Nüchterne Anklage
Murat Kurnaz erzählt die Geschichte seiner Gefangenschaft im US-Marinestützpunkt Guantanamo auf Kuba - ein Ort, an dem die elementarsten Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden.
Eines ist dieses Buch auf jeden Fall: exzellent geschrieben. Im Grunde handelt es sich ja um eine gruselige Schauerstory, bei deren Lektüre es kalt den Rücken runterläuft: Folter in Guantanamo, sozusagen hautnah geschildert - Schläge, Elektroschocks, Kopf unter Wasser, Isolationshaft in unterkühlten oder überhitzten Zellen, Demütigungen im Drahtkäfig, von Fesseln wundgescheuerte Füße. Taugt dieses von Murat Kurnaz durchlittene Horrorschicksal, das über den Untersuchungsausschuss des Bundestags die Politik aufscheucht, zur Vorlage für ein fast zu perfektes literarisches Kunststück? Andererseits: Warum soll diese Geschichte nicht spannend geschrieben sein?
Zeitsprünge halten das Interesse beim Lesen wach: Eine Rückschau auf die lockere Jugendzeit des Türken in Bremen als Kraftsportler und Disco-Türsteher mit einem Faible für deutsche Mädchen ist zwischen Einblicke in das Schreckensregiment von Guantanamo eingeblendet, die Hochzeit des plötzlich zum strenggläubigen Moslem konvertierenden jungen Mannes in der Türkei taucht zwischen ersten Qualen im afghanischen Kandahar und dem Transport nach Kuba auf. Die Verhaftung des fälschlicherweise unter Terrorverdacht und während seiner über vierjährigen Guantanamo-Haft nie angeklagten, geschweige denn verurteilten Deutsch-Türken Ende 2001 in Pakistan kommt im Buch fast wie ein kleiner Krimi daher; die Gründe für diese Festnahme sind bis heute nicht geklärt. In Guantanamo legte Kurnaz, der zahllose Verhöre samt körperlichen Misshandlungen durchmachen musste, mit einer geschickten Frage einen Bewacher herein und erfuhr so, dass ihn die USA für 3.000 Dollar der pakistanischen Polizei abgekauft haben - wie einen "Sklaven", resümiert er.
Kurnaz hat dieses Buch nicht selbst verfasst. Das war der Journalist Helmut Kuhn, der sich die Erlebnisse angehört und in Ich-Form zu Papier gebracht hat. Als Profi weiß Kuhn, dass eine zornbebende, mit heißer Feder geschriebene Anklageschrift weitaus weniger Wirkung erzielt als eine eher unaufgeregte Reportage über das erlittene Unrecht.
Doch die Schilderungen erschüttern gerade wegen ihrer Nüchternheit und gehen umso mehr unter die Haut. Eingesperrt im Drahtgitterverhau: "Ein Raubtier hat in seinem Käfig mehr Platz, und es bekommt auch mehr zu fressen." Nie unbeobachtet, stets im Blick der Wärter wie der Überwachungskameras: Solche Passagen offenbaren das Lebensgefühl in einem System à la Orwell. "Sie halten mir Elektroden an die Fußsohlen", erinnert sich Kurnaz, "ich höre Schreie (...) es sind meine Schreie". Tagelang wurde er mit Handschellen an einer Kette aufgehängt. Es ist die Rede von Ärzten, die "kamen, nur um zu sehen, ob man schon tot war oder die Folter noch eine Weile aushalten würde". Immer wieder tauchten Schlägertrupps der "Immediate Reaction Force" auf und schlugen Gefangene wegen so genannter Regelverstöße zusammen. Die Isolation: "Ich verbrachte insgesamt über ein Jahr allein in absoluter Dunkelheit", in Containern, "entweder in einem Kühlschrank oder in einem Ofen, bei wenig Nahrung. Einmal drei Monate hintereinander".
Schlecht mag es manchen Lesern werden, wenn Kurnaz die Verstümmelungen von Gefangenen durch Mediziner beschreibt: Einem Mann mit Zahlschmerzen seien acht gesunde Zähne gezogen, ein Häftling mit Problemen an einem Finger seien mehrere Finger abgeschnitten worden. Kurnaz wollte unter keinen Umständen auf die Krankenstation: "Ich wollte meine Zähne, Finger und Beine behalten." Er erwähnt aber auch Soldaten, die sich menschlich verhielten und schon mal eine größere Essensration ausgaben. Aber der Türke prügelte sich auch einmal mit einem brutalen Soldaten und spuckte einen anderen an.
Kann man all die schauerlichen Erzählungen für bare Münze nehmen, wird da nicht doch übertrieben? Immerhin stimmen die Berichte in diesem Buch überein mit den Erinnerungen anderer Guantanamo-Insassen. Aber selbst wenn man nur die Hälfte glauben will: Das wäre schockierend genug.
Es ist eine Reportage aus persönlicher Sicht, keine politische Reflexion über den Fall Kurnaz - auch keine detaillierte Auseinandersetzung mit den Vorwürfen deutscher Geheimdienstspitzen, trotz seiner strafrechtlichen Unschuld habe der Bremer Türke 2001/2002 aufgrund gewisser Verdachtsmomente als "Gefährder" eingestuft werden müssen. Und so mag man nach der Lektüre weiterhin zweifeln, ob Kurnaz im Oktober 2001 tatsächlich nur eine Art Pilgerreise nach Pakistan zur Vertiefung seiner Korankenntnisse zwecks Vorbereitung auf ein religiöses Eheleben antreten wollte. Allerdings: Kurnaz hatte in Pakistan keine Kontakte zu terroristischen Kreisen. Und vor allem: Nichts kann rechtfertigen, was er in Guantanamo über sich ergehen lassen musste.
Kurnaz kam im August 2006 nach einer Intervention Angela Merkels bei George W. Bush frei. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags versucht zu klären, ob die frühere Regierung eine Mitschuld an der langen Gefangenschaft von Kurnaz hat, weil er seinerzeit aufgrund offenbar bloß vager Verdachtsmomente als Sicherheitsrisiko eingestuft und deshalb gegen ihn eine Einreisesperre für den Fall seiner Freilassung durch die USA verhängt wird. Die Abgeordneten ringen kontrovers um die politisch-juristische Aufarbeitung dieser Affäre. Das Buch ruft in Erinnerung, dass hinter diesem politischen Streit ein konkretes menschliches Schicksal steht.
Fünf Jahre meines Lebens.
Rowohlt Verlag, Berlin 2007; 288 S., 16,90 ¤