Staatsfeindin
Das Leben der Menschenrechtlerin Rebiya Kadeer
Als 1997 ein Aufstand für mehr Freiheit in der nahe Kasachstan gelegenen Stadt Ily in der westchinesischen "autonomen Region" Xinjiang von chinesischen Regierungstruppen blutig niedergeschlagen wurde, nahm die Weltöffentlichkeit davon kaum Notiz. Rund 8.000 Aufständische gelten seither als vermisst - vier mal so viele,wie 1989 nach dem Massaker auf Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Es gibt keine Informationen über die Zahl der Hingerichteten oder in Foltergefängnissen Verschwundenen.
Rebiya Kadeer, 1948 im traditionell islamischen Ostturkestan geboren und heute die wohl prominenteste Menschenrechtlerin Chinas, war zum Zeitpunkt der Proteste Abgeordnete der westchinesischen 14-Millionen-Provinz im chinesischen Volkskongress und genoss zugleich den Ruf, eine der reichsten und wohltätigsten Geschäftsfrauen des Landes zu sein. In der Stadt Ily sammelte sie mit Freunden Zeugenaussagen und Fotos, um die Brutalität gegen ihre uigurischen Landsleute zu dokumentieren. Als sie auf dem Volkskongress in Peking Verarmung, Ausbildungsnotstand und Verletzung der Menschenrechte als Auslöser der Unruhen kritisierte, versprach Staatschef Jiang Zemin, die Situation ihrer Landsleute überprüfen zu lassen. Daraufhin sah der Sekretär der Kommunistischen Partei Xinjiangs sein Amt in Gefahr.
Die Autorin Alexandra Cavelius, die mit "Leila" (2000) ein Mädchenschicksal im serbisch-bosnischen Krieg und mit "Die Zeit der Wölfe" (2002) eine aufsehenerregende Familiengeschichte des Widerstands gegen den russischen Tschetschienkrieg dokumentiert hat, schrieb ihr neues Buch über Chinas "Staatsfeindin Nr. 1" auf der Grundlage zahlreicher Interviews, die sie mit Rebiya Kadeer geführt hat. Entstanden ist eine emotional packende Lebensgeschichte aus dem Blickwinkel einer überaus mutigen Frau, elffachen Mutter, Gattin eines politisch verurteilten und in den 90er-Jahren in die USA emigrierten Regimekritikers, die ihren Lebensauftrag darin sieht, Geld und Einfluss zu nutzen, um Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit für ihre Landsleute durchzusetzen.
Kadeers außergewöhnliche Biografie steht exemplarisch für ein selbstbestimmtes Leben, das zwangsläufig kollidieren musste mit der kommunistischen Herrschaft und ihrem politischen Allmachtsanspruch. 1961 war auch ihre Familie betroffen vom chinesischen Umsiedlungsprogramm zur Reduzierung des uigurischen Bevölkerungsanteils. Die Folge waren Elend und Hunger, die sich mit Maos Politik des "Großen Sprungs" zusätzlich verschärften. Während Bauern nach Erz graben und auf den Dorfplätzen Eisenschmelzen betreiben mussten, starben im Land geschätzte 30 Millionen an Unterernährung. Danach erlebte Kadeer zehn Jahre lang die Auswüchse des Terrors der Kulturevolution.
Es waren Deng Xiaopings pragmatische Wirtschaftsreformen ab 1978, die Kadeer ihren märchenhaft anmutenden Weg machen ließen von einer ambulanten Händlerin zur Besitzerin des ersten privaten Großkaufhauses in der Provinzhauptstadt Ürümqi. Wiederholt erlebte sie willkürliche Beschlagnahmungen ihrer Waren und die alle Bereiche und Ämter durchziehende Korruption.
Ihre Schilderungen bieten außerordentliche Einblicke in die wirtschaftliche Öffnung des kommunistischen Chinas und in die gleichzeitige brutale Unterdrückung jeder Demokratiebewegung.
Trotz ihrer Immunität als Abgeordnete wurde Rebiya Kadeer vor einem Treffen mit amerikanischen Kongressabgeordneten verhaftet. Die Anklage: beabsichtigter Verrat von Staatsgeheimnissen. Sie hatte zwei chinesische Zeitungsartikel bei sich.
Nur ihre internationale Bekanntheit bewahrte sie in der U-Haft vor körperlicher Folter. Stattdessen wandte man härteste Psychofolter an, um sie zu brechen. So wurden Häftlinge in Nachbarzellen schwer misshandelt und ihr anschließend mit ihren Verletzungen an Kopf und Genitalien vorgeführt. Vor ihrer Gerichtsverhandlung machte man sie Glauben, sie werde zum Tode verurteilt und die Strafe sofort vollstreckt. Nach ihrer Verurteilung zu acht Jahren musste sie die Zelle mit Schwerkriminellen teilen, die den Auftrag hatten, sie permanent zu belästigen, zu verleumden und zu bespitzeln.
Nach fünfeinhalb Jahren chinesischer Zuchthaushölle und mehrfachem Arrest in Dunkelzellen war der internationale Druck so stark, dass die chinesische Führung die Dissidentin in einer Geheimaktion in die USA zu einer "Herzbehandlung" ausfliegen ließ. Die Auflage: Stillschweigen über Haftbedingungen und Repressionen, andernfalls würde es die Familien ihrer fünf in Xinjiang festgehaltenen Kinder treffen.
Weil Rebiya Kadeer die Situation ihres Volkes öffentlich machte, ebenso wie die Brutalität, mit der politische Gefangene noch immer umerzogen oder hingerichtet werden, entging sie in Washington nur knapp einem Mordanschlag. Die Berichte dieser couragierten, für den Friedensnobelpreis nominierten Frau bezahlen inzwischen zwei ihrer Söhne, Alim und Ablikim, mit hohen, jederzeit verlängerbaren Haftstrafen in chinesischen Zuchthäusern.
Dieses Buch zeigt beklemmend eindrucksvoll das andere Gesicht des boomenden Reiches der Mitte.
Die Himmelsstürmerin. Chinas Staats- feindin Nr. 1 erzählt aus ihrem Leben.
Heyne Verlag, München 2007; 416 S., 19,95 ¤