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»Multi-Kulti« im Altenheim. Ist das Duisburger Haus ein Modell für die Zukunft?
Leberwurst ist nicht im Angebot, dafür aber türmen sich Schafskäse, Tomaten, Knoblauchwurst, Eier und Fladenbrot auf der weißen Tafel. Frühlingszwiebeln sind begehrt, sie lassen sich offenbar auch mit dritten Zähnen gut kauen. Das türkische Frühstück im Duisburger Seniorenheim "Am Sandberg" ist für die Bewohner ein Höhepunkt der Woche: In Rollstühlen werden sie an die reich gedeckte Tafel gebracht, die wenigsten können sich noch ohne Hilfe fortbewegen. Zwei Frauen tragen ein Kopftuch, eine andere einen modischen Kurzhaarschnitt, die Augenbrauen sind fein gezupft. Ein magerer Mann trinkt aus einer Schnabeltasse den starken Cay-Tee, der hier literweise mit Süßstoff und Zucker getrunken wird. Am Tisch wird wenig gesprochen: Die Bewohner sind konzentriert dabei, die zahlreichen Speisen auf ihren Tellern anzuhäufen.
Das Frühstück ist nicht der einzige türkische Programmpunkt im Heim am Sandberg: Seit zehn Jahren ist es in ganz Deutschland das einzige Haus, das auf die speziellen Bedürfnisse sowohl von deutschen als auch türkischen Senioren eingeht. 15 der 96 Bewohner sind türkischer Herkunft. "Das Essen ist ganz wichtig", sagt Sozialarbeiterin Bengi Azcan. Ältere Menschen hätten keine Lust, neue Rezepte auszuprobieren. "Sie wollen wie in den vergangenen Jahrzehnten Fladenbrot und Oliven essen", sagt Azcan. Genauso wie Deutsche eben auch nicht mit 80 Jahren plötzlich auf Lasagne und Sushi umsteigen mögen.
Der frühere Alltag soll im Heim aufrecht erhalten werden. Keine Experimente mehr. Die Bewohner sind meistens weit über 80 Jahre alt, die große Mehrzahl von ihnen ist dement, leidet unter Alzheimer und Gedächtnisstörungen. Für sie ist die Welt unberechenbar geworden, sie müssen jeden Tag unzählige Dinge wieder neu lernen, neu verstehen. In dieser Situation sind vertraute Mahlzeiten und Rituale umso wichtiger, sie geben Halt und Sicherheit. Unverzichtbar für den Kontakt zur Außenwelt ist vor allem die Sprache. Bengi Azcan beherrscht Türkisch und Deutsch - wie viele der Pfleger und Sozialarbeiter. Sie ist in Duisburg geboren, ihre Eltern kamen aus der Türkei. "Unsere Bewohner haben oft die deutsche Sprache wieder verlernt", sagt die 40-jährige Frau. Die Kommunikationsfähigkeit leide sehr unter dem schwindenden Gedächtnis. Ihre Zweitsprache Deutsch ist dann das erste Opfer der angegriffenen Gehirnzellen. Viele haben sie erst mit 30 oder 40 Jahren gelernt.
Auch an diesem Frühstückstisch sprechen alle nur noch ein paar Brocken Deutsch. "Guten Morgen" und "Tee trinken" sagen sie. Fatma Yagci lächelt. Sie ist nach dem Tod ihres Mannes von Berlin nach Duisburg zu ihrem Sohn gezogen, ihre beiden Töchter leben in Holland. Als der sie nach einem Schlaganfall nicht mehr pflegen konnte, zog sie ins frisch gebaute Heim am Sandberg. Seit neun Jahren lebt die jetzt 74-jährige halbseitig gelähmte Frau hier. Am liebsten trinkt sie ihren Cay mit fünf Tabletten Süßstoff, nach jedem Schluck kaut sie eine Zitronenspalte und spuckt sie wieder aus. Wenn Sozialarbeiterin Azcan ihre Geschichte erzählt, nickt sie beifällig. Erzählen möchte sie nicht - oder es ist ihr zu anstrengend in einer ihr zunehmend fremd klingenden Sprache. Sie packt sich lieber einen kleinen Teller voll mit Gemüse, Käse und Fladenbrot. "Für später", sagt sie nur.
Als die Migranten in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Deutschland kamen, hatten sie sich auf eine kurze Verweildauer eingerichtet. Sie wollten ein paar Jahre in den Pütts und Stahlfabriken des Ruhrgebiets arbeiten, Geld verdienen und dann wieder in die Türkei zurückkehren. Doch die meisten blieben - auch nach der Pensionierung. "Viele Bewohner haben mit dem Eintritt ins Rentenalter ein paar Mal versucht, zurückzukehren", erzählt Azcan. Doch das Leben in der Türkei war ihnen fremd geworden, sie kehrten abermals nach Deutschland zurück. Jetzt sind die ersten von ihnen über 80 Jahre alt. Es ist die erste Generation, die in ein deutsches Seniorenheim geht oder noch gehen wird. Studien gehen davon aus, dass im Jahr 2030 etwa zwei Millionen Muslime in Deutschland leben werden, die älter als 60 Jahre sind. Was das für die Gesellschaft bedeuten wird, kann bislang niemand absehen.
"Wir wissen es noch nicht", sagt Dirk Halm, Sprecher des Essener Zentrums für Türkeistudien (ZfT). Sicher sei bislang nur: Die Generation der türkischen Ersteinwanderer befindet sich in einem schlechteren Gesundheitszustand als ihre deutschen Altersgenossen. "Sie haben sich kaputt gearbeitet", sagt Halm. Die meisten von ihnen haben, gerade im Ruhrgebiet, im produzierenden Gewerbe gearbeitet, in der Montanindustrie. Schwere körperliche Arbeit an Maschinen, in Hitze und Hunderte Meter unter der Erde. Deshalb sei auch der Anteil der Frühverrenteten überdurchschnittlich hoch, kaum einer kann bis zum 60. Lebensjahr arbeiten. Das erschwert noch die finanzielle Versorgung und führt zu Armut - ein Faktor, der ebenfalls entscheidend auf die Gesundheit einwirkt. Laut Berechnungen des ZfT erhalten Türken hierzulande durchschnittlich rund 580 Euro Rente, die Deutschen hingegen 650 Euro.
Ob das deutsche Gesundheitssystem auf diese Patienten eingestellt ist? Zumindest, so Halm, beginne gerade eine Diskussion darüber. Allerdings scheint diese noch sonderbare Blüten zu treiben: Einige Experten wollen die Seniorenwohnungen nach den angeblichen Gesetzen des Islam bauen. So dürfe die Toilette nicht nach Mekka zeigen. Andere halten dies für "kompletten Blödsinn", berichtet Halm. Auch er glaubt, dass viele Migranten längst säkularisiert seien und dieselben Ansprüche an den Komfort, ihre Wohnung und Pflege stellten wie deutsche Senioren. Mittlerweile haben sich Dienstleister wie "Essen auf Rädern" schon auf ihre neuen Kunden eingestellt. Sie bieten zum Beispiel Gerichte ohne Schweinefleisch an. Seniorenwohnheime mit interkultureller Kompetenz gibt es allerdings kaum. Das Duisburger Konzept hat bislang wenig Nachfolger gefunden. In Berlin eröffnete zwar kürzlich ein türkisches Wohnheim, dort können sich allerdings keine Deutschen einmieten.
Und auch wenn das Duisburger Haus jetzt gefeiert wird - am Anfang stieß die Idee auf viele Widersacher. Als Heimleiter Krause vor zwölf Jahren dem Deutschen Roten Kreuz das Konzept eines "Multi-Kulti-Hauses" vorstellte, war die knappe Antwort: "Es gibt keinen Bedarf." Die Nachbarschaft in Duisburg ging auf die Barrikaden: Sie gründeten eine Bürgerinitiative und sammelten 1.500 Unterschriften gegen das Projekt, sie schrieben Transparente auf denen "Wir wollen keine Türken" prangte. Sie fürchteten, die türkischen Alten würden täglich mit Dutzenden von lauten Autos von ihrer Großfamilie besucht, Tiere würden blutig auf dem Parkplatz geschächtet werden. Krause sagt, es sei eine sehr anstrengende Zeit gewesen - am Ende wurde das Heim aber doch gebaut. Und mittlerweile empfängt Krause wöchentlich Besuchergruppen von anderen Diakonien, von Ausländerbeiräten und auch von der Presse. Das Heim ist zu einem Vorzeigeprojekt geworden und Krause zu einem Öffentlichkeitsarbeiter. Im Bücherregal des sportlichen 44-Jährigen stehen Zitat-Lexika und Bücher mit Tipps für Formulierungen.
Jetzt sind auch die Nachbarn zufrieden mit dem schicken Bau. Für Unwissende sieht er aus wie ein Komplex moderner Eigentumswohnungen, ausgestattet mit Balkonen, großen Fensterfronten und einem parkähnlichen Garten mit Teich. "Wir wollten keine Krankenhausatmosphäre", sagt der gelernte Sozialarbeiter Krause. Das war auch ein Anliegen der Migrantenorganisationen, die in die Planung mit einbezogen wurden. "Im Grunde genommen aber", sagt Krause, "sind die Bedürfnisse von deutschen und türkischen Senioren dieselben." Sie wollen nicht wie Kranke oder Behinderte behandelt werden, nicht in einem Krankenhaus wohnen. "Normalisierungsansatz" heißt das in der Sprache der Soziologen. Deshalb hat sich Krause auch gewehrt, als die Stadt Warnschilder für Autofahrer in der Umgebung anbringen wollte. "Vorsicht, Senioren", sollte in dem Dreieck stehen. "Furchtbar" fand das Krause. In seinem Haus müssen alle Utensilien, die an Pflege und Krankheit erinnern, bis elf Uhr morgens verschwunden sein. Die Pflegerinnen und Pfleger tragen keine weißen Kittel.
Die Verweildauer in seinem Haus gibt der Strategie recht: Durchschnittlich bleiben die Bewohner fünf Jahre, in anderen Einrichtungen sind es nur zwei. Und die Warteliste wird immer länger, Senioren aus ganz Nordrhein-Westfalen würden gern am Sandberg ihre letzten Jahre verbringen.
Dilbert Cevik ist erst auf Umwegen ins Heim gekommen. Die zierliche kleine Frau wollte nach dem Tod ihres Mannes in ihre Heimat Türkei zurückkehren - und hat diesen Schritt schnell bereut. Frühere Freunde von ihr lebten nicht mehr, ihre Geburtsstadt hatte sich verändert, die Sprache gewandelt. "Schwer, schwer", sagt sie. Dilbert Cevik fühlte sich fremd. Sie flüchtete zu ihrem Sohn nach Bochum, Geld für eine eigene Wohnung hatte sie nicht. Der Student lebte in einem Wohnheim an der Ruhr-Universität und versteckte seine Mutter in seinem zehn Quadratmeter großen Zimmer. Der Hausmeister drückte ein Auge zu. Trotzdem konnte Cevik das Heim erst bei Einbruch der Dunkelheit verlassen. Bis sie endlich einen Platz in Duisburg erhielt. Im Heim wird sie nun umsorgt - und kann doch ein bisschen türkische Lebensart weiterführen.
"Der Wunsch, von den eigenen Kindern gepflegt und versorgt zu werden, hat für Muslime eine besondere Bedeutung", sagt Ilhan Ilkilic. Er hat am "Zentrum für Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen den Umgang mit muslimischen Patienten erforscht. Diesem Wunsch stehen aber viele Hindernisse im Weg: "Die Arbeitsbedingungen hier und die relativ kleinen Wohnungen machen ein Leben als Großfamilie fast unmöglich", sagt Ilkilic. Deshalb werde für viele ein Aufenthalt in einem Altenheim unvermeidbar. Er hat beobachtet, dass alternde Muslime oft besonders religiös werden. Deshalb begrüßt er auch das spezielle Angebot in Duisburg. Denn hier wurde auch ein Gebetsraum für die religiösen Bewohner eingerichtet. Laut Heimleiter Krause wird er zwar allein schon aus körperlichen Gründen nur selten genutzt. Aber für die Menschen sei es wichtig zu wissen, dass die Möglichkeit zu beten besteht.
Ein Hauptwunsch aller Bewohner war ein "Marktplatz" in der Mitte des Gebäudes, ein Treffpunkt für alle. Heute ist das lichtdurchflutete Treppenhaus zugleich ein Aufenthaltsraum und Speisesaal. Die meisten Bewohner halten sich den Tag über hier auf, können ds eine oder andere Gespräch führen oder einfach über die Stockwerke hinweg Bekannte grüßen. So wie Gertrud Bongartz. "Mir geht es hier sehr gut", sagt die 95-jährige zufrieden. Die vornehme alte Dame freut sich über das breite Angebot. Sie nimmt an den Singstunden teil, an Gymnastikstunden und an dem heiteren Städteraten. Ihr Zimmer sieht aus wie eine private Wohnung, eine blaue Taftdecke liegt über dem Bett, ihre zahlreichen Blazer stecken in Schutzverpackungen aus Plastik. Vor zwei Wochen feierte ihr Bekannter aus dem Nebenzimmer Geburtstag. Seine Blumen schmücken jetzt ihre Frisierkommode.
Bongartz zeigt Fotos von ihrer Konfirmation, dort trug sie dieselbe Perlenkette wie heute. Über ihre türkischen Mitbewohner möchte sie nicht sprechen, sie sind ihr nicht sonderlich aufgefallen. "Bei uns gibt es ja auch solche und solche", sagt sie. Leider würden sie sich ja kaum verstehen. "Wir können uns nur grüßen." Aber einmal, sagt sie, hätten sie einen tollen Abend verbracht. Eine Türkin hätte Dias aus der Heimat gezeigt. Dazu gab es türkisches, honigsüßes Konfekt und Cay-Tee. Seitdem trinkt Gertrud Bongartz keinen Kaffee mehr. "Nur noch schwarzen Tee mit viel Zucker." Annika Joeres z
Die Autorin lebt in Bochum und arbeitet für "die tageszeitung".
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