Im Zuge der Globalisierung hat sich die Demokratie in weiten Teilen der Erde etabliert und ist als rechtmäßigste aller Regierungsformen in Mode gekommen. Die arabische Welt jedoch weist weiterhin ein enormes Demokratiedefizit auf. Dieses wird allenfalls gemildert durch Bestrebungen zur Stabilisierung und Demokratisierung in Indonesien, Malaysia, Pakistan, Bangladesch, der Türkei und Iran, die jedoch noch in den Kinderschuhen stecken. Die meisten Kommentatoren in der westlichen Welt - vor allem in den Vereinigten Staaten - sind geneigt, Iran als totalitäres, von Klerikern geführtes Herrschaftssystem abzutun und ignorieren dabei die Tatsache, dass sich das iranische Regime trotz zahlreicher Fehlentwicklungen und Einschränkungen als recht stabil erwiesen hat (tatsächlich ist es demokratischer als die meisten Regime der Region und ganz sicher demokratischer als der prowestliche, proamerikanische Iran unter der Regierung des Schah). Dennoch fällt der Mangel an Demokratie in den meisten Ländern der arabischen Welt in eklatanter Weise ins Auge, und die Frage der Vereinbarkeit des Islam mit der Demokratie ist mit dem Erstarken des politischen Islam und islamischer Politik in der Region zu einem Thema von globaler Bedeutung geworden. 1
Manche Kommentatoren im Westen und der muslimischen Welt sind gleichermaßen daran interessiert, die Vereinbarkeit des Islam und der Demokratie zu verneinen. Einige westliche Forscher vertreten die Auffassung, der Islam sei mit der Moderne und insbesondere mit der Demokratie nicht in Einklang zu bringen und beharren darauf, Muslime müssten sich entweder vom Islam abwenden oder diesen erst reformieren, um sich zur "modernen Welt" zählen zu können. 2 Einige muslimische Gelehrte und militante Islamisten lehnen die Demokratie mit dem Argument ab, sie widerspreche den Geboten Gottes, respektive der islamischen Scharia. Ebenso wie die westliche Dominanz lehnen sie auch die Demokratie strikt ab und sehen in ihr fälschlicherweise ein spezifisch westliches Produkt. 3 Glücklicherweise sind diese Argumente sowohl in der Theorie als auch in der Praxis auf ganzer Linie widerlegt worden. Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie wird inzwischen nicht mehr in Frage gestellt. Muslimische Wissenschaftler haben schlüssig bewiesen, dass der Islam und demokratische Verfahren durchaus nebeneinander bestehen können: Mit Verweis auf die in einigen muslimischen Ländern existierende Demokratie sowie auf Muslime, die im Westen und in Ländern wie Indien leben, in denen die Demokratie fest verwurzelt ist, haben sie die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass der Islam und die Muslime sich auch in demokratischen Gesellschaften entfalten können. 4
Dass der Islam und die Demokratie miteinander vereinbar seien, stellt keine argumentative Herausforderung mehr dar - diese Debatte ist abgeschlossen, wenngleich ihre Schlussfolgerungen noch nicht überall anerkannt werden. Für muslimische Gelehrte liegt die Herausforderung vielmehr darin, einen Schritt darüber hinauszugehen und Vorstellungen von einer islamischen Demokratie sowie deren konstituierende Prinzipien und Charakteristika aufzuzeigen. In diesem Beitrag werde ich versuchen, mich der Demokratie aus dem islamischen Kontext heraus anzunähern und die allgemeinen Grundsätze einer islamischen Demokratie aufzuzeigen.
In der Debatte um die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie wurde das Konzept von Demokratie häufig als gegeben vorausgesetzt und als feste und unumstrittene Idee betrachtet. Man nähert sich dem Islam von "außen" und hinterfragt, ob er mit demokratischen Grundsätzen vereinbar sein kann. In diesem Text werde ich aus innerislamischer Sicht darlegen, wie die islamische Struktur eines Regierungssystems meiner Auffassung nach beschaffen sein sollte - die Leser werden erkennen können, dass dieses grundlegend demokratischer Natur ist.
In der von der europäischen Aufklärung inspirierten und beeinflussten Politischen Theorie ist der Säkularismus als notwendige und unwidersprochene Bedingung für eine gute Regierungsführung betrachtet worden. Dies mag empirisch zutreffend sein oder nicht, jedenfalls beteuern die meisten westlichen Vertreter den säkularen Charakter westlicher Gemeinwesen und halten die Vorteile des Säkularismus für selbstverständlich. Als muslimischer Intellektueller, der im Westen lebt, forscht, Politische Theorie und Politische Philosophie lehrt, hat mich immer erstaunt, wie hartnäckig sich die Idee des Säkularismus hält. Für eine Zivilisation, die sich eines beträchtlichen Entwicklungsstandes in den meisten ihrer Bereiche rühmt, ist die Annahme, Politik und Religion seien zwei unterschiedliche Sphären oder die beiden könnten voneinander getrennt werden, uncharakteristisch naiv. Dieser Glaube an die Trennbarkeit von Kirche und Staat gehört meiner Meinung nach zu den langlebigen Mythen der Moderne und gründet auf der falschen Annahme einer rein politischen und rein religiösen Sphäre, die es im wirklichen Leben nicht gibt. 5
Alle zentralen Fragen sind nicht nur normativer Natur, sondern sie wirken auch auf die individuelle und kollektive Identität ein. Weder die Vorstellung vom eigenen Ich noch die Entwicklung einer kollektiven Identität sind frei von politischen oder religiösen Überlegungen. Das Christentum spielte eine wichtige Rolle beim Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa, in der streng säkularen Türkei haben Islamisten einen Weg zur Machtausübung gefunden. Die Zurschaustellung religiöser Symbole im öffentlichen Raum - egal, ob es sich um das muslimische Kopftuch (Hijaab) in den Schulen Frankreichs oder um die Zehn Gebote in amerikanischen Gerichtssälen handelt - bleibt vor allem deshalb umstritten, weil sich kein Konsens darüber findet, die Religion ganz aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.
Nicht nur, dass die Religion in die Politik hineinwirkt - allenthalben ist auch eine Politisierung der Religion zu beobachten. Dass die Republikaner die Frage der Eheschließung zwischen Homosexuellen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2004 zum Thema machten, unterstreicht, dass Religion im modernen Westen immer wieder auch politisch relevant wird. Mir ist aufgefallen, dass amerikanische Politiker oft versuchen, ihre religiösen Beweggründe bei der Befürwortung einer bestimmten Politik in säkulare Begriffe zu kleiden. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist die unerschütterliche Unterstützung Israels und der israelischen Besetzung der Westbank und des Gazastreifens bei bestimmten Republikanern, die christlich-evangelikale Bindungen haben. Sie unterstützen Israel aus biblischen Motiven, rechtfertigen dies jedoch damit, dass Israel "die einzige Demokratie im Nahen Osten" sei.
In der muslimischen Welt wiederum speist sich Rechtmäßigkeit aus dem Islam, weshalb viele Politiker materielle Motive mit einem islamischen Deckmantel rechtfertigen. Während religiöse Politiker im Westen häufig einen säkularen Diskurs zur Legitimation ihrer Anliegen nutzen, betreiben muslimische Politiker aus dem gleichen Grund ganz bewusst eine "Islamisierung" weltlicher Fragen. Im Westen mangelt es der Religion im öffentlichen Raum an Legitimität, und sie muss deshalb verschleiert werden; in der muslimischen Welt leitet sich jegliche Legitimität aus dem Islam ab, und deshalb wird der Islam zur Rechtfertigung von Politik herangezogen.
Aus zwei Gründen sind Religion und Politik eng miteinander verwoben. 6 Erstens werden immer häufiger komplexe Erörterungen geführt, um die Legitimität bestimmter Anliegen zu stärken. Heutzutage scheinen alle Politiker das Diktum Machiavellis zu befolgen, wonach es nicht wichtig ist, gerecht zu sein, sondern gerecht zu erscheinen. Deshalb bringen Politiker, politische Parteien und Herrschaftssysteme einen Diskurs in Gang, mit dem sie ihre Ziele und Strategien rechtfertigen. Abhängig vom kulturellen Kontext ist es dabei entweder die Religion, welche die politische Logik untermauern soll, oder es sind politische Beweggründe, die religiös verbrämt werden.
Der zweite und wohl wichtigste Grund, weshalb Religion in entscheidenden Fragen immer eine Rolle spielen wird, liegt in ihrer identitätsstiftenden Eigenschaft. Alle wichtigen politischen Fragen tangieren letztlich auch das individuelle und kollektive Bewusstsein und lösen dabei religiöse Empfindungen aus. Solange Religion auf die Identität von Menschen einwirkt, solange wird sie auch in der Politik von Bedeutung sein. Die zeitgenössische europäische Erfahrung mit dem Säkularismus - und die Besessenheit davon - stellt nur eine kleine Abweichung vom Lauf der Menschheitsgeschichte dar. Zudem leitet sich die europäische Abneigung gegen die Verbindung von Religion und Politik nicht aus der Religion sui generis ab, sondern aus den Erfahrungen mit einer ganz bestimmten Manifestation von Religion - der Katholischen Kirche.
Im Gegensatz dazu hat der Islam nach Meinung von Muslimen und vielen nicht-muslimischen Chronisten zur Entstehung von Pluralismus, religiöser Toleranz und eines harmonischen Miteinanders beigetragen. Das Goldene Zeitalter der Mauren in Andalusien und das Mogul-Reich in Indien sind zwei immer wieder zitierte Beispiele dafür, dass der Islam potenziell dazu in der Lage ist, die Infrastruktur für eine Gesellschaft zu schaffen, in der Pluralismus und Toleranz obsiegen. Selbst in der Debatte um den "Anti-Terror-Krieg" wird dem liberalen Islam zugestanden, dass er mit seiner Betonung der Aufklärung, des Friedens und der Toleranz das Gegenmittel zum Erstarken des Terrorismus und der sektiererischen Gewalt in einigen heutigen muslimischen Gesellschaften darstellt. 7
Folgernd, dass erstens der Säkularismus als notwendige Bedingung für gute Regierungsführung ein eurozentristischer Mythos ist und zweitens der historische Islam seine Fähigkeit zur Stärkung der gesellschaftlichen Harmonie und des Pluralismus unter Beweis gestellt hat, werde ich nun Argumente für den islamischen Staat ins Feld führen.
Die meisten zeitgenössischen Islamisten argumentieren, dass ein islamischer Staat erforderlich ist, um den Muslimen jenes Instrument an die Hand zu geben, das zur gesellschaftlichen Steuerung und moralischen und kulturellen Reform erforderlich ist. Sie versprechen sich vom islamischen Staat eine politische Einheit, die den Muslimen Unabhängigkeit von der westlichen Dominanz und die Freiheit verleiht, den Islam zu praktizieren und islamische Normen zu institutionalisieren. Für viele Muslime ist der islamische Staat ein Vehikel zur muslimischen Selbstbestimmung.
Ich bin der Überzeugung, dass Muslime eine rechtschaffene Republik entweder auf der Grundlage universeller Normen oder mittels eines auf dem Glauben und islamischen Werten beruhenden Musterbeispiels entwerfen und schaffen können. Das mir vorschwebende Endergebnis ist das gleiche, da es kaum Unterschiede zwischen universellen Normen und islamischen Werten gibt - den Unterschied macht die Politik. Würden Muslime in ihrem Streben nach Selbstbestimmung und guter Regierungsführung eine zeitgenössische Sprache sprechen, dann würde ihr politischer Aktivismus vom Rest der Welt vielleicht weniger ablehnend aufgenommen, in ihren eigenen Ländern aber möglicherweise als weniger legitim gelten. Dort ist Muslimen eine prompte Legitimität sicher, wenn sie eine islamische Sprache sprechen - ebenso sicher jedoch wie die Unsicherheit und sogar der Widerstand im Ausland, da Nicht-Muslime in aller Welt Furcht vor und Abneigung gegen islamistische(n) Regierungen entwickelt haben (vor allem aufgrund der Erfahrungen mit den Taliban in Afghanistan, den Mullahs in Iran und Saudi-Arabien). 8
Muslimische Staatstheoretiker argumentieren, das im Koran beschriebene Prinzip Amr bil marouf wa nahy anil munkar ("Gebiete das Gute und verbiete das Böse") sei die islamische Rechtfertigung zur Schaffung eines ideologischen Staates, der darauf zielt, die islamische Scharia einzuführen. Dieser Leitsatz ist im Grunde dem Koran entnommen: "Es sollte aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft und das Rechte gebietet und das Verwerfliche verbietet ..." (Koran, Sure 3, Vers 104). "Ihr seid das beste Volk, hervorgebracht zum Wohl der Menschheit; ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche ..." (Koran, Sure 3, Vers 110). "Die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Beschützer. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Böse ..." (Koran, Sure 9, Vers 71).
Da aber in der Scharia beschrieben wird, was Gut und Böse ist und damit Muslime Menschen zum Rechten auffordern und Böses verwehren, müssen Muslime "die islamische Scharia zur Geltung bringen". Dies ist die allgemeine Rechtfertigung für den islamischen Staat und wurde im Grunde bereits vonIbn Taymiyyah (661 - 728 n. Chr.) formuliert. 9 Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob der Text des Koran die Schaffung eines Staates vorschreibt, doch können wir uns der Tatsache nicht verschließen, dass soziale Normen heutzutage dermaßen mit der Politik des modernen Staates verflochten sind, dass sie sich nicht vom Politischen trennen lassen.
Die Frage, die für muslimische Politiktheoretiker zur wichtigsten wird, betrifft das Wesen und die Konsequenzen des islamischen Staates. Wird dieser Staat, geschaffen, um das Gute zur Geltung zu bringen und das Böse zu bestrafen, zu einer Tyrannei derer werden, die das Recht zur Auslegung der Scharia für sich beanspruchen? Oder wird er zu einem gemeinschaftlichen Vorhaben der Menschen werden, die nach einer rechtschaffenen Republik streben, die ein tugendhaftes Leben erleichtert? Ich bin davon überzeugt, dass muslimische Politiktheoretiker in der Lage sind, ein eben solches Regierungssystem zu entwerfen, welches das Gute fördern und das Böse verbieten würde und zudem eine Kultur der Toleranz und des Mitgefühls für unterschiedliche und sogar vielfältige Auffassungen hervorbringen könnte, was dieses Gute sein mag.
Die Schlüsselmerkmale islamischer Regierungsführung sind eine Verfassung, Konsens, Konsultationen und Schutz religiöser Freiheiten. Diese Prinzipien müssen vor dem besonderen sozio-kulturellen Hintergrund unterschiedlicher Muslimgesellschaften untersucht und artikuliert werden, doch ist es wichtig zu begreifen, in welcher Weise sie von Bedeutung sind und inwiefern sie aus islamischen Quellen abgeleitet werden können.
Die Verfassung
Der Vertrag von Medina, zu dessen Unterzeichnern der Religionsstifter des Islam, der Prophet Mohammed (pbuh), gehörte, lässt sich bei der Entwicklung einer islamischen Politischen Theorie in besonderer Weise heranziehen. Nach seiner Flucht von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. schuf der Prophet den ersten islamischen Staat der Geschichte und war zehn Jahre lang nicht nur geistiger Führer der entstehenden muslimischen Gemeinschaft in Arabien, sondern auch das politische Oberhaupt des Stadtstaates von Medina. Als Herrscher von Medina hatte Mohammed die Gerichtshoheit sowohl über Muslime als auch über Nicht-Muslime in der Stadt inne. Die Legitimität seiner Herrschaft beruhte sowohl auf seinem Status als Prophet des Islam als auch auf der Grundlage des Vertrags von Medina.
Als Gesandter Gottes herrschte Mohammed kraft göttlichen Dekrets über alle Muslime, kraft des von drei Parteien (den muslimischen Einwanderern aus Mekka, den Muhajirum, den einheimischen Muslims vom Stamm der al-Ansar und den in Medina ansässigen Juden, den Yahud) vereinbarten und unterzeichneten Vertrags herrschte er auch über die Nicht-Muslime. Dass Juden zu den Vertragspartnern bei der Schaffung des ersten islamischen Staates gehörten, ist eine interessante Randnotiz. 10
Der Vertrag von Medina liefert ein hervorragendes historisches Beispiel für zwei Gedankengebäude - einen Gesellschaftsvertrag und eine Verfassung. Ein Gesellschaftsvertrag, so wie die Idee später von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau entwickelt wurde, ist eine ideelle Vereinbarung zwischen Menschen im so genannten Naturzustand, die zur Gründung einer Gemeinschaft oder eines Staates führt. In diesem Naturzustand sind die Menschen frei, nicht an die Befolgung von Regeln oder Gesetzen gebunden und letztlich souveräne Individuen. Durch den Gesellschaftsvertrag jedoch treten sie ihre individuelle Souveränität an das Kollektiv ab und gründen so die Gemeinschaft oder den Staat.
Die zweite Idee, die im Vertrag von Medina zu Tage tritt, ist die einer Verfassung. In vielerlei Hinsicht ist eine Verfassung das Dokument, das die Bedingungen des Gesellschaftsvertrages enthält, auf den jede Gemeinschaft gegründet ist. Der Vertrag von Medina erfüllte ganz eindeutig eine konstitutionelle Funktion, da er das grundlegende Dokument für den ersten islamischen Staat war. Als feststehendes historisches, in seiner Dimension begrenztes Dokument kann der Vertrag von Medina selbst zwar nicht als moderne Verfassung dienen oder als Werkzeug, das einfach kopiert werden kann, aber dennoch als Leitsatz, dem nachzueifern sich lohnt.
Einfach ausgedrückt: Der in Medina errichtete erste islamische Staat beruhte auf einem Gesellschaftsvertrag, hatte konstitutionellen Charakter, und der Herrscher übte seine Souveränität mit der ausdrücklich niedergeschriebenen Zustimmung aller Bürger des Staates aus. Diesem Beispiel des Propheten können zeitgenössische Muslime in aller Welt folgen und eine eigene Verfassung ausarbeiten, die den jeweiligen historischen und zeitlichen Bedingungen entspricht. Gemäß dem Beispiel des Propheten muss jedes politische Gemeinwesen, das den Anspruch erhebt, ein islamisches Regierungssystem zu sein, über eine Verfassung verfügen, die ihrem Wesen nach pluralistisch ist und Menschen nicht aufgrund ihrer Religion oder Volkszugehörigkeit voneinander unterscheidet. 11
Das Prinzip der Zustimmung
Ein wichtiges Prinzip der Verfassung von Medina war, dass der Prophet Mohammed den Stadtstaat kraft der Zustimmung seiner Bürger regierte. Die Herrschaftsausübung wurde ihm angetragen, seine Autorität war im Gesellschaftsvertrag verankert. 12 Die Verfassung von Medina manifestierte den Grundsatz der Zustimmung und der Zusammenarbeit bei der Regierungsausübung. Gemäß diesem Vertrag waren Muslime und Nicht-Muslime gleichberechtigte Bürger des islamischen Staates, Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten. Gemeinschaften mit unterschiedlicher religiöser Ausrichtung genossen religiöse Autonomie. Diese Idee reicht im Grunde weiter als die moderne Vorstellung von Religionsfreiheit. Die Verfassung von Medina schuf einen pluralistischen Staat - eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Sie versprach allen die gleiche Sicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Die Grundsätze der Gleichheit, der Regierungsausübung mit beiderseitigem Einverständnis und des Pluralismus sind im Vertrag von Medina auf schöne Weise miteinander verflochten.
Das Verfahren des bayah, die Leistung eines Treuegelöbnisses, war eine wichtige Einrichtung, mit der die Zustimmung der Untertanen formell bekräftigt werden sollte. In jenen Tagen war ein Anführer, dem es nicht gelang, die Zustimmung der Untertanen über ein formales und direktes Treuegelöbnis zu erreichen, in seiner Autorität und Legitimität beeinträchtigt. 13 Dies war ein arabischer Brauch, der aus der Zeit vor dem Islam stammt, der wie viele arabische Bräuche jedoch in die islamische Tradition aufgenommen wurde. Die frühen Kalifen praktizierten das Verfahren des bayah nach ihrer Wahl durch eine Art Wahlgremium, um ihre Autorität zu stärken. Man muss seine Vorstellungskraft nicht allzu sehr strapazieren, um zu erkennen, dass eine von Wahlen begleitete Nominierung in politischen Einheiten, die eher Millionen als hunderte Bürger zählen, eine notwendige Modernisierung des bayah-Verfahrens darstellen kann. Die Ersetzung des bayah durch Wahlurnen macht das Treuegelöbnis zu einem einfachen und universellen Verfahren. Wahlen stellen deshalb weder eine Abkehr von islamischen Prinzipien und Traditionen dar, noch sind sie ihrem Wesen nach unislamisch.
Auch der Koran erkennt die Autorität derer an, die zu Anführern gewählt wurden und setzt diese einvernehmlichen Führer auf gewisse Weise als Vertreter ein. "O die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehlsgewalt unter euch haben ..." (Koran, Sure 4, Vers 59).
Beratungen "... und ziehe sie zu Rate in Angelegenheiten der Verwaltung; wenn du aber dich entschieden hast, dann setze dein Vertrauen auf Allah." (Koran, Sure 3, Vers 159) "... diejenigen, die ihre Angelegenheiten durch (schura baynahum) gegenseitige Beratung regeln, ..." (Koran, Sure 42, Vers 38)
Viele derjenigen, die argumentieren, der Islam enthalte demokratische Prinzipien, haben dabei insbesondere auf die Schura verwiesen. 14 Im Kern ist die Schura ein - konsultatives - Verfahren der Entscheidungsfindung, das von islamischen Gelehrten entweder als obligatorisch oder als wünschenswert betrachtet wird. Für jene Gelehrten, die Koranvers 3:159 betonten ("... und ziehe sie zu Rate ..."), ist die Schura obligatorisch; jene Gelehrten, die Vers 42:38 hervorheben, in dem jene gepriesen werden, "die ihre Angelegenheiten durch Beratung regeln", erachten die Schura als wünschenswert. 15 In Erinnerung zu rufen ist, dass sich der erste Vers direkt auf eine bestimmte Entscheidung des Propheten bezieht und diesen unmittelbar anspricht, der zweite Vers aber eher in Form eines allgemeinen Prinzips gehalten ist. Vielleicht ist das der Grund dafür, weshalb traditionelle Islamgelehrte die Beratung nie als notwendiges und legitimierendes Element der Entscheidungsfindung betrachteten.
So befinden wir uns noch immer in einer Zwickmühle. Ohne Zweifel stellt die Schura die islamische Art der Entscheidungsfindung dar. Aber ist sie notwendig und obligatorisch? Wird eine Organisation oder eine Regierung unrechtmäßig, wenn sie kein Beratungsverfahren einleitet? Diese Frage können wir nicht mit Bestimmtheit beantworten. Eines aber ist erkennbar: Immer mehr muslimische Intellektuelle stimmen darin überein, dass eine Regierungsführung, die auf Beratung und Konsens beruht, die beste Art der Regierungsführung ist. Die muslimischen Rechtsgelehrten hingegen bleiben in dieser Frage entweder konservativ oder ambivalent. Viele von ihnen verlassen sich in ihrem Lebensunterhalt und selbst in ihrem religiösen Ansehen auf nicht-beratende Körperschaften und beeilen sich nicht, sich jener Vorteile zu berauben, die ihnen durch nicht-konsultative Regierungen entstehen. So liegt es in gewisser Weise auch an ihnen, dass jener Grundsatz noch nicht überall anerkannt ist, nach dem Regierungen in muslimischen Gesellschaften sich beraten müssen, um ihre Legitimität zu bewahren.
Aber selbst angenommen, die Schura wird zur Norm für islamische Institutionen, Bewegungen und Regierungen - bedeutet dies automatisch auch, dass eine Demokratisierung erfolgt? Ich bin in diesem Punkt hoffnungsfroh, aber skeptisch. Ich glaube nicht, dass die Schura und die Demokratie Institutionen gleicher Art sind. Nach meinem Empfinden unterschieden sich die Schura und die Demokratie in drei grundlegenden Dingen:
Erstens erlaubt die Demokratie anders als die Schura die Abänderung fundamentaler Texte. Man kann die Verfassung ergänzen, nicht aber den Koran oder die Sunna des Propheten. Auf den ersten Blick scheint dies kein Problem darzustellen, da Muslime definitionsgemäß dazu angehalten sind, die Primärquellen des Islam anzuerkennen. In der Praxis aber arbeitet man nicht mit diesen Quellen selbst, sondern mit ihren mittelalterlichen Interpretationen, und die Schura unterliegt in jeder Hinsicht dem früheren Verständnis islamischer Texte.
Im Gegensatz zu demokratischen Verfahren und Gesetzen, die nur durch ein demokratisches und nicht etwa durch einseitige und oligopolistische Verfahren aufgehoben werden können, ist die Schura zweitens nicht bindend.
Drittens scheint mir die Schura, so wie sie in islamischen Erörterungen diskutiert wird, eine Sache zu sein, die von einem Anführer bzw. Herrscher initiiert und erwartet wird. Bei der Schura konsultiert der Anführer Personen, von denen jedoch nicht klar ist, wer sie sind - Gelehrte, Verwandte oder die gesamte Gemeinschaft der Erwachsenen (Umma). Werden auch Frauen konsultiert? Was ist mit Homosexuellen, Lesben und Nicht-Muslimen? In einer Demokratie dagegen beraten die Menschen untereinander, wer die Regierungsgeschäfte ausübt und wie er dies tut. So gesehen verläuft die Schura von oben nach unten und die Demokratie von unten nach oben.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Schura wie die Demokratie ein höchst umstrittenes Konzept ist. Es ist die erfolgreiche und gerechte Praxis und Institutionalisierung dieses Konzepts, die mehr zählt als ideologische Finessen. Unglücklicherweise setzen wir uns mit diesen Fragen nicht ernsthaft auseinander. Zudem müssten immer mehr Muslime in diese Überlegungen eingebunden werden, um die theoretischen Reflexionen selbst zu einem Prozess der Schura zu machen. Wir sollten uns jedoch hüten, die Debatte über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Schura und der Demokratie als Ersatz für eine abschließende Bewertung der Frage zu nehmen, ob die Demokratie und der Islam miteinander vereinbar sind. Will man über die Natur einer guten Regierungsführung und der bestmöglichen Politik reflektieren, findet sich im Islam mehr als die Schura.
In islamischen Quellen und der islamischen Tradition deutet vieles darauf hin, dass die Demokratie ein Werkzeug sein könnte, die gewünschten Resultate islamischer Regierungsführung zu erzielen: soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Wohlstand und religiöse Freiheiten. Dazu jedoch muss innerhalb der muslismischen Gemeinschaften intensiver, ohne Einschüchterung und umfassender über die Notwendigkeit einer gedeihlichen Selbstverwaltung diskutiert und debattiert werden.
Der Demokratie werden in der muslimischen Welt nicht nur durch engstirnige Interpretationen des Islam oder faschistische Tendenzen einiger unzeitgemäßer islamischer Bewegungen Hindernisse in den Weg gestellt. Auch die herrschenden sozio-politischen Bedingungen, das Scheitern von Staaten und die negative Rolle fremder Mächte haben zu einem Umfeld beigetragen, das der Entwicklung von Demokratie nicht förderlich ist. Ich bin überzeugt, dass der Islam an sich kein Hindernis für Demokratie, Gerechtigkeit und Toleranz in der muslimischen Welt darstellt, sondern sie vielmehr erleichtert. Damit dies aber geschehen kann, müssen Muslime sich auf ihre Wurzeln besinnen und diese im Licht der zeitgenössischen Wirklichkeit und Komplexität neu verstehen lernen.
1 Übersetzung
aus dem Englischen: Susanne Laux, Königswinter. Vgl. Noah
Feldman, After Jihad: America and the Struggle for Islamic
Democracy, New York 2003.
2 Vgl. Bernard Lewis, Islam and Liberal
Democracy, in: Atlantic Monthly, 27 (1993) 2, S. 89.
3 Vgl. Abdulwahab El-Affendi, Democracy
and its Muslim Critics: an Islamic alternative to Democracy?, in:
Muqtedar Khan (Ed.), Islamic Democratic Discourse: Theory, Debates
and Philosophical Perspectives, Lanham, MD 2006, S. 227 -
256.
4 Diese Argumentationskette findet sich
bei Mumtaz Ahmad, Islam and Democracy: The Emerging Consensus, in:
Islamonline.net (6. 5. 2002) sowie
www.islamonline.net/english/Contemporary/2002/05/Article15.shtml.
Vgl. auch die Zusammenstellung von Essays in: Khaled Abou El
Fadl/Joshua Cohen/Deborah Chasman, Islam and the Challenge of
democracy, Princeton 2004 und M. Khan, ebd.
5 Dieses Phänomen wurde in
größerer Ausführlichkeit diskutiert: Muqtedar Khan,
The Myth of Secularism, in: E. J. Dionne Jr./Jean Bethke
Elshtain/Kayla M. Drogosz (Eds.), One Electorate under God? A
Dialogue on Religion and American Politics, Washington, D.C. 2004,
S. 134 - 139.
6 Eine ähnliche Argumentation
findet sich bei Dwitt B. Billings/Shaunna L. Scott, Religion and
Political Legitimation, in: Annual Review of Sociology, 20 (1994),
S. 173 - 202.
7 Vgl. Muqtedar Khan, Radical Islam,
Liberal Islam, in: Current History, 102 (2003) 668, S. 417 -
421.
8 Ein herausragendes klassisches
Beispiel für einen universellen Ansatz ist das Werk
"Muqaddima" des im 14. Jahrhunderts lebenden Rechtsgelehrten Ibn
Khaldun. Beispielhaft für den islamischen Ansatz steht das
Werk "Ahkam Alsultaniyah" von Abu al-Hassan al-Mawardi (972 - 1058
n. Chr.). In unserer Zeit sind die Arbeiten des iranischen
Philosophen Abdolkarim Soroush ein gutes Beispiel für den
universellen Ansatz bzw. die Arbeiten des verstorbenen Maulana
Maududi aus Pakistan für den islamischen Ansatz.
9 Vgl. Muqtedar Khan, The Islamic
States, in: M.Hawkesworth/M. Kogan (Eds.), Routledge Encyclopedia
of Political Science, London 2003.
10 Eine ähnliche Analyse des
Vertrags von Medina findet sich bei Ali Bulac, The Medina Document,
in: Charles Kurzman (Ed.), Liberal Islam: A Source Book, New York
1998. Zum vollständigen Wortlaut des Vertrags von Medina vgl.
M. H. Haykal, The Life of Muhammad, Indianapolis 1988, S. 180 -
183.
11 Vgl. M. H. Haykal, ebd., S.
180.
12 Vertreter der in Medina lebenden
Stämme hatten dem Propheten bereits ein Treuegelöbnis
geleistet und ihn aufgefordert, ihr Anführer zu werden, worauf
Historiker als Gelöbnis von Akkaba verweisen. Vgl. dazu A. H.
Siddiqui, The Life of Muhammad, Des Plaines 1991, S. 117 -
132.
13 Vgl. K. A. El Fadl u.a. (Anm. 4), S.
11.
14 Vgl. zum Beispiel John L.
Esposito/John O. Voll, Islam and Democracy, New York 1996.
15 Zur umfassenderen Diskussion dieses
Themas vgl. Muhammad S. El-Awa, On the Political System of the
Islamic State, Indianapolis 1980, S. 89f.