Hat die Rente, wie wir sie heute kennen, in 30 Jahren noch Bestand?
Es ist ohne Zweifel so, dass sich unsere Lebensbiografien massiv verändern. Das Rentensystem, wie es in den vergangenen 120 Jahren in Deutschland entstanden ist, basierend auf dem Umlagesystem, kann in Zukunft nur noch ein Teil der Lebensabsicherung sein.
Sie sind Vater von zwei Söhnen, neun und 14 Jahre alt. Was erzählen Sie denen über den Generationenvertrag?
Ich bin kein Prediger, der denen etwas vorbeten muss. Die entscheidende Frage ist, ob sie wissen, in welcher Welt sie leben. Es gibt keine lebenslangen Jobs mehr. Wenn sie nicht saufen und kiffen, werden sie womöglich sehr alt werden. Die klassischen Lebensentwürfe, wie sie noch in der Hochphase der Industriegesellschaft in den 60er-Jahren entworfen wurden, existieren nicht mehr. Da gibt es mehr Ängste bei den Älteren als bei den Jüngeren. Die Jüngeren wissen, dass sie anders planen müssen. Sie wissen, dass sie vielleicht drei, vier Familien haben, vier oder fünf Mal den Beruf wechseln werden.
Die Demografiedebatte in Deutschland wird von Panik und Angst dominiert. Deutschland schrumpft und ergraut und stirbt aus, heißt es da.
Jede Debatte in Deutschland wird von Angst dominiert. Die Idee, dass die Deutschen aussterben, können sie in den entsprechenden Schriften von 1928, 1870 und 1612 schon nachlesen. Das ist eine uralte Angst. Aber das hat natürlich nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Die Hochrechnungen in den Medien sind extreme Beispiele, ähnlich wie beim Waldsterben oder der Erderwärmung. Es werden in Deutschland im Jahre 2050 wahrscheinlich 4,5 Millionen Menschen weniger leben. Das hat mit Aussterben gar nichts zu tun. Wer sagt denn, dass im Ruhrgebiet immer neun Millionen Menschen leben müssen? In der Tat ist es so, dass wir zu wenige Kinder haben. Das ist unerfreulich, weil Kinder das Leben bereichern und eine Gesellschaft jung halten. Doch wie man das ändert, kann man beispielsweise in Frankreich oder Schweden sehen. In Deutschland müssen sich die Frauen immer noch zwischen Familie und Erwerbsarbeit entscheiden. Das ist der Grund für die niedrige Geburtenrate in Deutschland. Mittlerweile hat man dieses Problem erkannt. In den deutschen Großstädten steigt die Geburtenrate inzwischen wieder an.
Wenn es immer mehr ältere Menschen in Deutschland gibt, was bedeutet das für die Konsumbranche?
Wir kodieren unsere Bilder um, was das Alter betrifft. Die Industriegesellschaft, in der man sich mit Mitte 60 zu Ruhe setzt, hat ausgedient. Das hat man auch getan, weil industrielle Arbeit oft monoton und fremdbestimmt war. Da war man mit 60 erschöpft und ausgebrannt. In der Wissensgesellschaft, auf die wir immer mehr zusteuern, ist das Berufsleben abwechslungsreicher. Das bedeutet, dass Menschen in der Zukunft länger arbeiten können und auch wollen. So bleiben sie der Industrie auch länger als Kunden und Konsumenten erhalten. In Island arbeiten heute schon 90 Prozent aller 60-jährigen Männer.
Wird der Jugendkult vom Alterskult abgelöst?
Es wird beides zählen: jugendliche Dynamik und Lebenserfahrung. Die Unternehmen brauchen beides, um sich behaupten zu können.
Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich seit 1871 mehr als verdoppelt. Genetisch kann der Mensch bis zu 120 Jahre alt werden. Was bedeutet der medizinische Fortschritt, der den Menschen ein immer längeres Leben gewährt?
Altern in der Industriegesellschaft hieß, langsam nichts mehr zu kapieren. Altern in der Zukunft bedeutet, langsam zu begreifen, wie es geht. Es gibt in unserer Kultur immer mehr pubertierende 70-Jährige und frühvergreiste 18-Jährige. Dass wir in Zukunft immer länger leben können, ist eine der großen Errungenschaften der Zivilisation. Diesen Prozess als ,Vergreisung' zu denunzieren heißt, ihn nicht verstanden zu haben. Wir bleiben, während wir älter werden, immer länger jünger. Allerdings müssen wir etwas dafür tun!
Was meinen Sie damit?
Die Frage ist, wie elastisch und flexibel wir uns halten. Schauen Sie sich Richard von Weizäcker an. Der ist 88 Jahre alt und er könnte als Manager in vielen Firmen anfangen. Der Alterungsprozess ist zu einem großen Teil gestaltbar. Wir müssen Fitness, Gesundheit und geistiges Wachstum als gesellschaftliche Ressource erschließen. Die Aussicht, dass wir 120 Jahre alt werden können, ist Folge der Wohlstandsgesellschaft. Jetzt muss es uns gelingen, die negativen Seiten der Wohlstandsgesellschaft wie beispielsweise Fettleibigkeit in den Griff zu kriegen.
Heute fürchten die Deutschen Umfragen zufolge sozialen Abstieg, Klimawandel und internationalen Terrorismus. Was beschäftigt sie in 60 Jahren?
Wahrscheinlich sehr ähnliche Themen, weil sich in unseren gesellschaftlichen Ängsten die archaischen Befürchtungen der Menschheit spiegeln. Die Deutschen haben über Jahrhunderte eine angstdominierte, zukunftsskeptische Kultur entwickelt - ein sehr nachhaltiger Kulturcode, der wahrscheinlich auch noch in 60 Jahren vorherrscht. Auch materieller Erfolg und Umweltfragen werden noch zentral sein. Wobei sich bis dahin natürlich manche Entwicklungen als nicht so schrecklich herausstellen werden, wie wir sie heute wahrnehmen. Nehmen wir die globale Erwärmung: Ich bin mir sicher, dass sie sich als weniger drastisch herausstellen wird. Wir werden neue Technologien entwickeln, die den CO²-Ausstoß reduzieren. Man wird sehen, dass viele Schreckensbilder, die heute in den Medien und im kollektiven Bewusstsein kursieren, überspitzt waren.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die weltweite Wohlstandsentwicklung: In 60 Jahren werden 70 bis 80 Prozent der Menschen in einem Wohlstandsmodell leben, das in etwa unserem der 60er-Jahre entspricht. Schon heute haben Milliarden Menschen die Schwelle zum Wohlstand überschritten. Bis Mitte des Jahrhunderts wird diese Entwicklung den ganzen Fernen Osten, China, Indien und die angrenzenden Länder betreffen. Und auch in Afrika werden wir zunehmend zumindest Wohlstandsinseln erleben. Wir hatten zu Beginn des Kalten Krieges eine viel stärkere Spaltung zwischen Arm und Reich. Eine viel höhere Prozentzahl an Menschen lebte in wirklichem Elend, die Welt-Analphabetenrate war doppelt so hoch wie heute, es gab auch mehr Kriege als heute. Viele globale Entwicklungen sind auf einem guten Weg. Wir werden in 60 Jahren mit Sicherheit eine andere politische Weltstruktur haben.
Viele Menschen werden hierzulande in Zukunft immer mal wieder arbeitslos sein, sagen viele Experten. Stimmt das?
Dass immer mehr Menschen arbeitslos sind, stimmt so nicht. Seit vielen Jahren nimmt der Anteil an Erwerbsarbeit zu: Heute arbeiten auch Frauen, und immer mehr atypische Arbeitsverhältnisse entstehen. Grob lässt sich für Europa sagen, dass vor 100 Jahren rund 30 Prozent aller Erwerbsfähigen Arbeit hatten, vor 50 Jahren rund 50 Prozent. Heute sind es 70 bis 80 Prozent, Tendenz steigend...
...es gibt also nicht weniger Arbeit?
Nur die Arbeitsformen ändern sich, und das bisweilen so heftig und schnell, dass manche Menschen keinen Anschluss mehr an die Erwerbssphäre finden. Es wird in 60 Jahren keinen lebenslangen Erwerbsentwurf mehr geben wie im industriellen System, wo Menschen mit einer Ausbildung bis zur Rente immer im selben Beruf geblieben sind. Arbeit wird immer vielfältiger, fraktaler, sie löst sich von den starren Zeitrhythmen des Industriezeitalters, von den alten Vertragsformen. Vermutlich haben wir im Jahr 2050 30 bis 40 Prozent Selbstständige. Das klassische Angestelltentum wird eher minoritär.
Die Gesellschaft wird immer prekärer?
Es kommt darauf an, was man unter prekär versteht. Ist das nur Unsicherheit - oder auch Freiheit? Schon heute arbeiten Millionen Menschen als Freie, Fest-Freie, kreative Dienstleister, Projektarbeiter, wie auch immer. Und zwar weil sie das wollen, Flexibilität suchen und eine bessere Arbeits-Lebens-Balance. Dadurch müssen keineswegs die Sicherheiten sinken. Wir müssen auf mehreren Beinen stehen. Verschiedenste Erwerbsphasen und -formen werden sich abwechseln. Immer mehr neue Berufe entstehen: der Wellness-Sektor, neue Dienstleistungsformen vom Life Coaching bis zum Systemspezialisten, neue technische Berufe. Arbeit wird vielfältiger, vermehrt sich dadurch. Und die Grenzen zwischen Lohnarbeit und Familien- beziehungsweise Bürgerarbeit werden ebenfalls durchlässiger. Darauf müssen wir unser Bildungssystem ausrichten. Unser Bildungssystem ist im frühen Industrialismus entstanden - es atmet immer noch den Geist der Fabrikgesellschaft.
Patchwork-Familien, Fernbeziehungen, immer mehr Scheidungen - wie sieht die Familie der Zukunft aus?
Auch da gilt das Gesetz der wachsenden Vielfalt. Wir werden unterschiedliche soziale Konfigurationen durchleben, auch die klassische Kleinfamilie - aber schon dadurch, dass wir immer älter werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, irgendwann mal wieder allein zu leben. Wir bleiben in gewissem Sinne lebenslang Singles. Selbst wenn wir heiraten und Kinder bekommen, bewahren wir unseren Eigen-Sinn und entwickeln unsere Persönlichkeit autonom weiter. Nur eben im Verbund mit anderen. Kombi- und Patchworkfamilien werden relativ normal sein. Und im Alter werden die Menschen neue Formen von Wahlbündnissen entwickeln, die einen WG-Charakter haben können. Diese Vielfalt benötigt andere kulturelle Werte. Man könnte von einer Wandlungskultur sprechen.
Was bedeutet das?
In dieser Wandlungskultur ist die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit in den Wechselfällen des Lebens das höchste Ziel. Der Lebenssinn in einer Gesellschaft, in der wir bei guter Gesundheit 90 Jahre alt werden, könnte Weisheit sein. So könnte uns eine Art neuer Renaissance bevorstehen.
Das Interview führte Hannes Ross. Er ist Redakteur beim "Stern".