Biografie
Der Holocaust-Überlebende Thomas Buergenthal streitet für die Menschenrechte
Viele Holocaust-Überlebende brauchten Jahrzehnte, bis sie über ihre Erlebnisse sprechen konnten. Der ehemalige Auschwitz-Häftling und heutige Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Thomas Buergenthal, der mit "Ein Glückskind" seine Biografie herausgebracht hat, schreibt, er habe immer "sehr ungezwungen und offen" über seine Vergangenheit geredet. Darum fasziniert beim Lesen seines Buches besonders die Frage, wie es dem Autor gelungen ist, nach seinen Erfahrungen von Verfolgung, Ghetto, Auschwitz und Todesmarsch einfach weiter an das Gute im Menschen zu glauben und sich mit unerschütterlichem Idealismus dem Kampf für das Völkerrecht zu widmen. Warum hat er sich nicht wie andere vom Hass auf davongekommene Nazi-Täter oder Mitläufer zerfressen lassen? Warum verfällt er nicht der selbstzerstörerischen Frage: "Warum habe ich überlebt und die anderen nicht?"
Schließlich verfolgen auch Buergenthal die schrecklichen Bilder der eigenen Vergangenheit sein ganzes Leben lang. Besonders dann, wenn er in seiner Tätigkeit als Richter Zeugenanhörungen über Menschenrechtsverletzungen in aller Welt durchführt. Es sind Bilder von der Not und den Demütigungen als Jude im Ghetto im polnischen Kielce, wo er mit ansehen musste, wie Menschen wegen Nichtigkeiten erhängt und seine beiden Stiefgeschwister ermordet wurden. Bilder aus Auschwitz-Birkenau, wohin er 1944 als Zehnjähriger kam. Dort wurde ihm ein neuer Name eintätowiert, der noch immer auf seinem Arm prangt: B-2930. Nachts habe der Himmel vom Rauch der Krematorien eine rötlich-braune Färbung angenommen, schreibt der Autor. Nachts hätten die Menschen, die in die Gaskammern getrieben wurden, um ihr Leben gefleht und geschrien - schlafen konnte der Junge nur, weil er sich einredete, alles sei bloß ein Albtraum. Schließlich der Todesmarsch, den nur wenige durchhielten. "Je größer meine Müdigkeit wurde und je mehr mir die bittere Kälte und der Wind zusetzten, desto öfter fragte ich mich, ob es nicht leichter wäre, sich einfach am Straßenrand auszustrecken und sich töten zu lassen." Er gab der Versuchung nicht nach. "Am Leben zu bleiben war ein Spiel geworden, das ich gegen Hitler, die SS und die ganze Tötungsmaschinerie der Nazis spielte."
Zeugnisse von Menschlichkeit und Größe im Unmenschlichen gaben dem Jungen immer wieder Kraft zum Durchhalten. Bei seinem Transport ins Lager fuhr er in der Tschechoslowakei unter Brücken durch, von denen Menschen Brotlaibe in die offenen Waggons warfen. Eine Gruppe russischer Kriegsgefangener verweigerte sich auf dem Todesmarsch dem Befehl zum Hinsetzen und sang stehend ein patriotisches Lied. Alle wurden erschossen. Seine beiden Freunde Michael und Janek, die er in Auschwitz fand, stellten immer wieder unter Beweis, dass er sich blind auf sie verlassen konnte.
Diese Lichtblicke sind sicher Teil der Erklärung dafür, dass der Autor weder zynisch geworden noch in Depression versunken ist. Er selbst nennt noch sein Vertrauen in das Glück, das ihn davor bewahrt habe, sich für sein Überleben zu grämen. Einfach war es jedoch auch für ihn nicht: Die an seinem Nachkriegswohnsitz in Göttingen vorbeiziehenden Familien von "zufriedenen Deutschen" beobachtete der Junge, der fast alle Angehörigen verloren hatte, "voller Neid und Hass". Er wünschte sich "nichts sehnlicher als ein auf dem Balkon installiertes Maschinengewehr". Erst in den USA gelang es ihm, seine Hassgefühle zu überwinden und sein Leben als Richter und Professor der Sache der Menschenrechte zu widmen. "Wir können einfach nicht aufhören mit dem Versuch, eine Welt zu schaffen, die sich auf Recht und Gerechtigkeit gründet, ganz gleich, wie langsam wir dabei vorankommen", ist er überzeugt. Thomas Buergenthal ist nicht nur ein Glückskind, weil er Ghetto, Lager und Todesmarsch überlebt hat, sondern weil er sich diese Haltung bewahrt hat.
Ein Glückskind.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 285 S., 24,50 ¤