MODeRNE VÖLKERWANDERUNG
Von Spaziergängern und anderen Reisenden
Wir sollten es einfach lassen. Alle wissen, dass es schädlich ist, dass wir mit offenen Augen in die ökologische Katastrophe steuern. Und doch tun wir es, mit einer Besessenheit, die ihresgleichen sucht. Eine Art Hysterie hat die Menschen hierzulande ergriffen, die Reisehysterie. Wem vor 20 Jahren angesichts einer zehntägigen Fernostreise noch die Schamesröte ins Gesicht stieg, ist sich heute keiner Schuld mehr bewusst. Gereist wird ohne Sinn und Verstand, die Reisen dienen meist einem einzigen Zweck: der Selbstverwirklichung.
Der Wahnsinn hat schleichend begonnen und ob der Höhepunkt erreicht ist, bleibt ungewiss. Der Mensch, der europäische Mensch zumal, glaubt felsenfest, dass er ein fundamentales Recht auf Glück hat. Nicht dass er sich nach zarten Glücksmomenten sehnt, nein, es ist diese Vorstellung der dauerhaften, unbedingten, individuellen Entfaltung, die zu einer gesellschaftlichen Obsession geworden ist. Und dazu gehört ganz vorne das Recht auf freie Fahrt wohin auch immer, mit welchen Transportmitteln auch immer, und das Ganze bitte billig. Von individuellem Glück bleibt da nicht viel übrig, vielmehr ist es das Herdentum, das regiert. Oder, um die sarkastische Bemerkung des Schriftstellers und Welterforschers Hubert Fichte zu zitieren: "Ich liebe den Tourismus, er ersetzt die Völkerwanderung."
Denjenigen, denen eine Reise wirklich zustünde, die sie unbedingt in Angriff nehmen müssen, arme Menschen aus armen Ländern nämlich, auf der Suche nach einer würdigeren Existenz, denen wird sie verboten. Sie werden von elektrischen Zäunen aufgehalten, aus den Meeren gefischt und zurück verfrachtet, am besten zu so diskreter Stunde, dass der gemeine Tourist die Elenden nicht bemerkt.
Uns allen jedoch, die wir den Zug in die Ferne aus purer Lust tun, steht jede Möglichkeit offen. Gerne reisen wir zu romantischen Zwecken auf die Malediven, direkt vom Traualtar ins Inselparadies; in unmittelbarer Nähe werden Menschen gefoltert, jeder könnte sich darüber informieren, dass dies Paradies eine Hölle ist, nur kaum einer tut es. Denn, und das ist das Verkommene an der Situation, der Tourist wünscht zwar Differenz zum Heimatlichen, aber nur in überschaubarem Maß. Also nicht zu weit eintauchen in das Andere, ein wenig Pittoreskes darf sein, ein Esel auf steiniger Weide, ein paar eigenwillig gewandete Kellner, das ja, aber gerne mit vertraut gekühlter Cola. Denn die Beschäftigung mit dem Fremden ist anstrengend, aufwühlend und manchmal gar gefährlich. Sowohl für das Andere als auch für einen selbst. Zu schön wäre es, wenn das Fremde so bleiben dürfte, wie es ist. Doch wir haben den Drang es zu verändern, es uns anzupassen. Wir überwölben die Welt mit unseren Idealen. Denn wir sind ja die, die reisen und von den anderen einfordern, wie es zu sein habe, das Leben. Wer einmal auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) beobachten konnte, wie eine wenig bekleidete afrikanische Gruppe in den klimatisierten Messehallen kultische Tänze vorführt, beklatscht von Bockwurst essenden Besuchern, dem wird angesichts der entwürdigenden Situation und des Ausverkaufs einer Kultur schon traurig ums Gemüt.
Das ist nicht erst heute so. "Wahrlich, wenn die Wissenschaft und Gelehrsamkeit einzelner Menschen auf Kosten der Glückseligkeit ganzer Nationen erkauft werden muss, so wäre es für die Entdecker und Entdeckten besser, dass die Südsee den unruhigen Europäern ewig unbekannt geblieben wäre", schrieb schon der Begleiter von James Cook, der Naturforscher, Revolutionär und Schriftsteller Georg Forster, im Jahr 1780.
Natürlich gibt es sie noch immer, die Menschen, die sich aufmachen, die Welt zu entdecken, sich am Unverständlichen zu berauschen, es anzunehmen als das, was einem selber fehlt, es zu drehen und zu wenden. Zu beobachten. Versuchen zu verstehen. Nur wird diese Art der Weltbetrachtung immer schwieriger, denn je ähnlicher sich alles wird, je geringer die Differenzen zwischen Hongkong, Hanoi, Helsinki, Hohenschönhausen, Hamburg werden, desto genauer muss man hinschauen, desto tiefer muss man eindringen in die Kulturen, desto mehr muss man sich entfernen von der Sicherheit, die uns überall hin begleitet, der elektronischen, der konsularischen, der medizinischen. Nur haben die Menschen dafür so schrecklich wenig Zeit. Und belassen es bei dem Kurztrip in vertraute Gebiete, wo sie nicht viel riskieren.
"In einem fort durch ein und dieselben Straßen gehen zu müssen, lässt das Herz herzlos, den Menschen alltagsmenschenmäßig werden", schrieb der Schweizer Dichter Robert Walser in einem seiner Mikrogramme.
Und das ist die andere Seite, jene, die uns antreibt. Die Sehnsucht, die in uns allen steckt, die Neugierde, die Freude an der Abwechslung, das Entfliehen der nicht nur für das Herz, sondern vor allem für den Geist tödlichen Routine. Immer mehr Regeln werden über uns geschüttet - Hunde werden an Leinen gezwungen, Kinder in Kindersitze gequetscht, Rauchen darf man nur vor der Tür, Grillen keinesfalls in der Grünanlage -, vernünftige Regeln, gewiss, und doch lassen sie uns die Enge spüren, der wir durch allerlei Maßnahmen, zum Beispiel durch Reisen, zu entfliehen suchen. Da draußen ist die Welt groß und weit und frei, das ahnen wir, haben es gelesen und gehört, da müssen wir hin. So fliegen wir immer schneller und häufiger, suchen unser kleines Glück und beharren auf dem Recht, uns selbst zu verwirklichen, und sind untröstlich, wenn wir es wieder nicht geschafft haben.
Robert Walser hat seine Freiheiten gefunden, im Schreiben, vor allem aber im Gehen. Stundenlange Spaziergänge durch Berner und Appenzeller Landschaften hat er gemacht, im Schnee stapfend, Orte querend, immer weiter, bescheidene Reisen, die heute kaum der Rede wert wären, wo doch gleich hinter Gate 60A die Karibik liegt.
"Im April 1801 reiste Kleist nach Paris. Was er wohl damit bezweckte? Was trieb ihn dorthin? Er war 23 Jahre alt, und es dämmerte ihm eben auf, er könnte Dichter werden. Nein, nicht nur könnte, sondern müsste! Er weiß, dass er das muss, und reist deshalb. Schlägt ein Amt aus und reist. Seine Bekannten fragen ihn immer, was er eigentlich im Leben vorhabe, ob nicht dies und das günstig für ihn sei. Solches mag und will er nicht mehr hören. All dies Private, Egoistische presst, drückt ihn, kurz, er will den lähmenden, engen, kleinen Dingen entfliehen, und daher reist er." Diese Sätze schrieb Walser in einer Reflexion über das Reisen. Heinrich von Kleists Erwartungen an Paris wurden enttäuscht, er zog weiter. Profundes Reisen kann erhellend sein und die Enge war offensichtlich schon vor 200 Jahren ein Problem. Robert Walser übrigens starb am Weihnachtsfeiertag 1956 auf einer seiner geliebten Wanderungen durch den Schnee.
Soll dies nun ein Plädoyer für den Spaziergang und gegen die Fernreise sein? Vielleicht, ein wenig. Auf alle Fälle eines gegen die Hektik, die dem Reisen jegliche Tiefe genommen hat. Denn es gibt sie, die Momente, die einen den Atem anhalten und einen ganz klein werden lassen angesichts der Größe und Schönheit der Welt. Jeder kennt sie. Momente, wie jener spätnachts in Istanbul, wenn die Stadt tatsächlich einmal ruhig ist und nur die Möwen um die beleuchteten Minarette kreisen, wenn der Flügelschlag der Tiere hörbar ist und die Erhabenheit von menschlichem Schaffen und Natur sich zu vereinigen scheinen. Oder jener Augenblick, auf einem kargen Hügel im südlichsten Afrika, den indischen Ozean hinter sich wissend, nach Norden blickend, die Steppe vor sich und diesen riesigen Kontinent, auf dem alles begann, von dem wir stammen; ein Moment, der einen in Sekundenschnelle spüren lässt, wie großartig das ist, was uns umgibt und wie unendlich marginal wir selber sind. Gefühle, die es eben nur auf Reisen gibt, weil wir dort roh sind, offen und ganz nackt.