TÜRKEI
Obwohl die Zustimmung zur EU sinkt, verdankt Erdogan seinen Wahlsieg auch seiner pro-europäischen Haltung
Bei den Wahlkampfreden auf den Marktplätzen Anatoliens hat Europa in den vergangenen Monaten kaum eine Rolle gespielt - in den Wahlkabinen zwischen Bosporus und Ararat aber offenbar schon. Den überwältigenden Wahlsieg der fromm-konservativen AK-Partei des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan führen Experten unter anderem auch auf die pro-europäische Haltung der Partei zurück. Nicht umsonst versprach Erdogan noch in der Wahlnacht, seine Regierung werde das Ziel der EU-Mitgliedschaft weiter mit Entschlossenheit verfolgen.
Auf den ersten Blick mag dieses klare Bekenntnis Erdogans zu Europa erstaunen - schließlich ist die Europa-Begeisterung der Türken in den vergangenen Jahren sehr zurückgegangen. Doch die Wahl offenbarte eine soziale Umwälzung im Land, die Europa für Millionen von Wählern wichtiger werden lässt. "Die Türkei entwickelt sich von einer dörflich geprägten Gesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Mittelschicht", erklärt Can Paker, Chef des angesehenen Sozialforschungsinstitutes TESEV. "Für eine Mittelschichts-Gesellschaft werden persönliche Freiheitsrechte und Demokratie wichtiger - diese Menschen unterstützen die Bemühungen um einen EU-Beitritt." Die Wähler sahen diese Ziele bei der AK-Partei besser aufgehoben als bei anderen Parteien.
Erdogan ist der Vertreter dieser neuen anatolischen Mittelschicht, die zwar religiös und fromm, zugleich aber auch politisch und wirtschaftlich weltoffen ist. In konservativen Städten wie Kayseri oder Konya boomt die Wirtschaft seit einigen Jahren - als Heimat der "islamischen Calvinisten" werden die von mittelständischen Unternehmen geprägten Städte beschrieben. Dieser aufstrebende Teil der türkischen Gesellschaft ist es, der sich am meisten von der Fortsetzung der demokratischen und wirtschaftlichen Reformen verspricht. Die alten Eliten in Staat, Armee und Bürokratie dagegen befürchten, dass sie durch die EU-Reformen ihre traditionellen Machtbefugnisse einbüßen.
Erdogan hat diese Trends früher und klarer
erkannt als andere türkische Parteipolitiker. Während die
kemalistische und nationalis-
tische Opposition vor der Wahl eine Abkühlung der Beziehungen
zu Europa ankündigten, wies Erdogans AK-Partei in ihrem
Wahlprogramm auf die Vorteile hin, die die Türken selbst aus
den Europa-Reformen ziehen könnten.
Umfragen zufolge befürwortet zwar nur noch jeder zweite Türke eine EU-Mitgliedschaft seines Landes, doch bei der Anhängerschaft der AKP liegt der Anteil der Europa-Freunde bei 70 Prozent. Das zahlte sich für Erdogan aus. Bei den "islamischen Calvinisten" in Konya und Kayseri fuhr seine AK-Partei jeweils rund 65 Prozent der Stimmen ein - weit mehr als der auch schon sehr ansehnliche Landesdurchschnitt von 46,5 Prozent.
Ein weiterer wichtiger Grund für Erdogans Erdrutschsieg war seine Entscheidung, die AK-Partei programmatisch und personell weiter in die politische Mitte zu rücken. Meinungsforscher bescheinigen der AK-Partei, zu einer klassischen Volkspartei geworden zu sein: Sie ist überall im Land präsent, und sie wird von allen religiösen und sozialen Schichten gewählt, auch wenn die Anhängerschaft Erdogans von frommen, armen und bildungsschwachen Gruppen beherrscht wird: 55 Prozent der Mittelschulabsolventen wählten Erdogan, bei den Universitätsabsolventen waren es immerhin noch 24 Prozent.
Auch in Europa wird die AK-Partei inzwischen mehr als Mitte-Rechts-Partei wahrgenommen denn als Islamisten-Club. Auch aus diesem Grund begrüßte die EU Erdogans Wahlsieg und forderte frischen Reformschwung. Neue gesetzliche und wirtschaftliche Veränderungen "mit konkreten Resultaten" seien jetzt angesagt, erklärte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn. Bundeskanzlerin Angela Merkel wünschte Erdogan "Erfolg für die weiteren Reformschritte" in der Türkei. Europa hat bestimmte Vorstellungen davon, wie diese "weiteren Reformschritte" aussehen sollten. Im Herbst steht ein neuer EU-Fortschrittsbericht zur Türkei an, und am Jahresende will der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs die Frage stellen, ob die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei überhaupt noch fortgesetzt werden sollen. Positive Schritte der Türkei bis dahin würden es den Freunden Ankaras in der EU, wie etwa der britischen Regierung, einfacher machen, für die türkische Kandidatur zu werben. Vielleicht könnte sogar Sarkozy von seiner harten anti-türkischen Haltung abgebracht werden.
Vor allem das Zypern-Problem sorgt zwischen der Türkei und EU für böses Blut. Ankara weigert sich nach wie vor, seine Häfen für Schiffe aus dem EU-Mitgliedsland Zypern zu öffnen, so lange die EU nicht das Wirtschaftsembargo gegen den türkischen Teil der Mittelmeerinsel lockert - was wiederum von den griechischen Zyprern verhindert wird: ein Teufelskreis, aus dem es bisher keinen Ausweg gab, auch weil niemand von Erdogan im Wahlkampf neue Zugeständnisse erwarten konnte.
Hinter den Kulissen arbeiteten Erdogans Leute an neuen Vorschlägen für das Thema Zypern, heißt es bei europäischen Diplomaten in der Türkei. Dasselbe gilt für den von der EU scharf kritisierten Paragraphen 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die "Beleidigung des Türkentums" verbietet und von Nationalisten als Hebel benutzt worden ist, um die freie Meinungsäußerung etwa beim Armenier-Thema zu behindern. Auch hier hat Erdogan Kompromissbereitschaft erkennen lassen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob der Wahlsieger Erdogan dem Europapolitiker Erdogan neuen Schwung verleihen kann.