STUTTGART 21
Im Poker um das unterirdische Prestigeprojekt und den Streckenneubau nach Ulm steht der Durchbruch bevor
Die gute alte schwäbische Eisenbahn in allen Ehren, aber so darf es nicht weitergehen. Es könne doch nicht sein, beschwört Ministerpräsident Günther Oettinger die Malaise, dass der TGV mit fast 200 Stundenkilometern "Paris nach Stuttgart rast und dann mit Tempo 30 über die Schwäbische Alb nach München weiterzuckelt". In der Landeshauptstadt, in Berlin und in Brüssel gibt es niemanden, der in dieses Klagelied nicht einstimmt.
Die Situation mutet skurril an. Mit großem Pomp wurde jüngst die TGV-Strecke zwischen der Seine und dem Neckar über Straßburg und Karlsruhe eingeweiht: Doch mit dem Temporausch ist östlich von Stuttgart wegen des Albaufstiegs Schluss. Das ist nicht nur misslich für Reisende, die nach Ulm oder München wollen: Es leidet auch der internationale Ruf des sich gern als Hightech-Region inszenierenden "Musterländles". Als Nummer 17 firmiert die Linie Paris-Stuttgart-München-Wien-Bratislava auf der EU-Liste kontinentaler Hochgeschwindigkeitsmagistralen, deren Ausbau ein zentrales Element beim Verbund nationaler Verkehrsnetze in der EU ist: Diese Verbesserung der Infrastruktur soll helfen, die ehrgeizigen wirtschaftlichen Wachstumsziele der im Jahr 2000 beschlossenen "Lissabon-Strategie" zu erreichen. Der Klimaschutz liefert inzwischen zusätzliche Argumente für kontinentale Superzüge: Die Bahn soll den schadstoffintensiven Konkurrenten Auto und Flugzeug Passagiere abjagen.
Nun aber scheint auch auf der Alb zwischen Stuttgart und Ulm das 21. Jahrhundert Station zu machen. Die Anzeichen deuten jedenfalls darauf hin, dass am 19. Juli SPD-Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, der CDU-Politiker Oettinger und Bahnchef Hartmut Mehdorn bei einem Spitzentreffen nach jahrelangem Poker um die Knete die Finanzierung dieses zwei Milliarden teuren Projekts stemmen könnten. Wenn alles klappt, dürfte mit dem Neubau der Strecke Stuttgart-Ulm 2009 oder 2010 begonnen werden. In Betrieb gehen wird diese Linie, welche die Fahrzeit erheblich verkürzen soll, vermutlich 2018.
Dass um dieses Vorhaben so hartnäckig gerungen wird, verwundert auf den ersten Blick: Im Prinzip sind nämlich Schienennetze aus der Bundeskasse zu finanzieren. Doch das Verkehrsressort hat seine Mittel für diesen Bereich bis 2017 verplant, ohne eine spezielles Finanzierungsmodell für den Südwesten würde aus dem neuen Albaufstieg so schnell nichts werden. Vor allem aber ist die Strecke Stuttgart-Ulm eng verflochten mit dem Prestigeprojekt Stuttgart 21.Hinter diesem Titel verbirgt sich die mindestens 2,8 Milliarden Euro teure Umwandlung des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation. Eine Gigantomanie: Die Schwaben, die ihrem Nimbus als Geizkragen nicht immer gerecht werden, wollen es schon eine Nummer größer. Die satte Summe von fast 5 Milliarden Euro steht also auf dem Spiel, und deren Finanzierung will zwischen der Bahn, Berlin, der Landesregierung, der Stadt Stuttgart und regionalen Gebietskörperschaften erst einmal gewuchtet werden: Die Kombination aus der Neubaulinie nach Ulm und aus Stuttgart 21 zählt bundesweit zu den bedeutsamsten Infrastrukturinvestitionen.
Sollten sich Tiefensee, Oettinger und Mehdorn am 19. Juli einigen, so ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen: Die Landesregierung, die Stadt Stuttgart mit CDU-OB Wolfgang Schuster und regionale Instanzen müssen dann klären, wie sie die Zahlungen untereinander aufteilen. Aufgrund der mit Tiefensee und Mehdorn zu treffenden Vereinbarung über die Belastungen für Bund, Land und Bahn, so Oettinger, entschieden dann die Gremien im Südwesten, "ob wir das Projekt zu den dann bekannten Konditionen haben wollen". Der Clinch "um sehr, sehr viel Geld" (Oettinger) lässt die kontinentalen Schienenvisionen und die urbanen Perspektiven für die Landeshauptstadt, die Stuttgart 21 eröffnet, in den Hintergrund treten.
Um Stuttgart 21 wird schon 13 Jahre lang gefochten, und stets stand der Zoff um den Zaster im Vordergrund. Mit Lobbyarbeit suchen die Schwaben Tiefensee ins Boot zu holen. SPD-Politiker wie etwa Ute Kumpf als Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion antichambrieren, im Kabinett rühren die CDU-Minister Wolfgang Schäuble und Annette Schavan die Trommel. In der Regierung, so wird kolportiert, liege die Parole "Vergessen Sie unser Bahnhöfle nicht" in der Luft. Oettinger inszenierte eine PR-Kampagne mit baden-württembergischen Promis, um für das "Jahrhundertprojekt" (CDU-Landtagsfraktionschef Stefan Mappus) zu mobilisieren: Ex-Arbeitsminister Walter Riester (SPD), der frühere Ministerpräsident Lothar Späth (CDU), die TV-Stars Harald Schmidt und Alfred Biolek, der Philosoph Peter Sloterdijk wie die Automanager Wendelin Wiedeking und Dieter Zetsche ließen sich einspannen. Späths griffiges Motto: "Berlin hat seinen Bahnhof, wir wollen ihn jetzt auch."
Seit dem Herbst wurde die mehrmals angekündigte Einigung zwischen Tiefensee, Oettinger und Mehdorn immer wieder verschoben. Auf Druck des SPD-Ressortchefs musste die Wirtschaftlichkeitsrechnung für Stuttgart 21 noch einmal genau durchkalkuliert werden. Nun soll am 19. Juli der Durchbruch gelingen - vorausgesetzt, es taucht in letzter Minute nicht noch ein Stolperstein auf. Es müssten noch einige wenige "lösbare, aber nicht einfache Hausaufgaben" angepackt werden, so Oettinger. Auch wenn keine Details nach außen dringen, so zeichnen sich doch die Grundrisse einer Lösung ab.
Ursprünglich wollte die Landesregierung die Strecke Stuttgart-Ulm mit 500 Millionen Euro vorfinanzieren und sich diese Summe später von Berlin zurückzahlen lassen, um einen raschen Baubeginn zu ermöglichen. Jetzt scheint Finanzminister Gerhard Stratthaus von den 2 Milliarden Euro etwa 700 Millionen voll übernehmen zu wollen. Da Tiefensee aufgrund sprudelnder Steuereinnahmen mehr Geld zur Verfügung hat, wird der Bund auf der Schwäbischen Alb früher einsteigen können als vorgesehen.
Für Stuttgart 21, also die unterirdische Durchgangsstation, soll die Bahn 1,2 bis 1,4 Milliarden Euro locker machen. In Tiefensees Kasse sind für den Superbahnhof bislang 500 Millionen Euro eingeplant. Der Rest der 2,8 Milliarden Euro entfällt auf die Landesregierung, die 600 Millionen Euro aus Nahverkehrsmitteln beisteuern will, die Stadt Stuttgart, den Regionalverband und den örtlichen Flughafen. Das Stuttgarter Rathaus hat der Bahn überdies für 450 Millionen Euro Grundstücke abgekauft, die durch die Tieferlegung des Bahnhofs oberirdisch frei werden. Gestritten wird in erster Linie über die Absicherung der Kostenrisiken, die von der Bahn auf bis zu eine Milliarde Euro geschätzt werden: In Stuttgart müssen 33 Kilometer Tunnel gegraben werden, und die sind noch stets teurer geworden als erwartet. Besonders von solchen Zusatzausgaben will sich Tiefensee freihalten: Es gelte, "böse Überraschungen" auszuschließen. Für diese Risiken werden wohl die Bahn und die Geldgeber im Südwesten geradestehen müssen.
Offen ist, wie viel die EU springen lässt: Zwischen 200 und 400 Millionen Euro könnten es sein, die für Stuttgart 21 und die Linie nach Ulm im Rahmen des TEN-Budgets der EU fließen. TEN steht für "Transeuropäische Netze".
Oettinger mahnt OB Schuster, für Stuttgart 21 tiefer als bislang geplant in die Tasche zu greifen. Immerhin ist die Stadt der größte Profiteur. Der Bau des Tiefbahnhofs ist mit einer Runderneuerung des Nah- und Fernverkehrs in der Region verbunden: 33 Kilometer Tunnel werden gebohrt, Flughafen und Messe vor den Toren der Stadt erhalten ICE-Anschlüsse. Auf dem jetzigen Bahnhofsgelände werden 130 Hektar frei für ein komplettes Quartier: In futuristischen Skizzen sind Einkaufszentren, Büros, Wohnungen und Gastronomie zu besichtigen.
Die Phalanx der Befürworter von Stuttgart 21 ist übermächtig: CDU/FDP-Regierung, SPD-Opposition, Wirtschaft und Gewerkschaften ziehen an einem Strang. Da haben Grüne und Umweltverbände mit ihrer Kritik kaum Chancen. Die neue Strecke nach Ulm wird auch von diesem Lager befürwortet. Statt eines Tiefbahnhofs kämpfen die Opponenten jedoch für die Sanierung des derzeitigen Kopfbahnhofs, die nach ihren Schätzungen eine Milliarde bis eineinhalb Milliarden billiger käme.
Winfried Hermann, Verkehrspolitiker der Grünen im Bundestag, argwöhnt, dass Stuttgart 21 noch wesentlich teurer werde als kalkuliert. "Schönrechnerei" prangert Werner Wölfle an, Hermanns Kollege im Südwest-Landtag. Der Verkehrsclub Deutschland spricht von einem "Fass ohne Boden". Die Grünen werfen Oettinger vor, eine Milliarde Euro und möglicherweise noch mehr im Landesetat für ein überdimensioniertes Projekt zu reservieren. Hermann spießt einen "schwäbischen Schildbürgerstreich" auf: Für eine Ertüchtigung des heutigen Kopfbahnhofs müssten Bundesregierung und Bahn alleine zahlen, während die neue Durchgangsstation Land und Stadt Unsummen kosten werde. Die Kritiker plädieren dafür, die für Stuttgart 21 eingeplanten Landesgelder lieber in die S-Bahn in der Region Stuttgart und in den Nahverkehr in ganz Baden-Württemberg zu stecken, um so zumindest die Kürzung bei den Regionalisierungsmitteln des Bundes auszugleichen: Weil der Südwesten aus diesem Topf weniger Geld erhält, wird der öffentliche Verkehr landesweit um zwei Millionen Fahrkilometer ausgedünnt.