ESSAY
Zur Diskussion über die Einführung staatlicher Folter
Die Verrechtlichung der Folter durch eine neue Inquisitionsprozessordnung war im 13. Jahrhundert ein nicht zu unterschätzender Fortschritt im Strafverfahrensrecht des damaligen Europas. Sie ist Teil der großen Rechtsreform des Mittelalters, mit der sich die katholische Kirche zu einer Art frühem "Rechtsstaat" entwickelte. Doch das ist lange her. Nach einer Serie von Revolutionen sind in Europa inzwischen demokratische Rechtsstaaten entstanden.
Das erste moderne Menschenrecht, das den Weg zu diesen demokratischen Staaten geöffnet hat, war die Abschaffung der Folter. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist daraus ein absolutes, abwägungsresistentes und notstandsfestes positives Recht eines jeden Menschen geworden - es ist nicht nur jeder demokratischen Staatsverfassung selbstverständlich, sondern auch völkerrechtliches ius cogens, eine überstaatlich zwingende Norm, die alle Staaten bindet. Das hat nicht nur gute historische Gründe, die durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs eine neue Bedeutung gewonnen haben, sondern ist auch darin begründet, dass Demokratie und legalisierte Folter sich wechselseitig ausschließen. Die demokratische Verfassung verbietet Folter - sie muss sie verbieten, wenn die Demokratie Bestand haben soll.
Trotzdem erleben wir derzeit eine nicht endende, unsägliche Debatte um die Wiedereinführung der Folter, die bedrohlicher ist als jede illegale Folterpraxis. So schrecklich ihre weite Verbreitung und hohe Dunkelziffer auch ist, die Folter ist nur ein Verbrechen und begründet kein Recht. Der Rechtszustand schließt Unrecht nämlich nicht aus, sondern ein. Aber in der Debatte um die Legalisierung der Folter geht es gar nicht um Unrecht, sondern um die Aufhebung des Rechtszustands, den unsere Verfassung vorschreibt. Eine demokratische Rechtsordnung, die auch der so genannten Rettungsfolter kein rechtliches Schlupfloch lässt, "verschläft nicht die Möglichkeit eines Ausnahmezustands, sie weigert sich nur", so die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolf, "für diesen Fall die Aufhebung ihrer selbst anzubieten".
Das ist kein Argument für die Tabuisierung dieser oder irgendeiner anderen Debatte. Die Folterdebatte ist nicht nur erlaubt, solche Debatten gehören sogar zum Wesen demokratischer Willensbildung, denn die Verfassung schützt um der Demokratie willen nicht die verfassungskonforme, sondern die verfassungsfeindliche Meinung.
In der Folterdebatte geht es um die Möglichkeit demokratischer Politik. In den USA hat die Debatte längst die Recht erzeugende Praxis der Legislativ- und Exekutivorgane erreicht. Dort werden Gerichtsurteile, die das Folterverbot bekräftigen, durch eine Gesetzgebung aufgehoben, die zwar noch nicht so weit geht, die Folter ausdrücklich zu legalisieren, aber ihrer illegalen Anwendung durch die Exekutivorgane kaum noch rechtliche Schranken setzt. Auch in Europa findet die Debatte rasch Anschluss an die Praxis. Überall in Europa wächst die Macht der zu informellen Verbünden vereinigten Exekutivgewalten, besonders im Bereich der polizeilichen und staatsanwaltlichen Zusammenarbeit sowie bei den Geheimdiensten, die sich der gesetzlichen Ausgestaltung ebenso entziehen wie der richterlichen Kontrolle. Überall in Europa wandelt sich das freiheitssichernde Gesetz, vor dem alle Menschen gleich sind, Zug um Zug in ein Sicherheits- und Bekämpfungsrecht, wie es der Jurist und Rechtsphilosoph Günter Frankenberg nennt. Fehlt nur noch die legalisierte Folter, um den postdemokratischen Rechtszustand im postnationalen Europa zu besiegeln.
Das schlichte Argument, gegen Feinde der Grund- und Menschenrechte seien die Menschenrechte nicht anwendbar, hat ausgerechnet Sir Tony Giddens, der von Tony Blair geadelte, linksliberale Soziologe, in Verteidigung des Antiterrorpakets der Blair-Regierung nach dem 11. September 2001 dem englischen Oberhaus vorgetragen. Widersprochen hat ihm damals nur eine als Menschenrechtsaktivistin bekannte Herzogin. So verkehrt sich im Zeichen von Terror und Antiterror die Welt. Deutsche Juristen haben die zur englisch-amerikanischen Praxis passende Theorie des Feindstrafrechts gleich mitgeliefert: So schlägt der Bonner Strafrechtler Günther Jacobs vor, Geltung und Genuss der Bürger- und Menschenrechte an eine "kognitive Mindestgarantie" für die Behandlung eines "Individuums" als "Person" zu binden. Nicht erfüllt werde diese Mindestgarantie von Hangtätern, Berufsverbrechern und Terroristen.
Deshalb dürfe, wie Jacobs ausdrücklich hervorhebt, der Staat diese auch "nicht mehr als Person behandeln". An die Stelle des "Bürgerstrafrechts", das die gleichen Rechte eines jeden - und gerade auch des Täters - schützt, solle ein rein instrumentelles "Feindstrafrecht" treten. Aus gleichen Rechten wird im Feindstrafrecht ein Privileg des Siegers: "Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was die Norm ist."
Der Heidelberger Staatsrechtler Winfried Brugger, der als einer der ersten die rechtliche Erlaubnis der Folter zum Zweck, Leben zu retten, verlangt hat, ist längst nicht mehr der einsame Rufer in der Wüste. Selbst der Spitzenkandidat der Linkspartei, Oskar Lafontaine, hat im letzten Wahlkampf die Wiedereinführung der Folter öffentlich gefordert und mit dem sentimentalen Hinweis auf die Gefährdung der eigenen Kinder gerechtfertigt. Der liberale Herausgeber der "Zeit" und jetzige Spitzenkandidat der SPD im Hamburger Landeswahlkampf, Michael Naumann, wollte im Folterfall Daschner gar den Bundespräsidenten einschalten, um den vom Gefängnis bedrohten Folterer spektakulär zu begnadigen. Auch der Bonner Verfassungsrechtler Matthias Herdegen hat im einflussreichen Grundgesetzkommentar Maunz-Dürig die abwägungsresistente Grenze zur Barbarei des Dritten Reiches zu der dann offenbar zivilisierten und abwägbaren Rettungsfolter schneidig gezogen. Etwas verklausulierter, aber in der Sache noch entschiedener, forderte der Bonner Verfassungsrichter Udo Di Fabio sogar, den Würdeschutz des Artikel 1 GG bei Taten, die "mit dem christlichen Menschenbild schlechterdings nicht vereinbar" seien, zu suspendieren. Und die Großen Koalition bemüht sich nach Kräften, dem zu entsprechen und den notstandsfesten Grundrechtskern durch Serien einfacher Sicherheits- und Antiterrorgesetze aufzuweichen.
Es geht hier nicht darum, zu bestreiten, dass es tragische Fälle gibt, in denen moralisch ebenso einleuchtende Gründe für wie gegen die Folter sprechen. Dabei kommt es nicht auf die Zahlen der potenziellen Opfer an. Ein entführtes Kind ist ebenso schützenswert wie Tausende. Aber Recht ist nicht Moral. Wenn das Recht den politischen Akteur von der Gewissensentscheidung durch Legalisierung der Folter entlastet, würde es nicht nur die individuelle Selbstbestimmung des Gefolterten, die Wahrheit zu sagen oder nicht, vernichten, sondern auch die Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung überhaupt zerstören. Ein Gesetz, das es Amtsträgern erlaubt, sich zum Herrn über Ja- oder Nein-Stellungnahmen des dem Gesetz unterworfenen Subjekts zu machen, könnte von diesem nicht mehr akzeptiert oder bestritten werden. Damit aber würde die Möglichkeit, die Bestimmung des Gesetzes an den demokratischen Streit aller Bürger zu binden, vernichtet. Die Möglichkeit des Bürgers zur demokratischen Partizipation, in den Streit um die Geltung des Gesetzes einzugreifen, wäre nicht mehr gegeben. Anders übrigens als die gesetzliche Folter vernichtet selbst die Todesstrafe diese Möglichkeit nicht. Zu ihr kann der Verurteilte bis zum letzten Atemzug ja oder nein sagen, um den Streit um ihre Geltung über seinen Tod hinaus fortzusetzen.
Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg.