Karl-Rudolf Korte
Die Linke verändert das Parteiensystem. Darin steckt auch ein Risiko für sie, sagt der Politikwissenschaftler.
Herr Korte, seit Gründung der "Linken" ebbt die Diskussion der SPD über die eigene Positionierung gegenüber dieser neuen politischen Kraft nicht ab. Beschreiben Sie einmal den Zustand der Sozialdemokraten.
Sie suchen nach ihrer Identität und haben auch deshalb eine Grundsatzprogrammdiskussion begonnen. Die SPD befindet sich momentan in einer Art Selbstfindungs- phase.
Auch andere Parteien feilen an neuen Grundsatzprogrammen.
Die drei großen Volksparteien sind zur Zeit von strategischer Unsicherheit geprägt und arbeiten im Prinzip noch ihr Bundestagswahlergebnis ab. Alle drei sind Sozialstaatsparteien, die bei der letzten Bundestagswahl erkennen mussten, dass die Sozialstaatlichkeit eben auch Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland ist. Offenbar waren die Antworten darauf damals nicht adäquat erkennbar für die Wähler, sonst wäre die Wahl anders ausgegangen.
Sind sie diesen Antworten inzwischen näher gekommen?
Ja. Die Renaissance des Sozialen ist seit der Wahl 2005 messbar. Für die Parteien geht es jetzt darum, deutlich zu machen, wofür sie selbst stehen. Parteien sind nicht nur Machterwerbsorganisationen, sondern auch Problemlösungsagenturen. Sie müssen auf die zentralen Konflikte einer Gesellschaft Antworten geben, mit Programmen, mit Personen, mit Strategien.
Aber zu neuen Antworten scheinen sie sich oft, zum Beispiel beim Thema Mindestlohn, nicht durchringen zu können?
Es gibt Themen, die ideologisch so aufgeladen sind, dass auch nicht zu erwarten ist, dass ein herkömmliches Dissensmanagement zu einem Ergebnis führen wird. Ein Stillhalteabkommen über bestimmte Themen ist dann besser, als die Versuche, einen Minimalkonsens auszuhandeln.
Man weiß gerade nicht, was schlimmer für die SPD ist: die Große Koalition oder die neue Konkurrenz am linken Rand?
Die Ausgangslage der SPD ist nicht schlecht, weil sie multikoalitionsfähig ist wie kaum eine andere Partei. Es ist kaum eine strategische Konstellation bei einer zukünftigen Regierungsbildung ohne SPD-Beteiligung vorstellbar. Zudem hat die Diskussion über das Grundsatzprogramm auch deutlich gemacht, wie die SPD das Soziale neu denken möchte. Wenn die SPD es schafft, wieder zum zentralen Ansprechpartner für soziale Gerechtigkeit zu werden, muss sie sich vor der Linken nicht fürchten.
Kann man die Situation der Linken heute mit der der Grünen in den 80er-Jahren vergleichen?
Inhaltlich nein, aber parteistrategisch ja: Die Grünen haben damals einer neuen, bedeutenden ökologischen Konfliktlinie auf der Wohlfahrtsskala programmatischen Ausdruck und personales Profil gegeben. Dieses avantgardistische Spürgefühl für gesellschaftliche Erneuerung ist bei den Linken momentan nicht zu erkennen. Aber auch die Linken sind eine Defizitpartei, die als Partei der sozialen Empörung etwas abbildet, was die Wähler bei den anderen Parteien vermissen. Solange das bleibt, wird sie ebenso wie die Grünen Bestand haben.
Einmal abstrahiert von konkreten Forderungen: Visionen scheinen derzeit keinen großen Stellenwert in der Politik zu besitzen. Was zählt ist das Machbare, und das wird dann möglichst schnell und ohne große Diskussion durchgedrückt. Aber müssen die Parteien ihren Wählern und Mitgliedern nicht mehr bieten? Denen scheinen diese Visionen oft zu fehlen?
Auf jeden Fall. Man muss nicht gleich eine Vision bieten, aber zumindest eine wärmende Leitidee. Man muss Politik begründen. Und Mehrheiten für Unpopuläres kann man in einer Demokratie nur über eine Kommunikationsstrategie erreichen, die auch den Namen verdient. Die Logik der Sachzwänge ist out. Politik überzeugend zu erklären, ist viel anstrengender als betriebswirtschaftliche Ziel-Leistungs-Vereinbarungen zu organisieren.
Die Grünen haben es auch nicht leicht gerade: Angela Merkel macht ihnen ihren Öko-Bonus streitig, und nun kommt auch noch eine neue linke Partei daher.
Die Grünen sind in einer sehr komfortablen Lage, weil praktisch jede neue Koalition nur mit ihnen zustande kommen kann - perspektivisch betrachtet, wenn wir nicht nur mit Großen Koalitionen rechnen. Die Grünen haben insofern für jeden etwas im Gepäck, weil sie in der Wahrnehmung kulturell links stehen, aber soziologisch, von den Wählern her, rechts. Es wundert deshalb nicht, dass die Brautschau der Union und der SPD zur Zeit durch den Blick auf die Grünen geprägt wird. Die Grünen bilden viel an moderner Bürgerlichkeit ab und schaffen es, Askese und Wohlstand zu vereinen. Sie sind interessant für breite Wählerschichten. Zur Zeit ist ihnen das Umweltthema unter der Ökonomie der Aufmerksamkeit in einer Mediendemokratie entzogen worden: Die Mehrheit der Bürger sieht dennoch das Umweltthema bei den Grünen am besten aufgehoben. Insofern ist das nach wie vor der Markenkern der Grünen.
Als Partei links von der Mitte scheint die Linke auf den ersten Blick nur für SPD und Grüne gefährlich? Können sich Union und FDP entspannt zurücklehnen?
Nein. Bei jeder Mehrheitsbildung wird ein Fünf- oder Sechsparteienparlament eben auch maßgeblich von den Linken mitbestimmt. Mehrheitsbildungen werden dann wie in anderen europäischen Ländern nur noch über drei Parteien funktionieren.
Und was die Themen angeht: Auch Union und FDP müssen sich den Herausforderungen der Linken stellen. Die Linken werden zur Zeit als Schutzmacht der so genannten kleinen Leute wahrgenommen. Aber sowohl die Verlierer von Reformprozessen als auch Verlierer der deutschen Einheit zwingen Union und FDP, sich den Gerechtigkeitsfragen im neuen Gewande zu stellen.
Aus Sicht der Linken ist das doch durchaus schon ein Erfolg.
Ja eindeutig. Selbst der letzte FDP-Parteitag hat das Soziale in den Mittelpunkt gestellt. Warum setzen sich auch die Grünen wieder deutlicher als früher mit Afghanistan oder der Globalisierungskritik auseinander? Da wird der öffentliche Thematisierungsdruck durch die Linke schon sichtbar. Unter diesem Druck, dass links sich etwas manifestiert, was mehr als ein Tagesereignis ist, verändern sich alle Parteien. Das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung. Insofern steckt darin auch gleichzeitig das Risiko für die Linke, sozusagen die Erfolgsfalle. Sobald die anderen glaubhaft die Themen der Linken in ihre jeweilige Parteitradition überführen, fehlt den Linken der Zulauf.
Probleme mit ihren Stammwählern scheinen alle Parteien momentan zu haben. Sterben die Stammwähler, wie wir sie bisher kennen, aus?
Der Stammwähler stirbt nicht aus. Aber der Anteil von Stammwählern am Gesamtwahlaufkommen und damit auch deren Einfluss auf das Wahlergebnis wird geringer. Man kann nicht sagen, dass schon alle Deutschen Orientierungsnomaden geworden sind. Aber die Wähler wählen viel nutzenorientierter und viel weniger bindungsorientiert als in früheren Zeiten.
Würden Sie von einer grundlegenden Erschütterung des deutschen Parteien- systems reden?
Da ist ein europäischer Luftzug durch unser Parteiensystem gegangen. In vielen Ländern gibt es mehr Parteien als bei uns, auch im Parlament. Es gibt Minderheitsregierungen, es gibt Vielparteienregierungen. Diese deutsche Oase an verlässlicher Stabilität, was das Regieren anbelangt, das ist hier vorbei. Aber das bedeutet keine Erschütterung unserer Aufregungsdemokratie.
Die Zukunft von Dreier-Koalitionen macht die Parteien zunehmend nervös.
Ja, aber aus Wählersicht ist das gut. Denn umso mehr werden sie sich wieder um uns bemühen, um uns als Wähler zu gewinnen. Sie müssen wieder versuchen, als Problemlöser aufzutreten und nicht nur als Obertaktierer.
Das Interview führte Claudia Heine