EU-HAFTBEFEHL
EU-Kommission zieht gemischte Bilanz
Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist löcherig wie ein Schweizer Käse. Das ergibt sich aus einem Bericht der EU-Kommission über die Umsetzung des Europäischen Haftbefehls in die Gesetzgebung der Mitgliedsländer. Jus-
tizkommissar Franco Frattini stellte ihn am 10. Juli in Brüssel vor. Zwar heißt es im Bericht: "Der Haftbefehl ist ein Erfolg", aber in der Praxis zeigen sich Probleme: Mehr als 6.900 Auslieferungsersuchen seien 2005 gestellt worden, doppelt so viele wie im Vorjahr. 1.700 Personen wurden festgenommen, 1.532 davon an den um Auslieferung ersuchenden Staat überstellt, resümierte der Komissar.
Frattini wies darauf hin, dass sich "die Fristen der Verfahren zur Überstellung gesuchter Personen durch die Justiz erheblich verkürzt haben." Wenn der Verhaftete sein Einverständnis gibt, in das ersuchende Land ausgeliefert zu werden, beträgt die Frist durchschnittlich elf Tage. Stimmt der Verhaftete nicht zu, wird er im Schnitt innerhalb von fünf Wochen überstellt. Ein Auslieferungsersuchen nach den alten Regeln dauerte hingegen oft mehr als ein Jahr. Ein Mitgliedstaat kann einen europäischen Haftbefehl ausstellen, wenn es um eine Straftat geht, die mit einer Höchststrafe von mindestens zwölf Monaten bedroht ist. Der Staat, in dem sich der Beschuldigte aufhält, kann die Auslieferung davon abhängig machen, dass er sich auch nach dessen Gesetzen schuldig gemacht hätte. Diese Ausnahme gilt aber nicht bei schwerer grenzüberschreitender Kriminalität wie Geldwäsche, Rassismus, Computerkriminalität oder Kinderpornografie.
Im Kleingedruckten zeigt sich allerdings, dass fast alle Mitgliedstaaten die Vorschriften des Rahmenbeschlusses nur mit Einschränkungen in nationales Recht übertragen haben. So liefert Italien nicht aus, wenn das Opfer mit der Tat einverstanden war, wenn höhere Gewalt im Spiel ist oder es sich um ein politisches Vergehen handelt. Auch schwangere Täterinnen oder Mütter mit Kindern unter drei Jahren werden nicht ins europäische Ausland überstellt. Dänemark liefert nicht aus, wenn dem Beschuldigten Folter, erniedrigende Behandlung oder ein nicht rechtsstaatliches Verfahren drohen oder wenn humanitäre Gründe dagegen sprechen.
Der dänische Ausnahmekatalog zeigt, woran es im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hapert: Am gegenseitigen Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Wenn der dänische Gesetzgeber davon überzeugt wäre, dass ein Angeklagter vor einem spanischen oder rumänischen Gericht mit der gleichen fairen Behandlung rechnen kann wie in Dänemark, hätte er den Europäischen Haftbefehl wahrscheinlich buchstabengetreu umgesetzt.
Thomas von Danwitz, Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, schrieb im März in der FAZ: "Schon die Auseinandersetzung über den europäischen Haftbefehl hat ergeben, dass die Forderung nach gegenseitiger Anerkennung entscheidend auf dem wechselseitigen Vertrauen in ein wohlgeordnetes Rechtssystem unter den Mitgliedstaaten beruht. Die Diskussion zwischen dem Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten hat überdies gezeigt, dass dieses Vertrauen noch nicht generell gewährleistet ist. Daher sollten sich die Gerichtsbarkeiten mit Umsicht bemühen, die gegenseitige Anerkennung schritthaltend mit der Entwicklung des gegenseitigen Vertrauens in die Leis-
tungsfähigkeit der jeweiligen Rechtssysteme zu entwickeln." Mit anderen Worten: Solange dieses Vertrauen nicht besteht, sollte der europäische Gesetzgeber keine Projekte vorantreiben, die ein derartiges Vertrauen voraussetzen.
Diese Linie scheint auch die EU-Kommission zu verfolgen. Statt den säumigen Ländern mit Vertragsverletzungsverfahren zu drohen, macht sie in ihren Jahresberichten die Defizite öffentlich und hofft auf die Wirkung des psychologischen Drucks. Das Instrument werde von Jahr zu Jahr stärker genutzt und das zeige die Akzeptanz durch die Mitgliedstaaten.
Deutschland hatte den Rahmenbeschluss zunächst zügig umgesetzt und damit auch eine Auslieferung deutscher Staatsbürger an ausländische Gerichte ermöglicht. Dieses Gesetz kassierte das Bundesverfassungsgericht im Juli 2005 mit der Begründung , der Grundrechtsschutz deutscher Staatsbürger sei nicht mehr gewährleistet. Nach der überarbeiteten Fassung ist eine Auslieferung Deutscher nicht mehr möglich, wenn die Straftat einen "maßgeblichen Inlandsbezug" hat. Zudem muss in jedem Einzelfall die Verhältnismäßigkeit der Auslieferung geprüft werden.