China
Vor den Olympischen Spielen präsentiert sich die Regierung als verantwortungsvolle Großmacht. Regimekritiker werden jedoch weiter bedroht oder inhaftiert. Noch sind die Protestierenden nicht vernetzt.
Bauer Zhao Jiuliang senkt den Blick. "Mutig bin ich nicht", sagt der 42-Jährige und krempelt die Ärmel seines weißen Hemdes hoch, "ich setze mich nur für unsere Rechte ein." Er nickt grimmig in Richtung des zweistöckigen Dorfkomiteegebäudes am Eingang des 900-Seelen Dorfes Dongtai rund anderthalb Stunden nordwestlich von Peking. "Die haben doch gemacht mit uns was sie wollten", schimpft der zupackende Zhao und präsentiert die gesammelten Beweisstücke des Landbetrugs.
Ohne Rücksprache mit den Bewohnern ließ Dorf-Chefvorsteher Gong Zhenguo seit April 2005 auf rund drei Hektar Ackerland 100 grau-rote Villenhäuschen im alten Hofhausstil errichten. Mittlerweile sind über 80 verkauft und als Teilhaber der Bau-GmbH verdiente Gong daran kräftig mit. Die Bauern bekamen keine Entschädigung, obwohl ihnen diese gesetzlich zusteht. Zudem wurde durch die Bauarbeiten das Dorftrinkwasser knapp. Gong ignorierte zwei Baustopps, welche die Bewohner um ihren Anführer Zhao erwirkten. Trotz Drohungen kämpfte Zhao Jiuliang weiter und erreichte Mitte Juni 2007 die Abwahl des korrupten Gong nach einem 20-stündigen Protestmarathon. Die Durchführung der gesetzlich alle drei Jahre vorgesehenen Dorfwahlen konnte die übergeordnete Gemeinderegierung letztlich weder verhindern noch erfolgreich manipulieren. Nach den Wahlen steckte die Polizei Zhao allerdings für drei Tage ins Gefängnis.
Punktsiege im Kampf um Menschenrechte haben in China immer einen bitteren Beigeschmack. Im Vergleich zur politischen Willkürherrschaft unter Mao Zedong genießt die chinesische Bevölkerung heute mehr Freiheiten und größere Rechtssicherheit. So können sich viele einen besseren Lebensstandard leisten und genießen die wiedergewonnene Privatsphäre. Die chinesische Führung hat den UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert und den Schutz der Menschenrechte 2004 in die Verfassung aufgenommen. Im Rahmen der Olympischen Spiele 2008 in Peking will sich China als verantwortungsbewusste Großmacht präsentieren.
Als Beweis lockerte die kommunistische Führung ab Januar 2007 die Arbeitsbestimmungen für ausländische Journalisten. Kritische chinesische Publizisten und engagierte Rechtsanwälte sowie Gläubige, die sich außerhalb der staatlich sanktionierten religiösen Gemeinden bewegen, bedroht und inhaftiert Beijing jedoch mehr denn je. Tibeter und die muslimische Minorität der Uighuren in Chinas nordwestlichem autonomen Gebiet Xinjiang werden diskriminiert und sind willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. Die Volksrepublik richtet nach wie vor weltweit die meisten Menschen hin. "Im Bereich unserer Anliegen hat sich nichts geändert", bilanziert Dirk Pleiter, Leiter der China-Sektion bei Amnesty International Deutschland.
Neu ist allerdings der professionellere Umgang der chinesischen Führung mit dem Thema Menschenrechte. Bis Mitte der 1990er-Jahre wich Peking dem internationalen Dialog aus und wies Kritik brüsk zurück. Heute nimmt China selbstbewusst an Foren und Konferenzen teil. In der Analyse der eigenen Menschenrechtslage unterscheidet sich die chinesische Position kaum noch von ihren Kritikern. "China hat viele Probleme im Bereich der Menschenrechte", sagt Dong Yunhu, Vize-Chef der regierungsnahen Forschungsgesellschaft für Menschenrechte, "das liegt an mangelnder Transparenz, zu geringer Partizipation der Bevölkerung und schlechter Gesetzesumsetzung." Das Ideal der Menschenrechte sei universell, meint der Mittfünfziger, jedoch sollten die internationalen Kritiker die "spezifisch chinesischen Bedingungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten" berücksichtigen. China werde Schritt für Schritt seinen eigenen Weg zur Demokratie finden. "Übertriebene Kritik von außen ist da eher kontraproduktiv", sagt Dong, "die Realität zwingt China zur Anerkennung der Menschenrechte."
Wachsende Interessenkonflikte in einer fragmentierten Gesellschaft bereiten Peking zunehmend Sorgen. Aufgrund des größer werdenden Unterschieds zwischen Arm und Reich sowie eines systemischen Machtmissbrauch zählten die nationalen Sicherheitsbehörden im letzten Jahr offiziell über 70.000 Proteste. Wohnungsbesitzer fordern effektiven Rechtsschutz gegenüber eigenmächtigen Immobilienunternehmen. Beide Parteien sind Profiteure des ökologischen Booms und somit Unterstützer des kommunistischen Regimes. Sie vor den Kopf zu stoßen, kann sich die Regierung nicht leisten.
Zudem sieht sich China mit den Kosten des Wirtschaftswunders konfrontiert: Bauern protestieren gegen gravierende Umweltschäden und steigende Krankheitsfälle aufgrund ignoranter Fabrikbesitzer und bestechlicher Beamter. Wanderarbeiter wehren sich gegen Lohnprellung und ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Noch sind die Protestierenden nicht vernetzt, Zielscheibe sind vor allem lokale Politiker und nicht das politische System. Sozialer Unfrieden bedroht jedoch das Wirtschaftswachstum, aus welchem die Kommunistische Partei ihre Legitimität schöpft. Deshalb plädiert die chinesische Führung um Staats- und Parteichef Hu Jintao sowie Ministerpräsident Wen Jiabao nun für ein nachhaltiges Wachstum und eine "harmonische Gesellschaft".
Peking weiß längst, dass sie die Menschenrechtsverletzungen ohne unabhängige Gerichte und Interessenvertretungen nicht in den Griff bekommt. Doch eine dazu notwendige Reform des politischen Systems lehnt das chinesische Regime ab. Offizielle Bemühungen für besseren Rechtsschutz der als "schwache Bevölkerungsteile" bezeichneten Bauern und Arbeiter haben deshalb nur mäßigen Erfolg. Die Mitte der 1990er-Jahre auf allen Verwaltungsebenen eingerichteten Rechtshilfezentren bieten kostenlose Beratung und Vermittlung von Rechtsanwälten. Jedoch verweigern die Sicherheitsbehörden oft die Kooperation mit den Anwälten. Da diese nur eine magere Aufwandsentschädigung bekommen, lassen sich die Rechtsvertreter dann doch oft von beklagten Behörden oder Unternehmen kaufen.
Chinas Menschenrechtsadvokaten müssen Idealisten sein. Zhang Xingshui etwa schläft zudem wenig und telefoniert fast ununterbrochen. "Was soll ich sagen", lacht der 39-jährige Rechtsanwalt, "ich habe immer gerne Heldenromane und Autobiografien von Jefferson oder Lincoln gelesen." Auf der Fensterbank vor Zhangs voll gepacktem Schreibtisch ragt eine kleine Freiheitsstatue zwischen chinesischen Vasen und Buddha-Bildern hervor. Neben vielseitiger Inspiration leitet Zhang vor allen Dingen die Erfahrung, dass der Kampf um Menschenrechte aus dem System heraus geführt werden muss.
Deshalb übernehmen er und eine zunehmende Zahl Gleichgesinnter trotz Bedrohungen durch die Polizei unermüdlich Fälle, die sonst alle fürchten: Sie verteidigen Dissidenten, Falun-Gong-Anhänger, verfolgte Gläubige und ausgebeutete Bauern. "Bevölkerung gegen Regierung", sagt der Advokat, "das kann man kaum gewinnen." Und dennoch hat er gerade für eine Gruppe von um Ackerland betrogenen Bauern gegen die Regierung der Provinz Zhejiang gewonnen.
Die Autorin arbeitet als China-Korrespondentin des österreichischen Nachrichtenmagazins "Profil" in Peking.