Grosse KOALITION
Beim Thema Menschenrechte gilt ein neuer Pragmatismus. Die Regierung versucht einen dritten Weg.
Wie viel Blut darf an den Händen eines Politikers kleben, dass Sie ihm noch die Hand schütteln?" Es war der Außenminister einer älteren bundesdeutschen Ära, der darauf in schöner Ehrlichkeit geantwortet hat: "Das kommt darauf an!" Es kommt darauf an: Das war und ist der zentrale Satz beim Umgang von Demokratien mit Demokratieverächtern, Diktatoren und Autokraten. Und das war auch stets das deutsche Motto bei der Gestaltung der Beziehungen zu den Ländern, die in den Berichten über Menschenrechtsverletzungen obenan stehen. Je größer und wichtiger diese Staaten für deutsche Interessen sind, umso zahmer wird Kritik. So war das unter Kanzler Helmut Kohl, so war das unter Kanzler Gerhard Schröder. So ist es aber nicht mehr unter Angela Merkel. Angela Merkel ist anders, kaum jemand hätte es ihr zugetraut: Sie räumt die Menschenrechte nicht vom Tisch, wenn über Wirtschaft geredet wird. So hat sie es in China gehalten, und in Russland auch.
Dass China bedeutender ist als, sagen wir, Burkina Faso, ist einleuchtend. China setzt man - das war bisher ein ungeschriebenes Gesetz - keine Fristen, China ist ein Zukunftsmarkt. Und Russland ist noch viel wichtiger. Das war, wie gesagt, unter Kohl so, das war unter Schröder so. Weil es um Milliardenaufträge ging, vergaß Helmut Kohl 1995 bei seiner Chinareise das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens. Und weil die deutschen Interessen auf dem großen russischen Energiemarkt so drängend sind, war Schröder beim russischen Präsidenten Putin allenfalls ein sehr leiser Mahner. Es galt, unter Schröder wie Kohl, eine politische Relativitätstheorie: Je größer das Land, desto kleiner die Empörung. Heuchelei in der Politik hat also, so lautet die Fundamentalkritik von Menschenrechtsorganisationen, einen beschwichtigenden Namen: Sie heißt Pragmatismus.
Ausgerechnet die Pragmatikerin Angela Merkel hat diese Art von Pragmatismus beendet - der Honeymoon in den deutsch-chinesischen und den deutsch-russischen Beziehungen ist vorüber. Vorbei ist es mit der ungebremsten Euphorie. Angela Merkel schlug schon bei ihrem ersten Besuch in Peking als Kanzlerin einen deutlich sachlicheren, kühleren Ton an als ihr Vorgänger Gerhard Schröder. "Weniger Show, mehr Problemlösungen", das sei ihr Anspruch, ließ Merkel verbreiten. Sie ist ihm gerecht geworden. Schon bei ihren Antrittsbesuchen in Washington, Moskau und Peking ließ sie den neuen Stil erkennen, der mittlerweile Konturen hat: Sie spricht strittige Fragen klar an. In Washington sparte sie Guantánamo nicht aus, in Moskau nicht Tschetschenien und in Peking, bei ihren Treffen mit Premier Wen Jiabao und Präsident Hu Jintao, plädierte sie für die "Unteilbarkeit der Menschenrechte", warb für Religionsfreiheit in Tibet und einen Dialog mit dem Dalai Lama. Zudem kritisierte sie Chinas Praxis der Lagerhaft ohne Gerichtsurteil und erinnerte daran, wie wichtig ein freier Zugang zum Internet für die Entwicklung eines Landes ist. Der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung listete das nach ihrem ersten Besuch auf - mit fast ungläubigem Staunen, ja mit einem Hauch von Bewunderung.
In den Beziehungen zu Washington gibt es nichts zu bewundern: Es herrscht halt wieder demonstrative Partnerschaft, andererseits hat Merkel gegenüber der Regierung Bush ein paar kritische Töne angeschlagen und sich von Exzessen beim Antiterrorkampf distanziert. Ein wirkliches Konzept für die Zukunft der Partnerschaft mit den USA ist nicht erkennbar. Da wartet man auf den Abgang der Regierung Bush und hofft, dass sich das Problem nicht mehr in der alten Schärfe stellt. Die in Russland 2008 bevorstehende Neuwahl des Präsidenten hat ebenfalls Einfluss auf die deutsche Menschenrechtspolitik: Eine besondere Zurückhaltung gilt als sinnlos - nicht zuletzt wegen des Ablaufs von Putins Amtszeit. Auch Merkel reist, wie ihre Vorgänger, mit großen Wirtschaftsdelegationen. Auch sie wohnt brav den großen Unterschriften-Ritualen bei, wenn Siemens und andere ihre Abkommen zelebrieren. Dann wirbt sie für die "schöne Technologie" des Transrapid und den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Doch sie bringt eben auch die in China weit verbreitete Produktpiraterie gleich im ersten Arbeitsgespräch auf den Tisch. Sie pflegt die Beziehungen, sie macht aber keinen Kotau. Wenn die Wirtschaft brummt, ist der Staat gesund - und Kritik nicht angebracht? Die Versuchung, in Russland auch diktatorische Zustände zu akzeptieren, wenn nur Rubel und Euro rollen, ist bei der deutschen Industrie groß; bei Angela Merkel nicht.
Erst kommt der Markt, dann kommt lange nichts, dann erst die Menschenrechte: Das war die gewohnte Rangfolge bei der deutschen Außenwirtschaftspolitik. Bei Merkel gilt sie nicht mehr. Sie bleibt im Ausland so, wie sie im Inland ist: Geradeheraus. Bei Schröder war das anders. Auf dem Weg von Berlin nach Peking mutierte er vom Kanzler zum Vorstandsvorsitzenden der Standort Deutschland AG und zum Lobbyisten der wehrtechnischen Industrie. Mit der Verwandlung einher ging eine seltsame Sprachsperre: Er brachte das Wort "Menschenrechte" in China einfach nicht mehr über die Lippen. Dafür formten sich die Wörter "Plutonium" und "Waffenexporte" umso leichter. Diese partielle Sprachstörung löste sich dann erst in den letzten Stunden der Chinareise wieder, wenn er vor eher kleinem studentischen Publikum, aber vielen europäischen Journalisten, ein paar wenige Alibi-Sätze gegen die Verfolgung von Internet-Nutzern in China sagte - adressiert weniger an die Regierung in Peking als an die öffentliche Meinung in Deutschland. Über die Menschenrechte durfte zuvor, wenn's denn unbedingt sein musste, nur jemand aus Schröders Entourage reden: die Justizministerin oder irgendein Beauftragter - auf dass in China oder Moskau ja niemand den Eindruck bekommen konnte, es handele sich um eine Chefsache. Als seinerzeit Bundespräsident Johannes Rau in China war, hat er die Menschenrechte sehr hoch gehängt; Bundeskanzler Schröder ist dann unten durchgelaufen.
Die Unions-Kanzlerin Merkel, in kluger Kooperation mit SPD-Außenminister Steinmeier, sucht und findet den dritten Weg: den Mittelweg zwischen der Kritik, dem prallen Protest, wie ihn viele Menschenrechtler fordern - und der beschwichtigenden Alles-ist-gut-Rhetorik ihrer Vorgänger.
Die Menschenrechtler, die sich viel mehr Kritik wünschen, haben ja nicht Unrecht; ohne ihr Insistieren, ohne ihren Einsatz, gäbe es bei den Menschenrechten keine Fortschritte. Aber daraus folgt nicht zwingend ein Rezept für zwischenstaatliche Politik. Die funktioniert nicht unbedingt nach den lautstarken Methoden, wie sie das Buch Josua des Alten Testaments überliefert: Da wurden siebenmal die großen Hörner geblasen - daraufhin stürzten die Mauern Jerichos zusammen. Im Umgang mit Diktaturen gibt es auch andere Erfahrungen: Offizielle, lautstarke Anprangerung kann verhärten und dazu führen, dass Regierungen völlig unzugänglich werden. So waren die Erfahrungen mit der Sowjetunion und mit der DDR. Humanitäre Erleichterungen wurden damals erreicht mittels einer komplizierten Mischung: Da war der Druck der westlichen Öffentlichkeit, von Zeitungen und Amnesty International; und da waren westliche Regierungen, die gewisse Rücksichten nahmen auf die Prestigebedürfnisse dieser Regime, um guten Kontakt zu halten.
Kluge Menschenrechtspolitik muss wissen, wann sie laut und wann sie leise zu agieren hat. Und kluge Außenwirtschaftspolitik muss wissen, dass sie sich lächerlich macht, wenn der russische oder chinesische Partner den Eindruck gewinnt, man könne dem Westen die Kritik abkaufen. Angela Merkel scheint danach zu handeln.
Der Autor ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung".