die fitten alten
Ob Ehrenamt oder Hochschulstudium - viele Rentner sind heute hoch aktiv
Sie wollen meinen Mann sprechen? Ach, der ist doch immer unterwegs mit seinen Unis", sagt die liebenswürdige Frauenstimme am anderen Ende der Leitung und bittet wiederholt, es erneut zu versuchen. Am Montagmittag ist Gerhard Vöckler endlich zu Hause. Es ist sein freier Tag, der einzige in der Woche.
Vöckler ist 69 Jahre alt, Rentner - und Gasthörer. Vor einiger Zeit hat er sich eine Monatskarte der Berliner Verkehrsbetriebe gekauft und sich an allen Hochschulen der Stadt eingeschrieben. Seither kurvt er von Dienstag bis Freitag von einem Hörsaal zum nächsten, von Vorlesung zu Vorlesung: Technische Universität in Charlottenburg, Humboldt-Universität in Mitte, Freie Universität in Dahlem. Die Pausen in der Bahn nutzt er, um zu lesen: Sachbücher über Politik, Geschichte oder Theologie mit kompliziert klingenden Titeln - Vöckler liebt die ganz großen Themen. "Humanistische Bildung, das ist mein Ideal", sagt er und blickt verträumt über seine randlose Brille. In seinem Poloshirt, den Arm lässig über die Lehne gehängt, wirkt er um Jahre jünger als er ist. Ein smarter Typ.
Vöckler erinnert an einen berühmten Schlager. Mit 66, da fängt das Leben an, sang Udo Jürgens 1978. Heute, fast 30 Jahre später, ist dieser Titel geradezu programmatisch für eine neue Generation von Ruheständlern: Noch einmal durchstarten, nach Jahren des Malochens körperlich und geistig beweglich bleiben, die gewonnene Zeit sinnvoll nutzen - das wollen Tausende. Und so sitzen in manchen Kunstgeschichte- oder Philosophieseminaren inzwischen mehr Senioren als jugendliche Studenten: Laut Statistischem Bundesamt waren von rund 38.000 Gaststudenten im Wintersemester 2006/2007 fast die Hälfte älter als 60 Jahre - ein Zuwachs von 57 Prozent innerhalb der vergangenen zehn Jahre. Die Nachfrage ist so groß, dass viele Hochschulen bereits "Senioren-Beauftragte" beschäftigen und spezielle Seniorenstudiengänge einrichten.
"Einige rufen schon bei uns an, wenn sie noch ein paar Monate arbeiten müssen", erzählt Felicitas Wlodyga vom Weiterbildungszentrum der Freien Universität Berlin. "Die wollen unbedingt weiter machen, sich Themen zuwenden, denen sie sich früher nie widmen konnten. Viele sagen uns, dass sie durch das Studium heute ein ganz anderes Leben führen." Wlodyga betreut in diesem Sommersemester allein mehr als 900 Gasthörer an ihrer Hochschule. Nicht alle sind Senioren, "aber die ältesten Studenten sind weit über 80", sagt sie. "Manche promovieren sogar noch."
Gegen diese "alten Hasen" ist der 69-jährige Vöckler beinahe ein junger Hüpfer. Er ist vor zehn Jahren in Rente gegangen, das war an einem Freitag. Am Montag darauf meldete er sich an der Uni Bonn zum Sprachtest. "Früher war Studieren nach dem Abitur ja nicht so verbreitet wie heute", erzählt er. "Ich habe Industriekaufmann gelernt - überhaupt nicht meine Welt." Der junge Mann suchte Alternativen, ging zur Bundeswehr, 30 Jahre war er Offizier. Und wusste früh: "Ich will später unbedingt studieren."
An der Uni Bonn ging alles sehr schnell: "Fünf Jahre, und ich hatte meinen Magister in der Tasche. Mit 64. Geschichte, Religionswissenschaften und Historische Geografie. Alles in der Regelstudienzeit." Heute ist er als Gasthörer zurück in seiner Heimatstadt Berlin. "Manchmal bringe ich die Professoren mit meinen Fragen etwas in Verlegenheit", gibt er zu. Und räumt ein, dass er schon ganz froh sei, dass Semesterferien sind: "Irgendwann muss ja mal Pause sein."
Pause? Das allerdings klingt bei Vöckler wie ein Fremdwort - es passt so wenig zu ihm wie Wollsocken zum Sommer, und genauso wenig zu den vielen anderen "fitten Alten" seiner Generation: Wenn sie auch nicht alle im zarten Alter von Mitte 60 noch einmal die Schulbank drücken wollen, sind sie kaum weniger aktiv - im Gegenteil. Der 2. Freiwilligensurvey 1999-2004 schätzt: 30 Prozent der über 60-Jährigen in Deutschland arbeiten ehrenamtlich, bei den über 70-Jährigen sind es noch mehr als 20 Prozent. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beobachtet gerade in dieser Altersgruppe "einen deutlichen Mobilisierungsschub".
Beispiele gibt es viele: In Berlin ziehen Senioren derzeit als zivile Kiezstreifen durch die Bezirke und kontrollieren, dass Menschen ihren Müll nicht ins Grün werfen. Im ganzen Bundesgebiet gründen ehemalige Unternehmer Vereine, in denen sie ihre Berufserfahrungen an den Nachwuchs weitergeben und junge Existenzgründer beim Sprung in die Selbstständigkeit beraten. Ein Stück gelebter Generationenvertrag.
Bald sollen Rentner auch an den Schulen Nordrhein-Westfalens mit anpacken, als "Konfliktmanager", Vermittler von Praktikumsplätzen oder als Hausaufgabenhilfe. Mehr als 300 Freiwillige haben sich schon für das Projekt angemeldet.
Der Staat hat das Potenzial der fleißigen Senioren inzwischen erkannt: Er investiert derzeit 36 Millionen Euro in den Aufbau so genannter "generationsübergreifender Freiwilligendienste". 54 Modellprojekte sind bundesweit entstanden, 6.500 Helfer, die meisten von ihnen Rentner, haben hier eine neue Aufgabe gefunden. Es ist eine Tatsache: Ohne diese aktiven Alten, die sich voller Neugier und Tatendrang in die unbezahlte Sozialarbeit stürzen, würde die Gesellschaft ganz schön alt aussehen - im wahrsten Sinne des Wortes.
Was zum Beispiel, wenn die Großeltern zu weit weg wohnen oder schon gestorben sind, wenn niemand da ist, der sich auch mal um die Kinder kümmert? Mit etwas Glück findet sich dann eine "Leihoma": Eine Großmutter auf Zeit, die das Abendessen kocht, mit den Kleinen auf den Spielplatz geht, ihnen vorliest, tröstet - ein Hauch von Großfamilie, dort, wo es sie eigentlich nicht mehr gibt.
"Leihoma"-Services sind in den vergangenen Jahren überall in Deutschland entstanden. Gerade in den Städten gibt es inzwischen eine Fülle von Initiativen, die ehrenamtliche Omas, und manchmal auch Opas, an Familien vermitteln. Wie "KIKON - Kinder und Kontakt" in Berlin: Das Projekt des Diakonischen Werkes hat sich besonders der Hilfe für Alleinerziehende verschrieben und ist seit Januar dieses Jahres auch Anlaufstelle für Sylvia Jaeger. Die 66-jährige "Leihoma" betreut derzeit vier Kinder von zwei Familien, die Mütter allesamt berufstätig, die Großeltern in weiter Ferne. Jaeger ist die gute Seele der Kleinfamilien, sie holt die Kleinen von der Kita ab, kommt oft auch ganz spontan vorbei, wenn einer ihrer "Leihenkel" plötzlich krank wird und macht mit Lena, der Dreijährigen, Ausflüge in die Stadt - "weil sie es liebt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren". Geld bekommt die "Leihoma" dafür nicht - nicht mal die Fahrtkosten will sie bezahlt haben: "Ich habe eine Monatskarte, mit der bin ich sowieso immer unterwegs", sagt sie, und erzählt, dass sie es auch gar nicht so gern habe, wenn die Mütter ihr etwas schenken. "Ich mach' das doch wirklich nur, weil ich gern helfen möchte. Ich habe selbst drei Söhne groß gezogen, aber nicht alleine, es war eine ganz andere Zeit."
Ihre Söhne sind längst aus dem Haus, ihr Mann, ein Pfarrer, ist gerade in Rente gegangen. Jetzt in der Wohnung herumsitzen "und die Zeit totschlagen"? "Das liegt mir überhaupt nicht", sagt Jaeger. "Ich fühle mich so gar nicht omahaft". Und dann lacht sie herzlich: Tatsächlich, wie eine Oma wirkt sie nicht mit ihrem hautengen, sehr eleganten Rock und dem sportlichen Kurzhaarschnitt - eine Powerfrau, die nicht daran denkt, Pause zu machen, wo sie doch gerade erst wieder eine schöne Aufgabe gefunden hat.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.
www.kikon-dwbo.de