Ein Ruf, der in Diskussionen über den derzeit als desolat empfundenen Zustand der islamischen Welt oft ergeht, ist der nach einer "Aufklärung", einer radikalen Veränderung, die eine Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft mit sich bringt. Wie aber ist es um dieses Verhältnis in der islamischen Religion eigentlich bestellt? Welche Konzepte verbergen sich hinter den Begriffen "Glaube" und "Vernunft" in der islamischen Theologie? 1 Da es sich bei der Rolle der Vernunft im Islam und ihrem Verhältnis zu Glaube und Wissen um sehr vielschichtige Probleme handelt, bedarf es hier einer breit angelegten Einführung in die islamische Geistesgeschichte der Frühzeit.
Als Muhammad, nach islamischer Tradition der letzte Prophet, im Jahr 632 christlicher Zeitrechnung starb, galt die Offenbarung als abgeschlossen. Die letzte Sure des Korans war offenbart, und die sunna, das Vorbild des Propheten, war mit dessen Tod ebenfalls zu einem Ende gelangt. Mit dem Versiegen der Quellen trat die islamische Religion in eine neue Phase ein: Die Phase der Kanonisierung und Systematisierung. Etliche Entwicklungen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Erst im Verlauf der ersten beiden Jahrhunderte islamischer Zeitrechnung (d.h. im siebten und achten Jahrhundert nach Christi Geburt) wurden die zentralen Quellen in ihrer heute gültigen Fassung zusammengestellt.
Der Text des Korans selbst soll nach traditioneller islamischer Ansicht unter dem dritten Kalifen, 'Ut-mān (23 - 35 bzw. 644 - 655), in kanonischer Form festgelegt worden sein, vermutlich aber erst im frühen achten Jahrhundert. Die Kompilatoren der sechs großen sunnitischen Sammlungen von ah. ādĪt- (Plural von h.adĪt- = Berichte über Aussagen und Handlungen des Propheten) wirkten während des dritten islamischen, d.h. des neunten christlichen Jahrhunderts.
Viele Lehren, Gesetze und Interpretationen entwickelten sich erst mit der Zeit. Zwar waren die Offenbarung und das Beispiel des Propheten Muhammad offensichtliche Quellen muslimischen Glaubens und Lebens, aber wer hatte das Recht, diese Quellen zu interpretieren, mit welchen Mitteln und was folgte daraus? Ein wichtiger Unterschied zum Christentum ist hierbei die Abwesenheit von Institutionen, denen alle Gläubigen unterstehen und die über diese Fragen von rechtem Glauben und Handeln entscheiden. Freilich gab und gibt es in der islamischen Welt einflussreiche Gelehrte, an deren Meinungen sich viele Gläubige orientieren, doch ist ihre Autorität nicht unbedingt bindend. Ein wichtiger Grund, warum es heute so viele gegensätzliche Interpretationen des Islam gibt, ist die Möglichkeit jedes Gläubigen, sich das für die Auslegung der religiösen Quellen notwendige Wissen selbst anzueignen. Liberale Reformer sind daher eine genauso authentische Erscheinungsform des Islam wie radikale Fundamentalisten.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Christentum ist, dass die Muslime sehr früh, schon zu Lebzeiten des Propheten, erhebliche militärische und politische Erfolge erzielten. Diese brachten Machtverteilungsprobleme mit sich, in deren Zusammenhang eine Regulierung der Deutungshoheit der religiösen Quellen von entscheidender Bedeutung war. 2 Während einige Muslime eine privilegierte Position für die Rechtsgelehrten einforderten, griffen andere bevorzugt auf die Vernunft als individuelles Erkenntnismittel zurück. Dies erlaubte es zum Beispiel Herrschern, sich auf ihre eigene Interpretation der religiösen Texte zu berufen, wie weiter unten am Beispiel des Kalifen al-Ma'mūn gezeigt wird.
In vielen Fällen lassen sich die Wurzeln für die divergierenden Lesarten der islamischen Lehre in der Gegenwart in Entwicklungen finden, deren erste Weichenstellungen in den religiösen und politischen Konflikten der islamischen Frühzeit liegen und die einen weiten Orientierungsspielraum für sehr unterschiedliche Grundüberzeugungen ließen. In diesen ersten zwei, drei Jahrhunderten sind nicht nur die kanonischen Quellen und dogmatischen Grundlagen festgelegt worden - wir finden hier das, was sich als islamische Theologie bezeichnen lassen kann. 3
Prinzipiell kann also festgehalten werden, dass viele Autoren des klassischen Islam der Vernunft bzw. dem rationalen Wissen in der Religion eine große Bedeutung beimaßen. Die Vernunft ('aql) wurde dem Menschen von Gott mit der Maßgabe gegeben, sie zu verwenden. So heißt es etwa in der 38. Sure des Koran: "(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den Menschen verkündet), damit sie sich über seine Verse Gedanken machen, und damit diejenigen, die Verstand haben, sich mahnen lassen." (Vers 29, Übersetzung Rudi Paret)
An dieser und anderen Stellen im Koran wird betont, die Funktion der Offenbarung sei es, den Menschen die göttliche Wahrheit erkennen zu lassen. Manche haben dies als spirituelles Erkennen gedeutet, viele andere jedoch als rationale Einsicht. Uneins waren sich die Gelehrten hinsichtlich der Frage, auf welche Gebiete die menschliche Vernunft nicht zugreifen konnte und wo der Mensch sich lieber auf die Offenbarung bzw. Überlieferung (naql) stützen sollte, ohne weiter nachzufragen. Dieses Problem lässt sich in unterschiedlichen Disziplinen der islamischen religiösen Wissenschaften finden.
Der Islam wird häufig als Orthopraxie beschrieben, in der das richtige Handeln im Mittelpunkt steht, im Unterschied zum Christentum, das durch eine Orthodoxie gekennzeichnet sein soll, in der es auf die richtige Lehre ankommt - eine Beschreibung, die nicht unberechtigt ist. Für einen gläubigen Muslim ist die Teilnahme am Leben in einem islamischen Gemeinwesen beispielsweise von großer Bedeutung, ebenso die Erfüllung der Rituale. Insbesondere aber kommt der Rechtswissenschaft (fiqh) eine zentrale Rolle zu, bei rituellen Fragen ebenso wie bei Problemen des täglichen Lebens, der öffentlichen Ordnung und bei solchen politischer Autorität. Das islamische Gesetz (sarĪ'a) haben wir uns dabei als lebendige Praxis vorzustellen, nicht als kodifizierten Gesetzestext. Aufgrund der enormen Bedeutung der Rechtswissenschaft innerhalb der islamischen Religion ist diese ein wichtiger erster Anhaltspunkt für die Rolle der Vernunft. Die entscheidende Frage lautet hier: Auf welche Quellen stützt sich die Rechtswissenschaft und mit welchen Mitteln interpretiert sie diese?
Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechtsschulen (mad_āhib), deren Entstehung auf das dritte/neunte Jahrhundert zurückgeht und die sich vor allem durch ihre Methoden unterscheiden sowie dadurch, welchen Quellen sie welche Bedeutung zumessen. Für alle vier Schulen sind der Koran und die sunna die wichtigsten Quellen. Die Malikiten orientieren sich zudem stark an der Rechtspraxis in Medina, wo sich die historischen Umstände der Prophetenzeit am besten erhalten haben sollen. Die Hanafiten stehen im Ruf, die liberalste Schule zu sein. Für sie ist das individuelle Bemühen bei der Rechtsfindung (iğtihād) von großer Bedeutung. 4 Die Schafiiten sind in dieser Hinsicht "konservativer", und die Hanbaliten schließlich halten sich am stärksten an eine wörtliche Auslegung der Quellen und gelten als die konservativste aller Gruppen. Methodenkonservatismus geht dabei mit einer konservativen Moral oft Hand in Hand, jedoch nicht immer.
Selbst bei denjenigen Juristen, die dem Gebrauch der Vernunft gegenüber aufgeschlossen waren, lässt sich jedoch erkennen, dass sich hinter der Vernunft in der klassischen islamischen Tradition nicht das Konzept einer autonomen Instanz verbirgt, das uns heute so selbstverständlich ist. Für einen modernen Betrachter steht die Vernunft hier eindeutig im Dienst einer autoritätsgestützten religiösen Wahrheit.
In gewisser Weise mit den Grundlagen des Rechts verwandt sind die us. u¯l ad-dĪn, die Grundlagen oder Wurzeln der Religion. Ein weiterer Grund, warum es heißt, der Islam sei vorwiegend eine Orthopraxie und keine Orthodoxie, ist, dass es keine Theologie im Sinne einer Dogmenwissenschaft wie im Katholizismus gibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine systematische Wissenschaft von Gott oder keine klaren Minimalanforderungen an den Glauben eines Muslims gäbe, deren Details intensiv diskutiert wurden. Mit den us. u¯l ad-dĪn können solche Minimalanforderungen gemeint sein, von denen auch als 'aqā'id ("Glaubenssätze") die Rede ist. Wir haben es hier mit folgenden Lehren zu tun: - Das islamische Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist Sein Prophet. - Die Endlichkeit der Welt: Dass die Welt einen Anfang und ein Ende hat, ist nach islamischer Tradition eine der großen Neuerungen gegenüber den Vorstellungen der vor-islamischen beduinischen Araber. Dasselbe trifft zu auf: - Die Geschaffenheit der Welt durch Gott. - Mit dem Ende der Welt gehen die körperliche Auferstehung aller Menschen, ihr Urteil und ihr ewiger Verbleib in Paradies oder Hölle einher. Hier werden auch die politischen Implikationen islamischer Theologie offenbar, etwa in der Frage, ob man zur ewigen Hölle verdammte Sünder schon in dieser Welt erkennen kann und welche Konsequenzen dies hat, z.B. ob diese überhaupt noch als Muslime bezeichnet werden können. - Andere Fragen betreffen die Theodizee (der mögliche Konflikt zwischen Gottes Allmacht und Gerechtigkeit) und die politische Ordnung der islamischen Gesellschaft, vor allem aber die Attribute Gottes und das Verhältnis zu seiner Schöpfung.
Von allen Muslimen wird ein Bekenntnis zu diesen Glaubenssätzen verlangt. Die Meinungen gehen jedoch auseinander bei der Frage, welche Anforderungen dieses Bekenntnis zu erfüllen hat. Reicht etwa ein innerliches Bekenntnis "mit dem Herzen", oder ist auch ein äußerliches, formales Bekenntnis "mit der Zunge" notwendig? Inwieweit muss sich ein Gläubiger an die Gesetze des Islam halten und die Rituale erfüllen? Ist es möglich, durch große Sünden seinen Status als Gläubiger, d.h. als Muslim zu verlieren? Aber auch: Inwieweit muss man wissen, dass ein Glaubenssatz wahr ist, um an ihn glauben zu können? In den verschiedenen Tendenzen bei den Antworten auf diese Fragen zeigt sich die ganze Bandbreite islamischer Definitionen des Glaubensbegriffs, die weiter unten im Detail ausgeführt werden.
Der arabische Begriff, der üblicherweise als "Theologie" übersetzt wird, ist kalām. Kalām, was auch "Rede" oder "Äußerung" bedeutet, bezeichnet die diskursive Verteidigung der islamischen Glaubenslehren gegen Zweifler in den eigenen Reihen und gegen Nicht-Muslime. Diese Tradition entwickelte sich vor allem während des zweiten und dritten Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung. Obwohl die diskursive Theologie durch nicht-islamische Traditionen (Christentum, griechische Philosophie) beeinflusst wurde, beschäftigten sich die mutakallimūn, also die kalām-Praktiker, mit genuin islamischen Problemen. Die meisten abstrakteren Debatten im Themenkreis Glaube und Vernunft lassen sich aus den Schriften dieser Gelehrten rekonstruieren.
Der Begriff kalām an sich sagt noch nicht besonders viel aus. Er impliziert keine Lehrmeinung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule, sondern vielmehr eine Tendenz zur Anwendung bestimmter Methoden. Was die mutakallimūn gemein haben, ist: - der Stellenwert der Vernunft in der Verteidigung religiöser Lehren: verwendet werden rationale und autoritätsgestützte Argumente, wobei letztere die erstgenannten bestätigen; es herrscht eine Harmonie zwischen Religion/Offenbarung und Vernunft; 5 - die Einheit Gottes, jede Vielheit in der Beschreibung soll vermieden werden; - die Ablehnung anthropomorphischer Eigenschaften Gottes; - die absolute Vollkommenheit Gottes.
Die Methodendiskussionen und inneren Aufspaltungen im kalām überschnitten sich zum Teil mit Tendenzen in der Rechtswissenschaft. Die Hanbaliten zum Beispiel waren der Anwendung der Vernunft bei der Auslegung der Religion insgesamt abgeneigt, was sich auch in ihren theologischen Ansichten zeigte. Ein zentrales Problem der islamischen Theologie waren etwa die Passagen im Koran, in denen von Gottes Hand die Rede ist und davon, dass er sieht oder auf einem Thron sitzt. Einige suchten allegorische Interpretationen dieser Körperlichkeit. Die Hanbaliten jedoch waren der Ansicht, man solle diese Beschreibungen hinnehmen, ohne danach zu fragen, wie genau dies möglich sein könne, da es sich menschlicher Vorstellung entziehe. Dieses Prinzip ist unter dem Stichwort bi-lā kaif bekannt, "ohne (zu fragen) wie".
Die früheste Gruppe unter den mutakallimūn waren die Mu'tazila, die heute oftmals als die Vertreter der rationalen Tradition im Islam par excellence gelten. 6 Die Anfänge dieser Gruppierung liegen in Basra in der ersten Hälfte des 2./8. Jahrhunderts. Die Thesen der Mu'tazila werden üblicherweise in fünf Punkten zusammengefasst: - Die Einheit Gottes: Ähnlich wie im kalām überhaupt, darf Gott nicht mit menschlichen Attributen beschrieben werden. - Die Gerechtigkeit Gottes: Gott kann nur gut und gerecht handeln und ist dazu verpflichtet, das Bessere zu wählen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit und Freiheit zu handeln (qudra), die Gott in ihm geschaffen hat. Er handelt frei und wird entsprechend (notwendigerweise gerecht) durch Gott belohnt oder bestraft. - Glauben impliziert Handeln nach Maßgabe des Koran; Sünder, die keine Reue zeigen, enden in der Hölle. - Ein Sünder ist weder gläubig noch ungläubig, sondern nimmt einen Zwischenstatus ein. - Das koranische Gebot, Erlaubtes zu befehlen und Verbotenes zu verhindern, haben die Mu'taziliten zunächst sehr wichtig genommen und streng ausgelegt, da dies auch in ihrem eigenen Sinn war, später verlor dieses Element an Bedeutung.
Die Geschichte der Mu'taziliten und ihrer Ideen ist untrennbar verbunden mit der Machtposition, die sie am Hof des bereits erwähnten abbasidischen Kalifen al-Ma'mūn (Regierungszeit 204 - 218 bzw. 819 - 833) innehatten. Dieser propagierte die Lehre der Geschaffenheit des Koran. Gelehrte, die dem widersprachen und den Koran als ewig betrachteten, wurden hart bestraft. Diese Episode der islamischen Geschichte wird als mih. na ("Inquisition") bezeichnet. Im Hintergrund von al-Ma'mūns Politik stand das Bemühen, die Autorität zur Interpretation religiöser Quellen zu zentralisieren, eine Tendenz, die sich auch auf anderen Gebieten (Verwaltung, Militär) zeigte. 7 Al-Ma'mūn wollte die Interpretationshoheit von den religiösen Gelehrten und unteren sozialen Schichten in die Kreise der Mächtigen verlagern. Der Orientierung an den Lehrmeinungen menschlicher Autoritäten, wie sie unter den religiösen Gelehrten üblich war, setzte er die Verwendung der Vernunft entgegen - eine Überzeugung, die sich mit der der Mu'taziliten deckte. Ein gemeinsamer rationaler Zugang erlaubte es dem Kalifen, die Überlegenheit seiner Interpretation zu beweisen.
Unter dem Kalifen al-Mutawakkil kam es 234/848 zu einer Umkehr und zu einer Reaktion gegen die Mu'taziliten und ihren Rationalismus. Unter den Protagonisten der Opposition war Ah. mad ibn H. anbal (gestorben 241/855), der Begründer der hanbalitischen Rechtsschule, der seinerzeit ausgepeitscht und eingesperrt worden war. Nach diesen Ereignissen stand die rationale Auslegung der islamischen Quellen nach Art der Mu'taziliten unter keinem guten Stern. Trotzdem folgte die Blütezeit erst noch - sie dauerte vom Ende des 3./9. Jahrhunderts bis zur Mitte des 5./11. Jahrhunderts.
Die dominierende Schule im kalām waren allerdings die As'ariten (benannt nach Abū al-H. asan al-As'arĪ, gestorben 324/935), deren Überzeugungen den Lehren der Mu'tazila in zentralen Punkten diametral entgegenstanden. Hauptbestreben der As'ariten war es, der Allmacht Gottes absolutes Gewicht zu verleihen. Während die Mu'taziliten davon ausgingen, dass Gott gut handeln muss, ist für die As'ariten allein die Tatsache, dass es Gott ist, der handelt, die das Handeln zu einem guten Handeln macht. Gott kann alles und darf in seinem Handeln nicht hinterfragt werden. Auch in der Frage der Willensfreiheit vertraten die As'ariten andere Prinzipien: Da alles von Gott geschaffen ist und Gott das einzige Wirkprinzip ist, sind auch die menschlichen Handlungen von Gott geschaffen und werden vom Menschen lediglich erworben. Dasselbe Prinzip von Gott als dem einzig Wirkenden führte in Fragen allgemeiner Kausalität zum so genannten Okkasionalismus. Nicht Naturgesetze bestimmen, dass ein Stein herunterfällt, sondern jeder einzelne Moment des Fallens wird von Gott geschaffen. Wenn Gott wollte, könnte er den Stein auch wieder nach oben schweben lassen. Was wir in dieser Welt beobachten können, ist lediglich die Gewohnheit Gottes, die uns davon ausgehen lässt, dass Steine immer nach unten fallen. Diese Abwesenheit jeglicher Wirkautonomie und die Leugnung unabhängiger Naturgesetze kann als Barriere für die Vernunft verstanden werden, Ereignisse in dieser Welt zu deuten. Es handelt sich jedoch nicht um eine absolute Barriere, entscheidend ist die Erkenntnis, dass letzten Endes Gott die einzige Wirkursache ist.
Viele Kernprobleme der islamischen Theologie lassen sich in den beiden Gegensätzen Immanenz und Transzendenz bzw. Einheit und Vielheit Gottes ausdrücken: Inwieweit greift Gott in die Welt ein? Inwieweit lässt Er sich mit menschlichen Eigenschaften beschreiben? Ist Gott überhaupt zu beschreiben, oder steht dem Seine Einheit entgegen? Andere Probleme fallen in die Kategorie "Macht und Autonomie des Menschen": Ist der Mensch Agens seiner Handlungen, und inwieweit ist er dafür verantwortlich? Kann er entsprechend dafür bestraft werden, sowohl in dieser als auch in der nächsten Welt? Bei allen diesen Fragen spielt die Vernunft eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Herangehensweisen der unterschiedlichen Gruppierungen zu charakterisieren und gegeneinander abzugrenzen. Gelehrten, die sich gegen eine starke Verwendung der Vernunft wandten, kam es darauf an, die Allmacht Gottes zu verteidigen. Der Schöpfer sollte nicht dem Zwang ausgesetzt sein, nach Maßgabe eines menschlichen Vernunftbegriffs handeln zu müssen. Das eigentliche Wesen Gottes war dem menschlichen Verstand schlicht und ergreifend nicht zugänglich.
Besonders interessant für unser Thema ist die Frage, wer unter welchen Bedingungen als Gläubiger zählen kann. Die Diskussionen der mittelalterlichen Theologen kreisten hier u.a. um drei Begriffe: imān (Glaube), tas. dĪq (Für-wahr-Halten bzw. Als-wahr-Bestätigen) und taqlĪd (unkritische Übernahme von Ansichten). Der Begriff des Glaubens umfasste dabei drei Komponenten, die oben bereits angedeutet wurden: die innere Überzeugung, den mündlichen Ausdruck und das Befolgen der Gebote. Die verschiedenen Schulen unterscheiden sich darin, wie sie diese Elemente jeweils interpretieren und gewichten, wenn es um die Bestimmung geht, ob jemand ein Gläubiger, d.h. ein Muslim ist oder nicht.
Einige Gruppen legten großen Wert auf die Taten als direkten und integralen Ausdruck des Glaubens. Bisweilen wurde ein bestimmter Glaubenskanon definiert. Andere zentrale Fragen waren z.B., ob der Glauben ab- und zunehmen kann und ob es Grade des Glaubens gibt. Es gab auch unterschiedliche Ansichten von der Verantwortung des Menschen, inwieweit dieser als Agens seines Glaubens gelten kann oder ob der Glaube nicht vielmehr direkt durch Gott im Menschen geschaffen wird. Auch hinsichtlich der Konsequenzen gingen die Meinungen auseinander. Die meisten waren davon überzeugt, dass jemand, der auch nur ein wenig Glauben in sich trage, auch ins Paradies kommen würde - was dieses bisschen Glaube allerdings bedeutet bzw. ob und wie es sich erkennbar äußert, waren ganz andere Fragen. Nach Ansicht der meisten Gelehrten (mit Ausnahme der Mu'taziliten) konnte Gott ohnehin nicht dazu verpflichtet sein, gläubige Menschen ins Paradies einzulassen. Auch dies war ein von den von Menschen wahrnehmbaren Verhältnissen gänzlich unabhängiger Akt Gottes.
Mögliche Konflikte mit der Vernunft kommen in solchen Debatten seltener vor; im Gegenteil, die Theologen diskutierten, inwieweit sicheres Wissen notwendiger Bestandteil des Glaubens ist. Bei den Hanafiten findet sich etwa zusätzlich zu den drei oben genannten Elementen die Notwendigkeit, dass ein Gläubiger Wissen um die Wahrheit der Glaubenssätze im Herzen trägt. Das Gegenteil wurde als taqlĪd beschrieben, als blinder Gehorsam gegenüber einer (menschlichen) Autorität. Die Kehrseite davon war, dass einfache Menschen den Status eines Gläubigen nicht in Anspruch nehmen konnten (takfĪr al-'awāmm, d. h. das Bezeichnen einfacher Menschen als Ungläubige) - ähnliche Probleme ergaben sich bei Muslimen, die den Koran nicht im arabischen Original lesen konnten.
Eine weitere Tradition, die sich während des zweiten und dritten Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung herausbildete, waren die Philosophen (falāsifa), die sich vor allem an den Lehren des Aristoteles orientierten. 8 Diese Ausrichtung entstand in Bagdad in dem Milieu, in dem griechische philosophische Werke, vor allem das aristotelische Korpus, ins Arabische übersetzt wurden. Gefördert wurde dies durch die abbasidischen Kalifen, vor allem al-Ma'mūn, der das Dogma der Geschaffenheit des Koran propagierte. Der Ruf der Philosophie im Islam sollte unter dieser Verbindung leiden. Die mih. na hatte zu einer starken Polarisierung unter den Gelehrten geführt. 9 "Fremde" Wissenschaften wurden von Traditionalisten vor allem deshalb abgelehnt, weil sie diese mit der rationalistischen Politik al-Ma'mūns assoziierten.
Die bekanntesten Vertreter der islamischen Philosophie sind al-KindĪ (ca. 185 - 252 bzw. 801 - 866), al-Fa¯ra¯bĪ (gestorben 339 bzw. 950), Ibn SĪnā (= Avicenna, 370 - 428 bzw. 980 - 1037) und Ibn Rusd (= Averroes, 520 - 595 bzw. 1126 - 1198), deren Werke in lateinischer Übersetzung in Westeuropa im Mittelalter rezipiert wurden. Die falāsifa waren darum bemüht, die Lehren der koranischen Theologie mit denen der griechischen Philosophie zu harmonisieren. So wurde in einer monotheistisch-neoplatonischen Überformung der aristotelischen Kosmologie zum Beispiel von Gott als dem ersten oder unbewegten Beweger gesprochen. Den falāsifa war dabei bewusst, dass der Mehrheit der Muslime in ihrer Zeit die Ansichten des Aristoteles fremd bleiben würden. Einige, darunter al-FārābĪ, entwickelten als Antwort auf diese Problematik hierarchische Modelle von Wissen und Erkenntnis, die im Idealfall mit der politischen Machtpyramide in eins fallen sollten. Während sich das einfache Volk an die Allegorien der heiligen Schrift halten musste, waren sich die philosophisch verständigen Herrscher bewusst, dass diese religiösen Ausdrücke lediglich Metaphern für philosophische Wahrheiten waren, die sich mit entsprechender intellektueller Begabung auch rational erkennen ließen. Der andalusische Philosoph Ibn Rusd, der unter dem Einfluss al-FārābĪs stand, vertrat ähnliche Ansichten. Ihm wird die Theorie einer doppelten Wahrheit zugeschrieben, wonach Religion und Philosophie auf verschiedenen Wegen zur selben Wahrheit führen.
Obwohl es sich bei den Philosophen im engeren Sinne nur um recht wenige Autoren handelte, übte ihre Tradition einen erheblichen Einfluss aus. Da der kalām als apologetische Tradition begann, reagierte er stark auf die Argumentationsweise der unterschiedlichen Gegner und bediente sich ihrer Methoden. Unter dem Einfluss der falāsifa nahmen die mutakallimūn etwa methodologische Einführungen in ihre theologischen Werke auf. Weiterhin systematisierten sie ihre Ansichten und entwickelten ein theoretisches Fachvokabular. So unterschieden sie etwa zwischen Erkenntnissen, welche die Vernunft alleine erreichen kann ('aqlĪyāt = "vernünftige Dinge" bzw. wenn es um Gotteserkenntnis geht, ila¯hĪyāt = "göttliche Dinge") und solchen, die sich nur der Offenbarung entnehmen lassen (sam'Īyāt = "gehörte Dinge").
Wie bereits erwähnt, waren die mutakallimūn darum bemüht, ihre autoritätsgestützten Argumente durch rationale zu ergänzen. Die griechische Philosophie gab ihnen dabei wichtige Werkzeuge an die Hand. Die Vernunft stand dabei allerdings im Dienste der religiösen Wahrheit. Die Prämisse, welche die mutakallimūn voraussetzten, war die einer grundsätzlichen Harmonie von koranischer Offenbarung und rationaler Erkenntnis. Eine Vernunfterkenntnis, die besagt, dass es keinen Gott gibt oder dass Muhammad nicht sein Prophet ist, war damit ausgeschlossen. Nur vereinzelte Autoren, wie Abū Bakr ar-Ra¯zĪ (250 - 313 oder 323 bzw. 854 - 925 oder 935), lehnten die Idee der Prophetie ab, ohne dabei aber so weit zu gehen, auch die Existenz Gottes abzustreiten.
Wie sich aus dieser kurzen Skizze erkennen lässt, gab es bereits während der Frühzeit des Islam eine ganze Reihe von Versuchen, die Rolle, die Möglichkeiten und die Grenzen der Vernunft zu bestimmen. Die meisten Autoren waren sich einig, dass die Vernunft ein Geschenk Gottes ist, das der Mensch einzusetzen hat. Welche Dinge der Mensch mit seiner Vernunft allerdings erkennen konnte und welche ihm verschlossen blieben und, umgekehrt, wo eine vernunftgemäße Erkenntnis notwendig war - bei all diesen Fragen herrschten große Unterschiede unter den muslimischen Theologen. Diese Unterschiede bestehen auch in der Gegenwart, wobei sich in der islamischen Welt inzwischen eine große weltanschauliche Vielfalt finden lässt, darunter auch radikal rationalistische, säkulare oder atheistische Ansichten.
Unter Denkern, die an die religiöse Traditionen anknüpfen, gibt es oftmals Versuche, das rationalistische Erbe des Mittelalters neu zu beleben, etwa die Tradition der Mu'taziliten oder die Philosophie Ibn Rusds. 10 Oftmals werden dabei die wissenschaftlichen Leistungen der Muslime in der Vormoderne als Beweis dafür zitiert, dass Religion und vernunftgestützter Fortschritt nicht im Widerspruch stehen, sondern dass rationale Erkenntnis aus echter Gläubigkeit erwachsen kann, teilweise aus sehr praktischen Gründen. Ein Beispiel dafür sind die Entwicklungen in der Astronomie, die u.a. mit der Bestimmung der Gebetsrichtung in Verbindung stehen. 11
Auch konservative Autoren plädieren oft für eine Verwendung der Vernunft, damit die muslimische Welt ihren Rückstand gegenüber dem Westen überwindet. Ihre Grundannahme ist dabei erneut die einer grundsätzlichen Harmonie von offenbarungsgestützter und vernunftgestützter Erkenntnis. Letztere kann zu einer Korrektur einzelner Interpretationen der religiösen Autoritäten führen, den Grundwahrheiten des islamischen Glaubens kann sie allerdings nicht entgegenstehen.
1 Den Rahmen
dieser Einführung bildet die frühe islamische Theologie,
deren Autoritäten auch für moderne religiöse Denker
maßgeblich sind. Der Begriff "Islam" bezieht sich hier auf
die religiöse Lehre und ihre Ausdeutung im engeren Sinne,
nicht auf die islamische Welt oder Kultur im weiteren Sinne.
Jahresangaben sind i.d.R. in islamischer und christlicher
Zeitrechnung.
2 Vgl. Patricia Crone, Medieval Islamic
Political Thought, Edinburgh 2005.
3 Das Standardwerk für die
theologischen Entwicklungen in der islamischen Frühzeit ist
Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert
Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im
frühen Islam, 6 Bände, Berlin 1991 - 1995. Darstellungen
einzelner Probleme finden sich in den Sammlungen der Artikel von
Richard M. Frank, Philosophy, Theology and Mysticism in Medieval
Islam. Texts and Studies on the Development and History of
Kalām, Bd. 1, hrsg. von Dimitri Gutas, Ashgate 2005.
4 Zu der Problematik des "geschlossenen
Tores" der individuellen Urteilsfindung vgl. Tilman Nagel, Die
Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen
Rationalismus im 11. Jahrhundert, München 1988.
5 Während des Mittelalters setzte
sich auch unter Christen die Tendenz zur Verwendung rationaler
Argumente in der interreligiösen Begegnung durch. Missionare
wie der Katalane Raimundus Lullus (1232 - 1316) verstanden, dass
sie mit Verweisen auf ihre eigene Heilige Schrift wenig erreichten,
da diese von Nicht-Christen nicht anerkannt wurde. Alleine die
Vernunft konnte als gemeinsame Grundlage dienen. Vgl. Matthias
Lutz-Bachmann/Alexander Fidora (Hrsg.), Juden, Christen und
Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt 2004.
6 Zu den Mu`tazila vgl. Richard C.
Martin, Defenders of Reason in Islam. Mu'tazilism from Medieval
School to Modern Symbol, Oxford 1997.
7 Vgl. Dimitri Gutas, Greek Thought,
Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad
and Early 'Abbâsid Society (2nd-4th/8th-10th Centuries),
London 1998, S. 79f.
8 Vgl. Ulrich Rudolph, Islamische
Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München
2004.
9 Vgl. D. Gutas (Anm. 7), S. 163.
10 Vgl. R. C. Martin (Anm. 6), und zur
modernen Rezeption der Mu'taziliten Thomas Hildebrandt, Waren
Ğamāl ad-DĪn al-AfĠānĪ und Muh.
ammad 'Abduh Neo-Mu'taziliten, in: Die Welt des Islams, (2002) 42,
S. 207&smiley;262, und Neo-Mu'tazilismus? Intention und Kontext
im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des
Islam, Leiden 2007. Zur modernen Ibn Rusd-Interpretation Anke von
Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu
einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden
1994.
11 Für Forschungen zur islamischen
Wissenschaftsgeschichte vgl. die Publikationen von David King und
des Instituts für die Geschichte der arabisch-islamischen
Wissenschaften in Frankfurt/M.