Auf den ersten Blick scheint die Welt in Polen noch in Ordnung: Überall auf den Straßen der großen Städte dominiert die Jugend, junge Mütter schieben Kinderwagen durch Neubauviertel, die Kinderspielplätze sind voller Kinder. In den Büros und Ämtern der Hauptstadt laufen wichtigtuerische Mittdreißiger durch die Flure und reden laut in ihre Handys.
Angestellte auf vergleichbaren Posten sind in Polen in der Regel deutlich jünger als ihre deutschen Kollegen. Doch der Schein trügt, vor allem deshalb, weil Polen zwar Anfang der 80er-Jahre einen enormen Babyboom erlebte, der nun die Universitäten verlässt und seit der Jahrtausendwende auf den Arbeitsmarkt drängt. Doch der Boom geht nun zu Ende und was folgt, wird fürchterlich. Die Kinder des Babybooms aus der Zeit des Kriegsrechts zeigen nicht die ge- ringste Lust, in punkto Kinderkriegen in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten
Bei demografischer Entwicklung ist Polen nicht nur dabei, Deutschlands niedrige Geburtenraten einzuholen, sondern sogar zu überholen. Die Geburtenrate in Polen gehört zu den niedrigsten in Europa. Noch im Jahr 2000 errechnete die OECD den Anteil der über 64-Jährigen zur Gesamtzahl der 20- bis 60-Jährigen auf 26 Prozent. In Polen betrug er zu dieser Zeit gerade 20 Prozent. Im Jahr 2050 wird diese Kennziffer in Deutschland 54 Prozent betragen, in Polen dagegen 56! Statt 82 Millionen Deutsche wird es nur noch etwas über 75 Millionen geben. Polen dagegen wird von heute 38,5 auf 33,6 Millionen Einwohner schrumpfen.
Diese Lage wird noch dramatischer durch den im europäischen Vergleich sehr hohen Anteil von Menschen im arbeitsfähigen Alter, die dennoch nicht arbeiten. Die Arbeitslosigkeit geht zwar zur Zeit aufgrund des hohen Wachstums und der enormen Ar-beitsemigration nach Großbritannien, Irland und Schweden schnell zurück, doch Polens Wirtschaft belastet eine enorme Zahl von Arbeitsunfähigen und Frührentnern. Besonders die Zahl der Frührentner ist nur unter gewaltigen politischen Kosten reduzierbar, denn das Recht, früher in den Ruhestand zu gehen, wurde in der Vergangenheit von einflussreichen sozialen Lobbies durch Streikwellen und Massenproteste erstritten.
Häufig stecken dahinter auch Erblasten aus kommunistischer Zeit, als es noch keine Arbeitslosigkeit und hohe Geburtenraten gab.
So dürfen nicht nur Polizisten und Offiziere, sondern auch Bergarbeiter (ohne Rücksicht darauf, ob sie auch tatsächlich unter Tage arbeiten, oder nur mit Bergarbeiterstatus hinter dem Schreibtisch sitzen) und sogar Lehrer früher in Rente gehen. Bezahlt wird das vom Steuerzahler und all denen, für die das Rentenalter mit 60 (Frauen) beziehungsweise 65 (Männer) beginnt.
Da eine solche Entwicklung mit Hilfe eines Umlagesystems, bei dem die jeweils Arbeitenden das Einkommen der jeweils in Rente Befindlichen aufbringen, nicht finanzierbar ist, hat die Regierung Jerzy Buzek bereits in der Legislaturperiode 1997 bis 2001 zwei weitere so genannte Pfeiler eingeführt. Der zweite Pfeiler wird durch Kapitalinvestitionen finanziert, als freiwillige Zugabe wurde die Möglichkeit eröffnet, sich an Betriebsrentenprogrammen zu beteiligen. Nur wer vor 1949 geboren ist, bleibt voll im alten Umlagesystem.
Die Reform wurde allgemein begrüßt, hat aber, wie sich in der Zwischenzeit erwies, durchaus ihre Schattenseiten. Die Abhängigkeit von den Kapitalmärkten war von vorneherein eingeplant. Langfristig negativer dürfte sich allerdings die Tatsache auswirken, dass die Rentenfonds des zweiten Pfeilers, um Kapitalabfluss zu vermeiden, nur maximal 5 Prozent ihrer Aktiva im Ausland anlegen dürfen. Da Polens Börse noch über eine vergleichsweise dünne Kapitaldecke verfügt, investieren die Rentenfonds über die Hälfte ihres Kapitals in Staatsanleihen. Das ist nahezu risikolos und bringt eine gewisse Rendite, führt aber dazu, dass die künftigen Renten letztendlich über Steuergelder bezahlt werden - und damit, wie bei einem Umlagesystem - von denjenigen, die zu dem Zeitpunkt, als die Renten ausbezahlt werden, gerade arbeiten und Steuern zahlen.
Ob die laufenden Renten aber über die Sozialbeiträge der Arbeitenden oder deren Steuern bezahlt werden, macht weder für die Staatsfinanzen noch für die Wirtschaftsentwicklung einen großen Unterschied. Letztendlich hängt also der Erfolg der Rentenreform bei unveränderter demografischer Entwicklung davon ab, wie sich der polnische Kapitalmarkt entwickelt. An einer Öffnung der Fünf-Prozent-Klausel und einer Reduzierung der Rentenprivilegien für Frührentner führt kein Weg vorbei. Dies sagen nicht nur Experten, die fordern, die für Frührenten vorgesehenen Gelder für Umschulungen auszugeben; es zeigt auch die Entwicklung in den Niederlanden seit Ende der 90er-Jahre, wo die Regierung die Maastricht-Kriterien (die auch für Polen verbindlich sind, obwohl es nicht zur Eurozone gehört) nur einhalten konnte durch eine dras-tische Reduzierung der Zahl der Bezieher von Berufsunfähigkeitsrenten.
Die Zeit für eine entsprechende Reform wäre jetzt ideal - der Staat hat volle Kassen, die Arbeitslosigkeit sinkt. Nur steckt Polen ausgerechnet jetzt in einer Regierungskrise und die Parteien sind nicht mehr mit Reformen, sondern vor allem mit Machtkämpfen und Wahlkampfvorbereitungen beschäftigt. Aber Experten behaupten ja ohnehin, nichts sei so reformfeindlich wie eine gute Konjunktur...
Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaften an der Warschauer Hochschule für Sozialpsychologie.