnitten und Organisationskompetenz an sich gezogen, indem sie beispielsweise private Söldnerheere durch staatlich finanzierte stehende Heere ersetzten, private Steuerpächter durch staatliche Steuerverwaltungen ablösten und private oder kirchliche Karitas durch staatliche Wohlfahrtspflege marginalisierten.
Dieser historische Aneignungsprozess von Staatlichkeit mündete schließlich im "totalen Staat" der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der dem Idealtyp des nach innen und außen vollständig souveränen Herrschaftsmonopolisten zumindest sehr nahe kam. 4 Die weitgehende Verfügung über Letztverantwortung, Entscheidungskompetenz und Organisationsmacht verlieh diesem Staat einerseits ein Destruktionspotenzial, welches gesellschaftliche Katastrophen vom Ausmaß des deutschen Nationalsozialismus, des sowjetischen Kommunismus und der beiden Weltkriege erst ermöglichte, machte ihn andererseits aber auch zum idealen Instrument der demokratischen "Selbsteinwirkung" der Gesellschaft auf sich selbst und befähigte ihn dadurch zu beachtlichen Aufbau- und Befreiungsleistungen. 5 So gelang es den Staaten Westeuropas und Nordamerikas in den 1950er und 1960er Jahren, ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht nur den Frieden zu erhalten und individuelle Freiheit zu garantieren, sondern auch immer mehr soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand zu bieten. Im Rückblick erscheinen diese Jahre deshalb oft als "goldenes Zeitalter" des Staates. 6
Wir behaupten nun, dass der seit der frühen Neuzeit andauernde historische Prozess der Aneignung von Staatlichkeit durch den Staat mit diesem goldenen Zeitalter ausläuft. Die Richtung des Staatswandels ändert sich. Staat und Staatlichkeit entwickeln sich auseinander, sodass der Staat sein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichtes Beinahe-Monopol auf Staatlichkeit schrittweise wieder verliert. Getragen wird dieser Prozess von einer umfassenden Internationalisierung und Privatisierung von Staatlichkeit.
Internationalisierung und Privatisierung von Staatlichkeit bedeutet, dass internationale und private Institutionen eine zunehmend wichtige Rolle für die Herrschaftsausübung spielen. Beide Entwicklungen werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur zwar breit diskutiert, bisher aber weitgehend unabhängig und voneinander isoliert. 7 Hier sollen sie dagegen zusammen analysiert werden, um ihre Wechselwirkungen auf den Staatswandel besser zu verstehen. Beide Entwicklungen werden im Folgenden an einigen markanten Beispielen illustriert. 8
Die Internationalisierung von Staatlichkeit ist besonders auffällig in der Europäischen Union (EU), die sich längst nicht mehr darauf beschränkt, Handelshindernisse zwischen Staaten abzubauen, sondern bis weit ins "Kapillarsystem" der mitgliedstaatlichen Gesellschaften hineinregiert. Verbrecher werden per europäischem Haftbefehl gesucht. Deutschen Frauen wird mit europäischem Gerichtsbeschluss der Zugang zur Bundeswehr eröffnet. Das italienische Glückspiel, der belgische Mehrwertsteuersatz auf Fahrradreparaturen, die Wasserqualität von deutschen Badeseen, das Rauchverhalten in bayrischen Bierzelten - all diese und ähnliche Sachverhalte werden von der EU beobachtet, reguliert und beeinflusst. Aber auch andere internationale Institutionen bestimmen zunehmend mit, wie heute im Nationalstaat regiert wird. Die Vereinten Nationen (UNO) lassen Bankkonten sperren und monieren soziale Ungleichheiten im deutschen Schulwesen. Der internationale Strafgerichtshof (ICC) erlässt Haftbefehl gegen Slobodan Milosevic' und Radovan Karadzic'. Das internationale Klimaschutzprotokoll gibt nationalen Regierungen verbindliche Reduktionspflichten für Kohlendioxidemissionen vor. Die Welthandelsorganisation (WTO) entscheidet, ob europäische Staaten die Vermarktung von amerikanischem "Hormonfleisch" zulassen müssen und welche Steuervergünstigungen die Vereinigten Staaten ihrer Exportindustrie bieten dürfen. Und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beeinflusst durch die PISA-Studie nachhaltig die Agenda der deutschen Bildungspolitik.
Die Privatisierung von Staatlichkeit ist am sichtbarsten im Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge. Der Staat bringt die Post nicht mehr nach Hause, und auch der Lokführer ist in der Regel kein Beamter mehr. Auch die Versorgung mit Gas, Wasser, Elektrizität, Bahnverbindungen, Krankenhäusern, Telefonnetz, Bildung, Autobahnen und Personennahverkehr delegiert der Staat heute zunehmend an private Leistungsanbieter. Die Privatisierung bleibt jedoch nicht auf die Daseinsvorsorge beschränkt. Private Sicherheitsdienste sorgen für öffentliche Sicherheit in Kaufhäusern, Zügen, Großgaststätten und Einkaufspassagen. Militärflugzeuge werden von privaten Tankflugzeugen betankt, die Riester-Rente wird von privaten Versicherungsunternehmen angeboten, universitäre Studiengänge werden von privaten Akkreditierungsagenturen begutachtet und Banknoten sowie Personalausweise von privaten Druckereien hergestellt. Staatliche Beteiligungen an "strategisch" wichtigen Industrien wie Kohle und Stahl, Flugzeugbau oder Banken und Versicherungen werden abgebaut oder ganz aufgelöst, die staatlichen Subventionszahlungen an private Wirtschaftsunternehmen gedrosselt. Und das Internet wird partiell von einer privaten US-Institution namens Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) organisiert.
Die Prozesse der Internationalisierung und Privatisierung bewirken, dass sich neue nicht-staatliche Träger von Staatlichkeit oberhalb und neben dem Staat etablieren: Staatlichkeit zerfasert. Dies bedeutet aber weder, dass die neuen Träger von Staatlichkeit selbst zu Staaten würden, noch, dass der Staat als Träger von Staatlichkeit überflüssig würde.
Die neuen nichtstaatlichen Träger von Staatlichkeit sind aus zwei Gründen nicht mit Staaten zu verwechseln. Erstens nehmen sie Herrschaft nur sektorspezifisch wahr. Im Gegensatz zum Staat, dessen Herrschaftsanspruch sich sektorenübergreifend auf praktisch alle politischen Herrschaftsfelder bezieht, ist der Herrschaftsbereich privater oder internationaler Träger von Staatlichkeit weitgehend begrenzt. Die Telekom und Arcor sind nur für die Kommunikationsdienstleistungen zuständig und nicht für die gesamte Daseinsfürsorge. Toll-Collect zieht nur die Autobahngebühren ein und nicht die gesamten Steuern. Die WTO kümmert sich nur um den internationalen Handel, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur um Gesundheitsfragen und ICANN nur um die Internetregulierung. Und selbst die EU oder die UNO besitzen trotz ihrer umfassenden Mandate nicht die prinzipielle Allzuständigkeit eines Staates. Dazu kommt zweitens, dass dienichtstaatlichen Träger von Staatlichkeit Herrschaft nur funktionsspezifisch wahrnehmen. Im Gegensatz zum Nationalstaat, der im Prinzip alle drei Herrschaftskomponenten von Staatlichkeit - Entscheidungskompetenz, Organisationskompetenz und Letztverantwortung - gleichzeitig besitzt, verfügen nichtstaatliche Instanzen in der Regel nur über eine dieser Herrschaftskomponenten. Staatlichkeit wird im Zuge der Internationalisierung und Privatisierung nämlich nicht en bloc auf internationale oder private Träger verteilt, sondern nach Einzelkompetenzen getrennt: Internationale Institutionen erhalten wichtige Entscheidungs-, aber kaum Organisationskompetenzen, wohingegen private Instanzen genau umgekehrt wichtige Organisationskompetenzen zugewiesen bekommen, aber kaum Entscheidungskompetenzen erhalten. Die Letztverantwortung schließlich wird weder internationalisiert noch privatisiert, sondern bleibt ungeteilt beim Staat. Das Ergebnis dieser gegenläufigen Bewegungen ist die Zerfaserung von Staatlichkeit (vgl. das Schaubild).
Charakteristisch für diese Zerfaserung ist zum einen, dass die Internationalisierung vornehmlich auf Entscheidungskompetenz beschränkt bleibt. Internationale Institutionen strukturieren zunehmend vor, was vom Staat wie entschieden wird oder entscheiden gleich am Staat vorbei. Zum Teil beschränken sie die nationalen Entscheidungsspielräume ganz direkt, indem z.B. die WTO oder die EU genaue Vorschriften zur Liberalisierung der internationalen Handelsbeziehungen festsetzen, die UNO eine Liste illegaler, strafrechtlich zu ahndender Drogen verabschiedet oder die International Standards Organization (ISO) technische Standards verabschiedet, die formal zwar unverbindlich, de facto aber kaum zu ignorieren sind. Zum Teil beeinflussen internationale Institutionen die nationale Entscheidungsfindung aber auch indirekt, indem etwa die OECD durch Bildungsvergleichsstudien (PISA) nationale Regierungen unter bildungspolitischen Reformdruck setzt oder die Liberalisierungsnormen von WTO und EU einen zwischenstaatlichen Standortwettbewerb befördern, der die Regierungen zu wettbewerbskonformer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zwingt. Durch welchen Kanal auch immer der internationale Einfluss wirksam wird, er bleibt weitgehend auf die Entscheidungskompetenz beschränkt. Internationale Institutionen besitzen in der Regel nicht die Organisationskompetenz, um kollektiv-verbindliche Entscheidungen selbst zu implementieren. Sie können weder selber Steuern erheben noch Schulen betreiben oder Drogendealer jagen. Sie stehen auch nicht in der Letztverantwortung für die Entscheidungsfolgen. Steuern, Schulen oder die Polizei werden weiterhin im Namen des Staates erhoben, unterhalten und betrieben. Und wenn etwas nicht gelingt, der internationale Drogenhandel überhand zu nehmen droht, das Schulsystem als ungenügend empfunden wird oder die Steuern als ungerecht, dann bleibt die Schuld am Staat hängen - und zwar selbst dann, wenn diese den Entscheidungsvorgaben internationaler Institutionen geschuldet ist.
Bezeichnend für die Zerfaserung ist zum anderen, dass die Privatisierung vornehmlichauf die Organisationskompetenz begrenzt bleibt. Private Instanzen werden zunehmend in die Implementation kollektiv-verbindlicher Entscheidungen eingebunden. Dies geschieht zum Teil, indem der Staat ursprünglich von ihm selbst wahrgenommene Aufgaben wie die Flugsicherung, den Hafenbetrieb, die Telekommunikation oder die Gasversorgung an private Träger veräußert, welche die Organisation dann weitgehend allein übernehmen. Teilweise überlässt er neue Aufgaben wie die Erhebung der Straßenmaut oder den Aufbau einer kapitalgedeckten Säule der Rentenversicherung gleich von Anfang an privaten Akteuren. Zum Teil nimmt er Aufgaben wie die Müllabfuhr, die Gefängnisaufsicht oder die Finanzierung und Instandhaltung von Schulgebäuden gemeinsam mit privaten Unternehmen wahr (public-private partnership). Der Einfluss der privaten Akteure bleibt aber jeweils auf die Implementation beschränkt und erstreckt sich nicht auf die umzusetzenden kollektiv-verbindlichen Entscheidungen selbst. Diese verbleiben inder Entscheidungskompetenz des Staates. Der Staat - und nicht die privaten Versicherungen, die solche Produkte vertreiben - bestimmt, welchen Mindestanforderungen Riester-Rentenprodukte genügen müssen. Er bestimmt zumindest mittelbar, zu welchem Preis die Bahn oder die Telekom ihren Konkurrenten Zugang zu ihrem Schienen- bzw. Festnetz eröffnen müssen, nicht diese Unternehmen selbst. Auch die Letztverantwortung bleibt beim Staat. Wenn es Toll-Collect nicht gelingt, seine On-Board Units effektiv in Betrieb zu nehmen oder die Bahn den Zeittakt im Kommunalverkehr heraufsetzt, dann steht der Staat in der Schusslinie. Auch dort, wo der Staat die Daseinsvorsorge nicht mehr selbst organisiert, bleibt er für deren angemessene Gewährleistung letztendlich verantwortlich. 9
Im Zuge der Internationalisierung und Privatisierung gewinnen internationale Institutionen und private Leistungsanbieter Entscheidungs- bzw. Organisationskompetenz. Diese "Staatlichkeitsgewinne" nichtstaatlicher Instanzen schlagen sich aber kaum in "Staatlichkeitsverlusten" des Staates nieder. Der Staat verfügt nach wie vor über eine riesige Entscheidungs- und Organisationsmaschinerie, die, nimmt man die Staatsquote zum Maßstab, im OECD-Durchschnitt zwischen 1970 und 2005 sogar noch einmal deutlich gewachsen ist. Und auch als Träger von Letztverantwortung gibt es bisher keine Alternative zum Staat. Trotz Internationalisierung und Privatisierung bleibt der Staat die zentrale Herrschaftsinstitution. Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens, Unvollständigkeit: Die Prozesse der Internationalisierung und Privatisierung sind unvollständig insofern, als sie sich, wie eben erläutert, nur sektorspezifisch vollziehen. Die sektorale Beschränkung hat zur Folge, dass bestimmte Politikbereiche weitgehend ausgespart bleiben. So sind beispielsweise sozialpolitische Entscheidungskompetenzen bisher kaum europäisiert, geschweige denn internationalisiert worden. Die nationale Sozialpolitik unterliegt zwar indirekten Einflüssen wie dem internationalen Standortwettbewerb oder den Wettbewerbsfähigkeitsrankings internationaler Organisationen. Insgesamt bleibt die internationale Einhegung nationaler Entscheidungskompetenz in diesem Bereich aber schwach. Ähnliches gilt für die Privatisierung im Bereich der Armee oder der Steuerverwaltung. Wo sie überhaupt stattfindet, bleibt sie auf Randaspekte beschränkt. Die zentralen Organisationskompetenzen behält in diesen Feldern der Staat.
Zweitens, Komplementarität: Die funktionale Beschränkung von Internationalisierung und Privatisierung bedeutet, dass internationale oder private Herrschaftsträger nur dann effektiv sein können, wenn der Staat die dazu notwendigen Komplementärfunktionen zur Verfügung stellt. Da internationale Institutionen in der Regel reine Entscheidungsmaschinen sind, bleiben sie zur Implementation oftmals auf staatliche Organisationskompetenz angewiesen. So können beispielsweise die WTO-Regeln zum Schutz geistigen Eigentums nur wirksam werden, wenn die Mitgliedstaaten entsprechende innerstaatliche Kontrollregime aufbauen. Kurz, der Staat muss Organisationskompetenz vorhalten oder sogar ganz neu entwickeln, damit internationale Entscheidungskompetenz wirksam werden kann. Umgekehrt sind private Leistungsträger reine Implementationsmaschinen, die auf einen staatlichen Entscheidungsrahmen angewiesen sind, der die von ihnen zu erbringenden Kollektivgüter definiert und ihnen dafür ausreichende Renditechancen garantiert. Die Privatisierung von Organisationskompetenz erhöht deshalb die Anforderungen an die staatliche Entscheidungskompetenz. Die Liberalisierung der Telekommunikation zwingt den Staat beispielsweise, zu entscheiden, welche Telekommunikationsdienstleistung er überhaupt als Teil der Daseinsvorsorge anerkennen will, zu welchen Bedingungen diese Leistungen angeboten werden sollen bzw. wie er den Wettbewerb zwischen konkurrierenden Leistungsanbietern steuern und kontrollieren will. Mit anderen Worten: Der Staat muss Entscheidungskompetenz ausbauen, um die Privatisierung von Organisationskompetenz zu ermöglichen.
Drittens, Komplexität: Selbst dort, wo staatliche und nichtstaatliche Stellen dieselben Kompetenzen wahrnehmen, ist ihr Verhältnis komplex und nicht substitutiv. Die Entscheidungen internationaler Institutionen machen zwar manche nationale Entscheidung überflüssig und höhlen dadurch staatliche Entscheidungskompetenz aus. Wenn beispielsweise die EU Minimalanforderungen an die Wasserqualität von Badegewässern verbindlich vorschreibt, bleibt für die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht weniger zu entscheiden übrig. Dafür werden aber andere staatliche Entscheidungen erst durch die Internationalisierung erforderlich. 10 So müssen Regierungen entscheiden, wie sie auf die Entscheidungen internationaler Institutionen einwirken bzw. auf diese reagieren wollen. Wie soll die Bundesregierung die Klimapolitik der EU beeinflussen, durch Drohung, Anreize oder Überzeugen?
Wie soll sie auf die Feinstaubrichtlinie der EU oder die PISA-Studie der OECD reagieren? Auch private Organisationskompetenz ist kein reines Substitut für staatliche Organisationskompetenz, sondern setzt diese zum Teil sogar voraus. 11 Wenn der Staat bestimmte Implementationsaufgaben privaten Trägern überlässt, muss er die dafür notwendige Organisationskompetenz zwar nicht mehr selber vorhalten: Liegt der Betrieb von Telekommunikationsnetzen in privater Hand, braucht der Staat keine eigenen Fernmeldetechniker mehr. Gleichzeitig wachsen dem Staat mit der Privatisierung aber auch neue Implementationsaufgaben zu. Denn die Regulierung und Steuerung privatisierter Telekommunikationsmärkte ist selbst ein Organisationsproblem, zu dessen Lösung der Staat neue Organisationskompetenz etwa in Gestalt unabhängiger Regulierungsbehörden mit entsprechend geschultem Personal aufbauen muss.
Unvollständigkeit, Komplementarität und Komplexität erhalten dem Staat eine zentrale Herrschaftsrolle. Die Zentralität des Staates beruht aber immer weniger auf der monopolartigen Verfügung über Entscheidungs- und Organisationskompetenz, sondern zunehmend mehr auf seiner besonderen Fähigkeit, die disparaten, sektoral und funktional beschränkten Entscheidungs- und Organisationsakte internationaler und privater Institutionen zu integrieren, zu koordinieren und in Wirkung zu setzen. Der Staat mutiert vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager. Er kann immer weniger allein. Aber er allein hält das Herrschaftsgeflecht zusammen und bleibt deshalb in der Letztverantwortung für die Versorgung mit Kollektivgütern auf seinem Staatsgebiet und für seine Staatsbürger.
Der Verbleib der Letztverantwortung beim Staat ist prekär, weil sie ihn zunehmend dem Risiko aussetzt, für Mängel in der Kollektivgüterversorgung zur Verantwortung gezogen zu werden, die durch internationale Institutionen oder private Leistungsanbieter zumindest mitverursacht worden sind. Dieses Risiko bietet aber auch Chancen, weil der Staat mit Hilfe internationaler und privater Akteure Kollektivgüter bereitstellen kann, die er allein auf sich gestellt kaum produzieren könnte. Internationale Institutionen können ihm helfen, grenzüberschreitende Gefährdungen wie den Klimawandel, den internationalen Terrorismus oder die Verbreitung der Vogelgrippe besser abzuwehren und grenzüberschreitende Chancen wie Freihandel, internationalen Wissensaustausch oder Ferntourismus effektiver zu nutzen. Die Privatisierung entlastet ihn von fiskalischem Druck und kann die Effizienz der Kollektivgüterproduktion erhöhen, z.B. weil transnational tätige Leistungsanbieter für einen größeren Markt und damit kostengünstiger als rein national tätige Staatsverwaltungen produzieren können oder der Preiswettbewerb zwischen verschiedenen Leistungsanbietern die Preise senkt. Manches, wofür der Staat heute in der Letztverantwortung steht, kann er überhaupt nur erreichen, weil er Herrschaft mit privaten und internationalen Instanzen teilt. Der Staat als Herrschaftsmanager ist heute deshalb nicht unbedingt schwächer, als der Staat als Herrschaftsmonopolist es im goldenen Zeitalter war. Aber seine Rolle ist eine andere.
Wie gezeigt, wird die Zerfaserung des Staates durch Prozesse der Internationalisierung und Privatisierung von Staatlichkeit verursacht. Dabei werden Entscheidungskompetenzen internationalisiert, aber kaum privatisiert, Organisationskompetenzen privatisiert, aber selten internationalisiert, und die Letztverantwortung verbleibt ganz beim Staat. Durch die Zerfaserung entsteht ein komplexes Geflecht von Herrschaftsstrukturen, in denen Kollektivgüter produziert werden. Der Staat ist in diesem Geflecht nur noch einer von vielen Herrschaftsträgern. Er übt Herrschaft oft nicht mehr allein und unmittelbar aus, sondern koordiniert, integriert, initiiert und ergänzt die Herrschaftsausübung anderer nichtstaatlicher Herrschaftsträger. Der Staat verliert Autonomie an diese neuen nichtstaatlichen Herrschaftsträger und wird insofern schwächer. Aber er gewinnt zugleich auch Einfluss auf sie, kann sie als Herrschaftsressource nutzen und wird dadurch stärker. Der Staat bleibt zentral, mutiert aber vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager.
Die Zerfaserung betrifft alle OECD-Staaten, aber nicht alle in gleicher Weise. Konvergenz ist deshalb nicht unbedingt zu erwarten. Zwischenstaatliche Unterschiede können trotz allgegenwärtiger Zerfaserung bestehen bleiben, weil Staatlichkeit nicht überall mit derselben Intensität internationalisiert und privatisiert wird. In der EU ist die Intensität offensichtlich sehr hoch, weil die EU-Institutionen im Zeitverlauf sehr weitreichende Entscheidungskompetenzen übertragen bekommen haben und viele Mitgliedstaaten mit sehr großen öffentlichen Sektoren in den Privatisierungsprozess eingetreten sind. In den Vereinigten Staaten ist die Intensität dagegen niedrig, weil der öffentliche Sektor von jeher klein ist und das Land als letzte verbliebene Supermacht weit weniger an internationale Institutionen und deren Entscheidungsvorgaben gebunden ist als andere Staaten. Dies ändert aber nichts daran, dass der Veränderungstrend hier wie dort derselbe ist: In den Vereinigten Staaten und der EU entwickelt sich der Staat tendenziell vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager. Zwischenstaatliche Unterschiede können aber auch deshalb bestehen bleiben, weil unterschiedliche Staaten ihre Rolle als Herrschaftsmanager unterschiedlich interpretieren, also die von der Unvollständigkeit der Internationalisierung und Privatisierung gelassenen Spielräume unterschiedlich nutzen oder die funktional beschränkten Herrschaftsakte internationaler Institutionen und privater Akteure unterschiedlich kombinieren, koordinieren und synthetisieren. Institutionelle Unterschiede, Policy-Unterschiede oder Unterschiede im Kollektivgutangebot bleiben nicht nur trotz Zerfaserung bestehen, sondern werden zum Teil erst durch diese hervorgebracht.
1 Vgl. z.B.
Jean-Marie Guéhenno, Das Ende der Demokratie, München
1994.
2 Vgl. Stephen D. Krasner, Sovereignty.
Organized Hypocrisy, Princeton 1999.
3 Vgl. Fritz W. Scharpf/Vivien A.
Schmidt, Welfare and Work in the Open Economy, Oxford 2000.
4 Zum Begriff "totaler Staat" und der
hier skizzierten historischen Entwicklung vgl. Wolfgang Reinhard,
Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende
Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur
Gegenwart, München 1999.
5 Vgl. Jürgen Habermas, Die
postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998,
S. 98.
6 Vgl. Stephan Leibfried/Michael
Zürn, Transformationen des Staates, Frankfurt/M. 2006, S.
34.
7 Für die Internationalisierung
vgl. z.B. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats,
Frankfurt/M. 1998, oder die Beiträge in: Edgar Grande/Louis W.
Pauly (Eds.), Complex Sovereignty, Toronto 2005. Für die
Privatisierung vgl. Volker Schneider/Marc Tenbrücken (Hrsg.),
Der Staat auf dem Rückzug. Die Privatisierung
öffentlicher Infrastrukturen, Frankfurt/M. 2004, und die
Beiträge in Jonah D. Levy, The State After Statism. New State
Activities in the Age of Liberalization, Cambridge, (MA)
2006.
8 Hier und im Folgenden rekurrieren wir
insbesondere auf die Beiträge in: S. Leibfried/M. Zürn
(Anm. 6) und Achim Hurrelmann u.a. (Eds.), Transforming the Golden
Age Nation State, Basingstoke 2007.
9 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Der
Gewährleistungsstaat. Ein Leitbild auf dem Prüfstand,
Baden-Baden 2005.
10 Vgl. Renate Mayntz, Die
Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten der
Globalisierung, in: Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hrsg.), Staat
ohne Verantwortung? Zum Wandel der Aufgaben von Staat und Politik,
Frankfurt/M. 2007.
11 Vgl. J. D. Levy (Anm. 7).