Arnsberg
Wo man den demografischen Wandel als Chance, nicht als Risiko begreift. Ein Besuch.
Mit Glenn Miller kriegt er sie immer. Wenn Herbert Kramer beim Tanztee auf seinem Keyboard den Swingklassiker "In the mood" anstimmt, gibt es kein Halten mehr im Arnsberger Altenpflegeheim Klostereichen. Dann wird richtig gerockt - was die alten Beine, die Stimmbänder und die Rollstühle so hergeben. "Oder Lili Marleen", erzählt Kramer, der das R so wunderbar sauerländisch rollt, "das können die alle mitsingen." Jetzt schiebt er sein weißes Baseball-Cap, das ihn in der Kombination mit dem hell gemusterten, akurat gebügelten Hemd ein wenig nach Florida Beach und Sun City aussehen lässt, aus dem Gesicht und nippt an seinem dampfenden Kaffee. Direkt aus dem Seniorenbeirat ist er in den "Wendepunkt", das Zentrum der Arnsberger Seniorenarbeit gekommen, um mit Gleichgesinnten die derzeit laufenden Projekte zu besprechen.
Soweit, so normal. Umtriebige, engagierte Senioren, die sich um ihre Stadt bemühen, sich einbringen, ja manchmal aufdrängen, und für die Sätze wie "Man ist so alt wie man sich fühlt" keine hohlen Phrasen sind, gibt es viele - nahezu allerorts.
Was Arnsberg zu etwas Besonderem macht, zu einem Pionier in Deutschland, zum Vorbild für andere Städte und Gemeinden, ist die Idee hinter dem Engagement: den demografischen Wandel als Chance nutzen und nicht als Gefahr sehen. Was fast zu schön klingt, um wahr zu sein, und auch ein bisschen weltfremd, wird in Arnsberg nicht nur sloganhaft verkündet, sondern gelebt.
Aus der Idee ist ein durchdachtes Konzept, man nennt es hier ein "strategisches Stadtenwicklungsthema", geworden. 2004 zeichnete die Robert-Bosch-Stiftung Arnsberg dafür mit dem Otto-Mühlschlegel-Preis für beispielhafte Senioren- arbeit und -politik aus. Der Tanztee von Senioren für Senioren mit Alleinunterhalter Herbert, Anni Künkenrenken und anderen Ehrenamtlichen, die mit den Alten tanzen oder dies - so gut es eben mit einem Rollstuhl geht - zumindest versuchen, ist eines dieser Projekte. Es ist so erfolgreich und tut den Senioren so gut, dass auch ein anderes Pflegeheim gerne regelmäßig einen solchen Nachmittag veranstalten möchte. Das freut Kramer und seine Mitstreiter sehr - nur zeitlich könnte es bei dem 78-Jährigen etwas schwierig werden. Schließlich geht er auch regelmäßig in eine Förderschule für emotionale Entwicklung, spielt, bastelt, baut dort mit den Schülern oder zaubert ihnen etwas vor. Besonders schwierige Schüler betreut er als Pate. Außerdem arbeitet er bei der Seniorenzeitung "Sicht". Er sei teilweise so viel unterwegs, erzählt der umtriebige Senior, dass er daheim kaum mit der Hausarbeit "beikommt", wie man hier sagt.
Ähnlich geht es Anni und Uwe Künkenrenken. "Wir sehen uns nur, wenn wir ein Projekt gemeinsam machen", scherzt sie, die - ganz Dame - nicht verraten will wieviel älter als 60 sie ist, die mit "den Alten" und Demenzkranken nicht nur tanzt, sondern auch regelmäßig kegelt. Uwes Blick macht deutlich, dass der Witz gar nicht so weit von der Realität enfernt ist.
Der wichtigste politische Kämpfer für die besondere Mentalität ist Hans-Josef Vogel, erst Stadtdirektor und seit 1999 erster hauptamtlicher Bürgermeister der 80.000-Einwohnerstadt im Hochsauerlandkreis. Er hat in Arnsberg eine Perspektive für den demografischen Wandel geschaffen, die er selbst vom sozialwissenschaftlichen Institut für Wirtschaft und Gesellschaft mitgebracht hat. Ende der 1970er-Jahre hat der Jurist Vogel dort mit Kurt Biedenkopf und Meinhard Miegel gearbeitet. Das hat geprägt, sagt er heute. So sehr, dass er eine städtische Zukunftsagentur eingerichtet hat - als Stabsstelle direkt dem Stadtoberhaupt unterstellt. "Wir müssen Kinder stark machen, die Wirtschaft neu strukturieren und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Und wir müssen ein völlig neues Bild vom Alter entwickeln, das an den Fähigkeiten ansetzt und nicht an den Defiziten", beschreibt er die Leitlinien seiner Politik. Um all dies, um Stadtentwicklung und "Zukunft Alter", kümmern sich die drei Mitarbeiter der Zukunftsagentur, kommunale Angestellte. Alles, was mit der Zukunft der Stadt und ihrer Menschen zu tun hat, könne so gebündelt und ressortübergreifend gebunden bearbeitet werden, schildert Marita Gerwin, Sozialpädagogin und Leiterin der Fachstelle "Zukunft Alter" in der Zukunftsagentur. "Wir schaffen die Plattform für die Menschen, die sich in unserer Stadt engagieren, und motivieren zum Mitmachen." Wie viele Menschen das sind? In wie vielen Projekten? Marita Gerwin, die hellblonde Frau mit der energischen Stimme und dem einnehmenden Lachen, schüttelt mit dem Kopf: "Das kann ich nicht sagen. Es sind unüberschaubar viele."
Teil der Plattform ist zum Beispiel der regelmäßige Treff im "Wendepunkt", dem Sitz der Alters-Fachstelle. Kennenlernen sollen sich die Engagierten auf diesen Treffen , von ihren Projekten erzählen, Probleme diskutieren, Ideen austauschen und netzwerken, netzwerken und nochmals netzwerken. So wie Doro Müller. Sie hat an ihrer Schule, einem Berufskolleg, die "Akademie 6 bis 99" initiiert. Die Idee: gemeinsames, generationsübergreifendes, lebenslanges Lernen. Samstags alle sechs Wochen finden Vorträge zu Themen wie "Vom Milchzahn bis zur Prothese" oder "Warum tut Sport gut?" statt. Mal kommen 40 oder 50, mal mehr als 100 Menschen. Oder Lothar Molin, 68, pensionierter Ingenieur. Er ist regelmäßiger Gast in der Kindertagesstätte Entenhausen, erklärt den Kindern am Papiermodell wie man Brücken baut oder warum Wasser wie eine Lupe wirkt, wenn man durchschaut. Oder Karin Pawlak, die ein Mal pro Woche kostenlos Yoga für Senioren anbietet, oder Marietheres Ernst, 69, die mit Demenzkranken malt, oder, oder, oder...
Die Meisten an diesem Montagmorgen beim Netzwerktreffen sind selbst älter als 60 Jahre - aber alt, alt fühlt sich hier niemand. Denn sie haben verstanden: Wenn ich mich für andere, für meine Stadt engagiere, tue ich ganz viel für mich selbst - soviel, das man darüber das eigene Alter fast vergisst. Ein besseres Mittel gegen die Folgen des demografischen Wandels kann es wohl kaum geben. Sebastian Hille
Der Autor ist Volontär bei "Das Parlament"
Mehr unter: www.arnsberg.de,
www.bertelsmann-stiftung.de