Nichts ging mehr an diesem 13. Mai 2003: Die Metro stand im Depot, es gab keine Zeitungen an den Kiosken und auch viele Klassenräume blieben leer. In einer Art Generalstreik gingen an diesem Tag in ganz Frankreich mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Der Grund des kollektiven Unmuts: die Reform der Rentenversicherung. Geht es in Frankreich um das Reizwort Rente, taucht vor den Augen französischer Politiker traditionell das Streikgespenst auf. Dass es sich dabei nicht um einen bloßen Spuk handelt, hatte bereits der damalige Premierminister Alain Juppé 1995 erfahren müssen - nachdem ein Streik das Land gelähmt hatte, musste er seine Rentenreformpläne fallen lassen und schließlich sogar zurücktreten. Schon allein mit Blick auf das politische Kalkül ist es daher verständlich, dass die neue französische Regierung unter Ministerpräsident Francois Fillon dieses heiße Eisen nur mit äußerster Vorsicht angeht. Fillon spricht aus Erfahrung: Als früherer Arbeits- und Sozialminister weiß er, wie schnell der politische Rückhalt für ein solches Projekt bröckeln kann.
Verbal demons-triert der neue Premierminister aber dennoch Entschlossenheit. In seiner Regierungserklärung am 3. Juli kündigte er an, dass sich Frankreich nicht länger "mit Reförmchen" begnügen dürfe. Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme seien, so Fillon, keine "Option", sondern eine "Notwendigkeit". "Wir werden die Spezialkassen (regimes spéciaux) reformieren", kündigte Fillon an, ließ aber offen, wie dies konkret geschehen soll. Dabei ist gerade diese Besonderheit des französischen Systems ein Zankapfel. Der Kreis der Begünstigten ist mit fünf Prozent der Beschäftigten zwar klein, aber dafür mächtig: Er reicht vom Zugschaffner der SNCF bis hin zu Mitgliedern der Comédie Francaise. Die Mitglieder der Spezialkassen zahlen nicht nur weniger ein, als sie später herausbekommen, sondern dürfen oftmals auch früher in Rente gehen. Zudem gelten für sie zahlreiche Sonderregelungen. So wird bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF beispielsweise der Rentenanspruch nicht auf Basis der 25 besten Verdienstjahre errechnet, sondern berücksichtigt lediglich die letzten sechs Monatsgehälter. Nicht zuletzt wegen der demografischen Entwicklung werden diese Spezialkassen immer teurer und müssen staatlich bezuschusst werden: So zahlen nur rund 500.000 Franzosen in diese Kassen ein, während aber bereits jetzt 1,1 Millionen Versorgungsempfänger bezahlt werden müssen.
Nicht nur Politiker, sondern auch andere Rentner sehen das ungleiche System - gerade mit Blick auf ihre Kinder und Enkel - mit Unbehagen: "Das ist ein Problem, das wir dringend lösen müssen", sagt Nathalie Moutot. Die Chemikerin, die seit 2001 in Rente ist, hat während ihrer Berufstätigkeit wie die meisten Franzosen in zwei verschiedene Kassen eingezahlt: Zum einen in das so genannte Grundsystem (régime général), in das etwa zwei Drittel aller Berufstätigen ihre Beiträge entrichten. Zum anderen in eine Zusatzkasse (caisses complémentaires), die vom jeweiligen Beschäftigungssektor abhängt. Insgesamt basiert das französische Rentensystem auf einem Umlagesystem. Dabei wird vor allem zwischen Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, Freiberuflern, Künstlern und selbstständigen Landwirten unterschieden.
Nathalie Moutot selbst ist mit 60 Jahren nach 37,5 Beitragsjahren in Rente gegangen - zwei Jahre für die Erziehrung ihrer Tochter wurden ihr dafür gut geschrieben. Mit ihrem Altersruhegeld muss sich Nathalie Moutot zwar keine Sorgen machen, für sie ist die Frage der Renten aber eine Frage der Solidarität: "Die reichen Leute können etwas für ihre Rente zurücklegen, aber für die ärmeren ist es bei den hohen Lebenshaltungskosten einfach nicht möglich", sagt sie.
Denn geht es nach Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy, sollen die Franzosen in Zukunft stärker selber für ihre Renten sorgen. Dabei drängt die Zeit. Denn das Defizit der französischen Sozialversicherung könnte 2007 ein Rekord von 12 Milliarden Euro aufweisen, warnt der Haushaltsausschuss der französischen Sozialversicherung - davon dürften schätzungsweise 3,5 Milliarden Euro für die Rentenversicherung anfallen. Als eine Möglichkeit, die leeren Kassen aufzubessern, wird hinter vorgehaltener Hand eine Heraufsetzung des Mindestalters diskutiert, aber offenbar mit wenig Realisierungschancen. Dabei blicken Franzosen mit Argwohn nach Deutschland, wo in Zukunft bis zum Alter von 67 Jahren gearbeitet werden muss. "Deutschland gilt in dieser Frage als negativer Schrittmacher", sagt die Soziologin Mechthild Veil vom Büro für Sozialpolitik. "Es gilt als kulturelle Errungenschaft, dass man früh in Rente gehen kann", erklärt Veil, "denn die Leute können mit dem Alter etwas anfangen."
2008 soll die Mindestbeitragszeit zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft auf 40 Jahre angeglichen werden. Angesichts des immer größer werdenden Defizits ein Tropfen auf den heißen Stein. Staatspräsident Nicolas Sarkozy weiß, dass hier Reformanstrengungen notwendig sind. Als geschickter Taktiker zäumt er das Pferd jetzt aber von hinten auf: Anfang Juli brachte er im Kabinett eine Art Antistreikgesetz ein. Damit soll beim öffentlichen Nahverkehr und bei der Eisenbahn eine "Minimalversorgung" gewährleistet werden. Bei zukünftigen Arbeitskämpfen gegen die Rentenreform könnte es aber auch dazu dienen, das Streikgespenst so klein wie möglich zu halten.
Die Autorin ist Redakteurin bei "Das Parlament".