Literarische reise
Ein aufwühlendes Buch auf den Spuren der Baumwolle
Um die Globalisierungen zu verstehen, die von gestern und die von heute, muss man nur ein Stückchen Stoff einer eingehenden Untersuchung unterziehen. Zumindest erscheint dies Érik Orsenna so. Der 60-jährige französische Autor, Ökonom und Philosoph, Mitglied der Académie Francaise und Direktor des Centre international de la mer, der einmal Francois Mitterand beraten hat und mittlerweile Ségolène Royal berät, hat, um "seinen Planeten" besser zu verstehen, ein aufregendes Material gefunden. Sein neues Buch, eine Mischung aus Reportage, Essay und Erzählung, schildert eine Reise auf den Spuren einer Pflanze, die "Millionen Männer und Frauen aller Kontinente" beschäftigt: Sie stammt aus der Familie der Malvengewächse und wird auf lateinisch Gossypium genannt. Auf deutsch heißt sie Baumwolle. Orsenna hat sie zwei Jahre lang überall aufgesucht, hat ihre Wege von der Landwirtschaft über die Biochemie zur Textilindustrie verfolgt. Und zahlreiche Gespräche geführt.
In sieben geografisch gegliederten Kapiteln schildert er seine Begegnungen in malischen Dörfern und im texanischen Lubbock, spricht er mit amerikanischen Großproduzenten und brasilianischen Farmarbeitern, mit Lastwagenfahrern und Staatspräsidenten, befragt er usbekische Ex-Kommunisten und chinesische Neu-Kapitalisten. Die Baumwolle - Orsenna nennt sie "das Hausschwein der Botanik" - bewegt alle und alles, Arbeiter und Fabrikdirektoren, Zwischenhändler und Lobbyisten, westliche Millionäre und Großfamilien in Burkina Faso.
All zu leicht hätte das Buch in den populären Kanon der Antiglobalisierung einstimmen können. Doch dieser "Bericht eines langen Spaziergangs" bietet keine einfachen Antworten. Das Buch schildert und plaudert, es erzählt in vielen kleinen Stories eine große Geschichte - am Beispiel eines Rohstoffs, der ein "Kosmos ist mit seiner eigenen Mythologie, seiner Sprache, seinen Kriegen, seinen Städten, seinen Bewohnern".
Die Baumwolle liefert den Grundstoff für unzählige Produkte und treibt bisweilen groteske Blüten. In Koutila beispielsweise warten Lkw zu Hunderten wochenlang vor den Fabriktoren, weil keiner an den Bau von Lagerhallen gedacht hat: Der Stoff wird direkt in den Lastwagen verarbeitet.
Érik Orsenna führt vor, welche Diktate jede Globalisierung bedeutet. Doch so wenig er die Zusammenhänge theoretisch abhandelt, so wenig er ein Sachbuch geschrieben hat, so wenig leidet sein Stil. Er hat sich - auch davon erzählt sein Buch - in die Baumwolle verliebt, in ihre Landschaften und ihre Dimension. Deshalb schreibt er neben der Fülle an Information und Anekdoten poetisierend. Er bezeugt die Schönheit einer Pflanze mit ästhetischen Mitteln.
Gleichzeitig aber bleibt Orsenna politisch, das jedoch subtil, zwischen den Zeilen, beobachtend und schildernd.
Gegen die Fülle an Recherche und eine geradezu protokollarische Insistenz hat Orsenna ans Ende das Kapitel "Schlussfolgerungen" gesetzt, die Auswege aus der Problematik andeuten.
Schließlich kommt er auf den Ausgangspunkt zurück, an dem ein Mensch die Weichheit der Baumwolle entdeckt, und zu dem Schluss, dass 2.000 Jahre später die erste Lektion seiner Weltreise die folgende ist: Dass auf dieser Erde jene Weichheit ein "seltenes und teuer bezahltes Gut" sei. Zu Beginn heißt es, jeder Rohstoff erzähle seine eigene Geschichte und auch die des gesamten Planeten. Das Buch weckt also kritische Reflexion und bietet zugleich Lesegenuss. Es hat eine unbestechliche Dramaturgie, die uns die Gegenwart der "globalisierten Welt" unmittelbar demonstriert. Nicht umsonst wurde Orsenna, der 1978 den Prix Roger Nimier und 1988 den Prix Goncourt erhielt, für diesen großen Bericht mit dem Ulysses Award ausgezeichnet, der höchsten Ehrerweisung für Reportageliteratur.
Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere gloabalsierte Welt.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 288 S., 18,90 ¤