Generationengerechtigkeit
Der Bundestags-Nachwuchs dringt auf eine Grundgesetzänderung. Jetzt soll das Thema endlich auf die Tagesordnung kommen.
Die jungen Abgeordneten von Union, SPD, FDP und Grünen drängeln. Gerade erst haben sie ihren Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführern einen Brief geschrieben. Ihr Anliegen: ihr gemeinsamer Gesetzentwurf zur Generationengerechtigkeit ( 16/3399 ) möge nicht länger verschleppt werden. Die Parlamentarischen Geschäftsführer entscheiden, was wann im Bundestag auf die Tagesordnung kommt. "Natürlich bleiben wir da jetzt dran", begründet Michael Kauch (FDP, 40) den erneuten Vorstoß, "das Thema ist viel zu wichtig für die Zukunft und betrifft letztlich alle Politikfelder, auf denen sich die Große Koalition gerade abrackert." Tatsächlich stellt sich bei allen Reformprojekten von Gesundheitssystem über Erbschaftssteuern bis hin zu Klimapolitik und Pflegeversicherung die Frage, ob nachfolgende Generationen berücksichtigt oder wie meist nur belastet werden.
Was wollen die jungen Parlamentarier genau erreichen? Mit einem neuen Artikel 20b im Grundgesetz soll der Staat verpflichtet werden, die Interessen künftiger Generationen besser zu schützen und das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten. Nun lässt sich der Begriff Generationengerechtigkeit nur schwer definieren. "Generationengerecht könnte man eine Politik nennen, die einer Generation die Chance gibt, mindestens so gut leben zu können wie die Vorgängergeneration. Eine Politik, die die Lasten aus dem demografischen Alterungsprozess der Gesellschaft fair verteilt", erklärt die 24-jährige Anna Lührmann (Grüne). Viel zu oft greife immer noch der Mechanismus, dass Politik Probleme in die Zukunft verschiebe.
Ökonomischer Dreh- und Angelpunkt einer generationengerechten Politik ist die Staatsverschuldung. Je höher nachfolgende Generationen mit ungedeckten Schecks und Schulden durch politische Entscheidungen belastet werden, desto geringer ist ihre Chance, selbst angemessen zu leben und zu altern. Deshalb fordern die hundert Antragsteller in ihrem Gesetzesentwurf außerdem, Artikel 109 Absatz 2 zur Haushaltsplanung neu zu formulieren. Künftig soll es heißen: "Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, dem Prinzip der Nachhaltigkeit sowie den Interessen der künftigen Generationen Rechnung zu tragen." Dabei ginge es nicht nur um Zahlungsströme, sondern auch um Bundesvermögen sagt der SPD-Abgeordnete Peter Friedrich (35), "kaum jemand denkt in der aktuellen Politik daran, in welchem Zustand wir eigentlich die Infrastruktur für künftige Generationen hinterlassen."
Nach der Sommerpause, wenn die Gesetzesinitiative zur ersten Lesung endlich auf die Tagesordnung kommen soll, wollen die Abgeordneten eine öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss organisieren. "Wir brauchen die öffentliche Debatte und den öffentlichen Druck, wenn wir Erfolg haben wollen", betont Lührmann. Die Abgeordneten sind zuversichtlich, dass sie die skeptischen Rechtspolitiker in den Fraktionen dann überzeugen können.
Aus zwei Gründen wird das nicht einfach: Zum einen gab es in den vergangenen Monaten zahlreiche Versuche, bestimmte Themen neu im Grundgesetz zu verankern, mal ging es um Tierschutz, dann wieder um Kultur, Sport oder Kinderwahlrecht. "Natürlich sehen wir das Risiko, dass zu viele Wünsche nach neuen Staatszielen unser Vorhaben überlagern, und das Thema Grundgesetzänderung sich auch etwas abnutzt", fürchtet der CDU-Abgeordnete Jens Spahn (27). Die zweite Schwierigkeit für ihre Gesetzesinitiative ist die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung. "Wir halten das aber für machbar", betont Spahn, "jetzt müssen sich auch die Kollegen bekennen, die sonst nur in Sonntagsreden von Generationengerechtigkeit sprechen." Viele ältere Kollegen hätten ihre Unterstützung bereits zugesichert.
So sehr sich die beteiligten Parlamentarier aller vier Fraktionen gemeinsam für ihr Vorhaben engagieren, sobald es um konkrete Politikbeispiele geht, werden die üblichen parteipolitischen Unterschiede rasch deutlich: In der Gesundheitspolitik beispielsweise strebt die Union nach wie vor einen Teilausstieg aus dem umlagefinanzierten System hin zu mehr Kapitaldeckung und Ei-genverantwortung an - und dies natürlich mit dem Argument der Generationengerechtigkeit. Die SPD umgekehrt sucht lieber innerhalb des Systems nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten und will die Umlagefinanzierung keinesfalls ändern.
In der Haushaltspolitik sieht die Gefechtslage ähnlich aus. "Das wichtigste Ziel muss die Haushaltskonsoli-dierung sein, damit wir auch in Zukunft noch Handlungsspielräume haben", sagt der CDU-Parlamentarier und Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Missfelder (27). Für die Sozialdemokraten bekräftigt Christian Lange (43): "Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen." Das war es dann aber auch schon an Gemeinsamkeiten. Die jungen Parlamentarier konnten sich bei ihrer Gesetzesinitiative nicht auf eine umfassendere Neuformulierung des Artikels 109 zum Haushalt einigen. Die Unions-Abgeordneten hätten gerne einen Satz mehr gehabt, der die Einführung eines Neuverschuldungsverbots für Bund und Länder erleichtert. Das ging der SPD zu weit, die Forderung nach Nullverschuldung wurde als "Schönwetterregelung" abgetan. Wäre es nach den Grünen gegangen, dann hätten am besten auch Umwelt- und Klimaschutz Eingang ins Grundgesetz gefunden. "Solcher Streit im Detail gehört in einem demokratischen Parlament unbedingt dazu", so der Liberale Kauch, "natürlich müssen sich die Fraktionen inhaltlich voneinander abheben. Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so wäre. In unserem Antrag geht es ja um Grundsätzliches, deshalb brauchen wir den Zusatz Generationengerechtigkeit auch als Staatsziel im Grundgesetz."
Vor dem Hintergrund des Alterungsprozesses der Bevölkerung schließen sich immer mehr Wissenschaftler den Forderungen nach Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit bei politischen Entscheidungen an. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW), sieht darin die Chance für eine neue Familienpolitik: Die Ausweitung der Generationengerechtigkeit auf die noch Ungeborenen erweitere die bislang vorherrschende Perspektive, "die nur mehr Kinder zur Stabilisierung unserer Sozialsysteme fordert. Nach den Lebensumständen künftiger Generationen zu fragen, drängt zu einer aktiven Politik der Bevölkerungsorientierung."
Auch aus wirtschaftlicher Sicht spricht vieles für mehr Rücksicht auf künftige Generationen. So ermittelt der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen jährlich die so genannte Nachhaltigkeitslücke, sie gibt die Differenz zwischen allen zukünftigen Leistungen und Beiträgen an, die die heute lebenden und alle zukünftigen Generationen noch aus den Sozialsystemen empfangen beziehungsweise einzahlen werden. Sie zeigt, wie groß die Rücklagenbildung sein muss, damit das heutige Leistungsniveau auch in Zukunft finanzierbar bleibt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Derzeit beträgt die Nachhaltigkeitslücke 275,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. "Die Gesundheitsreform und auch die sich abzeichnende Pflegereform sind in keiner Weise nachhaltig ausgestaltet worden", kritisiert Raffelhüschen zwei aktuelle Politikfelder, die jeden Bürger betreffen, "nur bei der Rente mit 67 wurde ansatzweise so etwas wie Generationenge-rechtigkeit erreicht."
Die Autorin arbeitet als Sozialpolitik-Korrespondentin der "Wirtschaftswoche" in Berlin.
Mehr zum Thema unter: www.fes-online-akademie.de/index.php?&scr=themen&t_id=6