Ursula Lehr
Ältere Menschen haben Innovationskraft und reichen Patente ein. Schluss mit dem negativen Altersbild, fordert deshalb die frühere Bundesseniorenministerin.
Frau Lehr, Sie sind 77 Jahre alt. Woran bemerken Sie ihr eigenes Alter?
Das ist schwer zu sagen. Vielleicht müsste ich erst einmal in die Berge fahren und Klettertouren machen. Dann kann ich es Ihnen sagen (lacht gelöst).
Dann brauchen wir also ein neues Bild vom Alter?
Das Bild vom Alter hat sich in der Wissenschaft schon in den 60er-Jahren verändert - aber eben nicht im öffentlichen Bewusstsein. Altern muss nicht Abbau und Verlust bedeuten. Das negative Altersbild hat seinen Ursprung in medizinischen Untersuchungen vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Damals haben fast nur Ärzte über das Alter geschrieben. Da es nicht üblich war, als relativ gesunder Mensch zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen, waren die Mediziner nur mit den kranken alten Menschen konfrontiert. Das "normal aging" wurde in Deutschland erst vom Beginn der 60er-Jahre an erforscht.
55 Prozent der 55-Jährigen und Älteren sind nicht mehr berufstätig und im Jahr 2030 wird jeder dritte Bundesbürger über 60 Jahre alt sein. Die Politik versucht, auf diesen demografischen Wandel Antworten zu geben und hat jetzt die Rente mit 67 beschlossen. Ist das ein richtiger Ansatz?
Allerdings, den begrüße ich sehr! Aber es geht alles viel zu langsam. Man hätte viel früher eine Flexibilität der Altersgrenze auch nach oben erreichen müssen. Die Anzahl der Jahre sagt grundsätzlich wenig über die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen eines Menschen aus. Der eine mag nach harter körperlicher Arbeit mit 60 reif für den Ruhestand sein, der andere ist mit 70 Jahren immer noch sehr leistungsfähig. Warum sollte der nicht länger arbeiten? Manch einer ist sogar erst mit über 30 Jahren ins Berufsleben eingestiegen. Wir werden heute immer älter und bleiben dabei auch länger gesund. Die Lebenserwartung der Neugeborenen verlängert sich pro Jahr um drei Monate. Wenn man heute in den Ruhestand geht, hat man oft noch ein Viertel, manchmal sogar ein Drittel seines Lebens vor sich.
Wie können ältere Arbeitnehmer den Anforderungen des oft hektischen und immer schneller werdenden Berufslebens gerecht werden? Was muss es für Modelle geben, damit die Leistungskraft von älteren Menschen optimal genutzt wird?
Wir benötigen berufsbegleitende Weiterbildung, betriebliche Gesundheitsförderung und auch mehr Flexibilität in der Arbeitszeit. Zur Zeit nehmen nur fünf Prozent der 50- bis 55-Jährigen und ein Prozent der 55- bis 60-Jährigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil.
Wird in einer schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft genug Wachstum generiert? Ältere Arbeitnehmer gelten als weniger kreativ als jüngere.
Das ist doch ein Vorurteil. Viele Erfindungen werden erst in einem höheren Alter gemacht. Wir brauchen Alt und Jung zusammen in der Arbeitswelt. Auch ältere Menschen haben Innovationskraft und reichen Patente ein, ihre Erfahrung, ihr Wissen ist viel wert. Und langsam erkennt das auch die Wirtschaft. Eine Trendumkehr ist eingeläutet: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist unter den 55-Jährigen von 2002 auf 2006 von 2,77 Millionen auf immerhin 3,11 Millionen Menschen gestiegen.
Das ehrenamtliche Engagement war in Deutschland lange sehr verbreitet. Doch hat man bei den heute 65-Jährigen bisweilen den Eindruck, dass sie oftmals lieber auf dem Golfplatz stehen, statt sich um die Enkelkinder zu kümmern oder Nachbarschaftshilfe zu leisten. Die Generation der heute 85-Jährigen hatte eine andere Einstellung...
Das ist nur zum Teil richtig. Ja, es gibt in der Generation der 60-Jährigen bisweilen eine solche Haltung. Allerdings darf man nicht übersehen, dass sich dennoch knapp 40 Prozent der 60-Jährigen ehrenamtlich engagieren. Hinzu kommt, dass viele der 60-Jährigen und Älteren für Kinder, Enkel, Eltern und Schwiegereltern sorgen. In der Generation der heute 80- bis 85-Jährigen, deren Jugend durch Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmt war, wurde Freizeit ein Leben lang klein geschrieben. Sie erlebten noch die 60-, dann die 48-Stunden-Woche, Samstag als vollen Arbeitstag. Bis 1957 gab es einen Urlaubsanspruch von zwölf Tagen im Jahr, Samstage mit eingerechnet. Wann konnten diese Menschen überhaupt Freizeitaktivitäten entwickeln?
Dennoch haben viele Jüngere das Gefühl, dass die heute 65-Jährigen auf Kosten der nachfolgenden Generation leben.
Zunächst muss man festhalten, dass ein Generationenkonflikt oft herbeigeredet wird, dass es zwischen den Generationen im privaten Bereich noch nie so eine große Harmonie gab wie heute. In verschiedenen Generationenstudien wurde festgestellt, dass frühere Jahrgänge mit ihren Eltern weit mehr Auseinandersetzungen hatten. Damals gab es weit mehr Verbote und Gebote, und viele Themen, wie zum Beispiel Sexualität, waren tabuisiert. Heute ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln ein viel offeneres.
Allerdings muss man auch sehen, dass sich dieses private oftmals gute Verhältnis der Generationen untereinander gesellschaftspolitisch kaum abbildet. Ich erinnere nur an die Äußerungen, denen zufolge 85-Jährige keine künstlichen Hüften und 75-Jährige keine Dialyse mehr auf Kosten der Solidargemeinschaft finanziert bekommen sollten. So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Generationen. Die Jüngeren sollten die erbrachten Leistungen der Älteren zur Kenntnis nehmen, die es in ihrem Leben in mancher Hinsicht viel schwerer hatten. Wir Älteren aber müssen einsehen, dass die Jungen finanziell überfordert sind. Die heute erwerbstätigen 25- bis 60-Jährigen müssen für Kinder und für zwei Generationen im Rentenalter aufkommen.
Während die heutige Generation Älterer im Allgemeinen gut abgesichert ist, findet die Generation der 30- bis 45-Jährigen oft keinen nachhaltigen Einstieg ins Berufsleben, hangelt sich von Job zu Job. Steuern wir in 15 Jahren auf eine neue Altersarmut zu?
Es kann eine Schieflage geben. Aber oft greifen heute die Großeltern den Kindern und Enkeln finanziell ganz gehörig unter die Arme. Doch nicht jeder hat Großeltern, die zuschustern können. Heute kann man nur an jeden appellieren, privat vorzusorgen. Zudem sollte jeder, der keinen Job hat, ständig in seine Bildung investieren, zum Beispiel eine weitere Fremdsprache lernen, sich neues Wissen aneignen. Schon bald werden wir aufgrund des demografischen Wandels wieder qualifizierte Arbeitskräfte brauchen. Alle, die sich um Bildung und Weiterbildung bemühen, egal welchen Alters, werden gefragt sein.
Das Interview führte Annette Rollmann.
Sie arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Ursula Lehr (CDU) war von 1988 bis 1991 Bundesministerin im Kabinett Kohl. Die emeritierte Professorin und Gründungsdirektorin des
Deutschen Zentrums für Alternsforschung gilt als Gerontologin der ersten Stunde.