Ballin-Stadt
Ein neues Museum in Hamburg erzählt von den Wünschen und Träumen der Auswanderer
Port of Dreams - Hafen der Träume" verkündet romantisch-verklärend der Schriftzug am Schiffsanleger. So, ob es sich um die Hollywood-Neuverfilmung eines Federico Fellini Klassikers handeln würde. Dahinter stehen drei hufeisenförmige Backsteinhallen unter dem wolkenverhangenen Himmel. Die "BallinStadt - Auswandererwelt Hamburg" hebt sich mit ihrem rötlich-schimmernden Ziegelprofil nur unscheinbar von der Umgebung ab.
Hier an der Veddel, im Südosten Hamburgs, wanderten zwischen 1850 und 1939 fünf Millionen Europäer nach Nordamerika aus: "Es war eine Stadt in der Stadt. Hier konn-ten bis zu 5.000 Menschen gleichzeitig untergebracht werden. Das hatte schon kleinstädtischen Charakter", sagt Ursula Wöst. Es gab eine eigene Kirche, eine Synagoge, 30 Wohn- und Schlafpavillions, so die Historikerin. Eine Stadt, in der sich aber niemand auf Dauer einrichten sollte und mit ständig wechselnder Bevölkerung. Albert Ballin, Generaldirektor der Hapag (Hamburg-Ameri-kanische Packetfahrt-Actiengesellschaft), hatte die Auswandererhallen zwischen 1901 und 1907 erbauen lassen.
Keine Heimat, sondern ein Ort des Abschieds, ein effizient organisiertes Provisorium.
Ballin wurde 1857 in Hamburg als jüngstes von 13 Geschwistern einer jüdischen Familie geboren. Der Reeder, der über gute internationale Verbindungen verfügte, hielt engen Kontakt zu Kaiser Wilhelm II., bei dem er sich vergeblich um eine deutsch-englische Verständigung bemühte.
Ballin, der als entschiedener Gegner des Ersten Weltkrieges vergeblich das Massensterben auf den Schlachtfeldern vor Verdun und anderswo zu verhindern suchte, beging 1918 Selbstmord - aus Frust über die Zerstörung seins Lebenswerkes.
Vor allem Deutsche und Polen waren es, die den Sprung über den großen Teich wagten, aber auch Litauer, Letten, Russen und Ukrainer -unter ihnen größtenteils Juden. Hungersnöte, Überbevölkerung und antisemitische Pogrome im Zarenreich standen damals auf der Tagesordnung. 60 Prozent der Auswanderer kamen aus Osteuropa.
"Seit den 1870er-Jahren wurde verstärkt ein Agentennetz in Ostelbien aufgebaut", so der Migrationsforscher Jochen Oltmer "und mit dem Ende der deutschen Auswanderung versuchen diese hanseatischen Transatlantiklinien, die sehr gut am Transport verdient haben, außerdeutsche Gebiete für die Auswanderung zu erschließen."
Dass sich noch heute nachvollziehen lässt, wer wann wohin reiste, ist den vollständig erhaltenen Passagierlisten zu verdanken. Darin wurden Name, Geburtsort, Wohnort, Beruf der Emigranten und das Schiff notiert. In jahrelanger Arbeit wurden diese Daten vom Staatsarchiv Hamburg digitalisiert. Sie sind den Besuchern der BallinStadt als familienkundliche Quelle frei zugänglich. In enger Zusammenarbeit mit Ancestry, dem weltweit größten Anbieter von genealogischen Daten im Internet, wurde ein Familienforschungsbereich eingerichtet, der den Besuchern kostenfrei zur Verfügung steht.
Eine Erlebniswelt will die BallinStadt dem Besucher eröffnen hier an historischer Stätte mit originalgetreu rekonstruierten Gebäuden zwischen Elbbrücken, Hafenbecken und Dönerbuden, wo der Migrationsanteil von Türken und Afrikanern in der Freien und Hansestadt am höchsten ist, wo gesichtslose Mietskasernen neben der Autobahnauffahrt stehen und nur selten großstädtisches Flair aufkommt.
Rund 9 Millionen Euro hat die Hamburg in das Museumsprojekt investiert. Dazu kamen noch einmal Spenden von rund 4 Millionen Euro durch private Sponsoren, darunter Hapag-Lloyd und die Norddeutsche Raffinerie. Davon wurden großzügige Ausstellungshallen gebaut, ein Museumspark und ein eigener Schiffsanleger. Die Betreibergesellschaft LeisureWorkGroup rechnet damit, dass die Nachfahren der Auswanderer nun zurückkommen werden, um in Hamburg nach ihren Wurzeln zu suchen. Rund 150.000 Besucher pro Jahr, hoffen jedenfalls die Museumsmacher.
Im Inneren der Ausstellungshallen hat man das Gefühl, Fremder und Entdecker zugleich zu sein. Überall stehen Koffer herum, hängen Passagierlisten und wie Gemälde umrahmte Flachbildschirme an den Wänden. Man geht durch sterile, aber detailgetreu angefertigte Kulissen wie dem Immigrationsamt von Ellis Island in New York, wo die Registrierung, die Kontrolle der Personalien und Gesundheitsuntersuchung vorgenommen wurde.
Im Mittelpunkt des Multimedia-Museums stehen sprechende, menschengroße interaktive Puppen, die in historischen Beinkleidern stecken. Sie sitzen auf Bänken und erzählen von ihren Hoffnungen und Wünschen als Auswanderer. Ob die Fantasielosigkeit der Kostümierung oder die Naivität der Texte schwerer wiegt, lässt sich nicht immer eindeutig entscheiden: "Hallo, mein Name ist Heinz. Ich bin zehn Jahre alt. Aber jetzt heiße ich Harry. Das ist mein amerikanischer Name. Ich wurde 1897 geboren, meine Heimatstadt heißt Essen. Meine Eltern arbeiten beide in einer Fabrik, in der an großen Öfen Stahl hergestellt wird. Mein Onkel lebt seit drei Jahren in Amerika. Er schreibt uns immer Briefe, wie gut es ihm dort geht. Mein Vater möchte auch nach Amerika gehen und dort leben. Er findet, die Arbeiter werden hier zu sehr ausgenutzt. Sie haben wenig Rechte, müssen zu viel arbeiten und werden zu schlecht versorgt, wenn sie alt oder krank sind."
Und schon ist man mittendrin in dieser heimeligen Geschichtsdarstellung der BallinStadt. Der Besucher als Teil der Geschichte: Hätte ich genauso gehandelt, soll man sich fragen. Wäre auch ich ausgewandert wie die Familie Steinway oder der KetchupHersteller Heinz, die beide ihre Wurzeln in Deutschland hatten?
Man habe das Konzept extra auch auf Kinder zugeschnitten, sagt Historikerin Wöst. Das klingt fast schon entschuldigend. Es gibt viele Knöpfe zu drücken und Schiffsgänge zum Kriechen. Ein stilisierter Schiffsbug im Wasser stehend soll wie das gesamte Projekt den Eindruck des Authentischen vermitteln. Alles ist quadratisch, praktisch, modern gestaltet. Aber bei all diesen inszenierten Räumlichkeiten: Wird das Leben der Auswanderer nicht auf die bloße Materialität von Betten und Passagiertickets reduziert? Besteht da nicht die Gefahr, Biografisches zu banalisieren?
"Nein, überhaupt nicht", sagt Ursula Wüst und weist den Vorwurf entschieden zurück: "Sehr viel der Geschichte entwickelt sich bei uns über authentisches Material. Wir haben sehr viel einfach zu lesenden Text. Weit über 100 Seiten. Wir versuchen, verschiedene Kanäle der Wissensvermittlung zu nutzen - dazu gehören große Bilder, Audioelemente oder ein Computerspiel für Jugendliche."
Ein neues Wahrzeichen der Freien und Hansestadt will die BallinStadt werden. Nur: Das Elend der Auswanderer während der wochenlangen Schiffspassage, die Not der von gerissenen Schleppern finanziell Ausgenommenen, das Schreien der Kinder, der Geruch von Schweiß in überfüllten Schlafsälen - davon lässt sich in den frisch renovierten Hallen nichts spüren. Überhaupt sei das ganze BallinStadt-Projekt überflüssig, da es in Bremerhaven mit dem EU-prämierten "Deutschen Auswandererhaus" bereits eine großartige Ausstellung gäbe, haben Kritiker bereits im Vorwege eingewandt.
"Ein erklärtes Ziel seitens der Stadt Hamburg ist", sagt Wöst, "amerikanische Touristen auf ihrer Reise durch Europa stärker nach Hamburg zu ziehen. Man möchte im internationalen Tourismus aufholen, und da ist die BallinStadt ein geeignetes Thema." Marketing als Geburtshelfer für eine Ausstellung über Auswanderung und Migration - Hamburgs Stadtobere sind stolz auf "ihre" BallinStadt. Politik, Stadtentwicklung und Tourismus gehen Hand in Hand. Noch gibt es keine Auswanderer-Andenken-Industrie, keine Kaffeetassen mit Albert Ballins Konterfei, keine Schokoladen oder T-Shirts mit dem Hafen-der-Träume-Logo - noch!
Und wessen soll hier in Hamburg überhaupt gedacht werden: dem Hapag-Lloyd-Gründer Albert Ballin, der das Unternehmen zur größten Reederei der Welt führte? Den fünf Millionen Auswanderern und ihren Nachkommen in den USA? Den Menschenhändlern oder Agenten der Schifffahrtsgesellschaften? Nach einer Antwort sucht man vergeblich.