USA
Die Administration hat nicht erst seit ihrem »Kampf gegen den Terror« ein gespaltenes Verhältnis zu Menschenrechten
Zwischen der amerikanischen Regierung und der chinesischen Regierung gibt es ein neues diplomatisches Spiel: Sie ziehen in Menschenrechtsberichten übereinander her. Im März legte das amerikanische Außenministerium schon zum 29. Mal seinen "Human Rights Report" vor, in dem es wieder einmal um Folter in Zimbabwe, die Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber in Deutschland und eben auch um die Unterdrückung von Dissidenten in China ging. Wenige Tage später, wie schon in den Jahren davor, hielt der chinesische Staatsrat mit einem eigenen Papier dagegen: Warum sei in dem Menschenrechtsbericht eigentlich nichts über die USA selbst zu lesen und die "wahren Zustände" dort? Verschleppe Amerika nicht Kriegsgefangene nach Guantánamo, seien schwarze und hispanischen Minderheiten dort nicht benachteiligt, dulde das Land nicht immer wieder schlimme Zustände im Strafvollzug?
Vor wenigen Jahren noch hätte man über die Retourkutsche aus China bitter gelacht. Schließlich ist China das Land, in dem Regimekritiker mit harschen Methoden zum Schweigen gebracht werden, wo Wanderarbeiter beinahe ohne Rechte ausgebeutet werden, wo Polizisten Internetcafés und Büchereien patrouillieren, als seien sie George Orwells düsterem Phantasieland Oceania zu Diensten. Amerika hingegen galt den meisten Menschen der westlichen Welt (und vielen darüber hinaus) als ein Land der Freiheit. Oder zumindest eines bestimmten Freiheitsverständnisses, das nicht unbedingt wirtschaftliche Absicherung und Chancengleichheit umfasst, aber sehr wohl den Anspruch auf einen Rechtsstaat, Demokratie und grundlegende Menschenrechte. Amerikas Gründervater Benjamin Franklin hatte über diese bürgerlichen Freiheiten in seinem Land einmal gesagt: "Wer bereit ist, ein Stück essentieller Freiheit für ein bisschen Sicherheit einzutauschen, der verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
Doch die Welt blickt heute anders auf die Vereinigten Staaten von Amerika. "Die Leute denken nicht mehr zuerst an die Freiheitsstatue, sondern an das Gefangenenlager von Guantánamo", so drückte es kürzlich Zbigniew Brzezinski aus, ehemaliger Sicherheitsberater des Präsidenten Jimmy Carter. Tatsächlich: Wer heute die Worte "Amerika" und "Menschenrechte" in einem Atemzug hört, der denkt vor allem an jene von der Administration des George W. Bush geschaffene Zone der Rechtlosigkeit, wo mehrere hundert Inhaftierte aus 30 Nationen festgehalten und verhört werden können - als Teil des "Kriegs gegen den Terror". Guantánamo ist auch in den Vereinigten Staaten selbst bitter umstritten, erst im Juni erklärte das Verfassungsgericht die von der Bush-Regierung dort eingerichteten Militärtribunale für unrechtmäßig, doch an der Sache hat sich bisher trotzdem nichts geändert. Immer noch ist kein Gericht für die Inhaftierten zuständig, immer noch bleiben sie weiter auf unbestimmte Frist in ihren Zellen. Die Verhörmethoden in Guantánamo, zu denen Gewalt und Einzelhaft gehören, wurden im Februar von fünf Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen und auch von Rechtsexperten des amerikanischen Militärs als "Folter" eingestuft. Zahlreiche Selbstmordversuche sind be- stätigt.
Außer Guantánamo fällt einem auch das Foltergefängnis von Abu Ghraib im Irak ein - oder der afghanische Luftwaffenstützpunkt Bagram, wo ebenfalls zahlreiche mutmaßliche Terroristen seit Jahren ohne Kontakt mit der Außenwelt festgehalten werden. Wo Misshandlungen bekannt wurden, fielen zwar Urteile - doch Menschenrechtskämpfer kritisieren, dass dabei nur ein paar einfache Soldaten oder private Geschäftspartner des Militärs als Bauernopfer verurteilt worden. Höhere Verantwortliche wurden nie belangt. Spitzenkräfte der Bush-Regierung lieferten sich immer wieder spitzfindige Debatten darüber, welche Techniken überhaupt zur "Folter" zählen und welche nicht. Erst Ende Juli gab George W. Bush eine neue Richtlinie für die Verhörmethoden des Geheimdienstes CIA heraus, die in Wahrheit immer noch manches Schlupfloch für geächtete Verhörmethoden lässt.
All das ist wieder und wieder in den Medien diskutiert worden. Dabei ist vielfach ein Missverständnis entstanden: dass die Vereinigten Staaten erst unter George W. Bush einen lockeren Umgang mit den Menschenrechten begonnen hätten. Der "Krieg gegen den Terror" habe einen bösen Wandel mit sich gebracht und die USA in Menschenrechtsfragen vom Paulus zum Saulus gemacht. In Wahrheit hatten US-Administrationen immer schon ein gespaltenes Verhältnis zu den Menschenrechten.
So gewährte die Bush-Regierung vor einigen Wochen Einblick in Archive des Geheimdienstes CIA: Nun war es offiziell bestätigt, dass dieser allerlei völkerrechtswidrige Gräueltaten begangen hatte, regelmäßig mit Kriminellen zusammen arbeitete und sogar eine Vergiftung des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro geplant hatte. Die Administration beeilte sich, diese Dinge als "Geschichte" einzustufen, doch Vertrauen in die Freiheits-Bastion USA nährte das nicht gerade. Bush hatte ja auch erst im September eingeräumt, dass in seinem "Krieg gegen den Terror" geheime CIA-Gefängnisse geführt wurden. "Die Theorie lautet, dass Menschenrechte universal sind", fügt Eric Posner von der University of Chicago Law School hinzu. "Während des Kalten Krieges haben die USA Menschenrechte zur Schelte der Sowjetunion benutzt, aber einen Freifahrschein für ihnen freundlich gesonnene Diktatoren ausgestellt."
Auch wegen seiner Innenpolitik hat Amerika manche Schelte von Menschenrechtsorganisationen erhalten - und zwar vor wie nach dem 11. September 2001. Bereits 1998 hatte Amnesty International eine "weltweite Kampagne zum Schutz der Menschenrechte in den USA" gestartet und das Land damals als "weltweit führend in der High-Tech-Repression" kritisiert. Gemeint waren damit zum Beispiel der Einsatz von Elektroschock-Pfeilen ("Taser") gegen Demonstranten, der Einsatz von Pfefferspray oder Elektroschock-Gurten bei Verhören oder gegen aufmüpfige Gefängnisinsassen. Hinzu kommt der Dauervorwurf von USA-Kritikern in der Menschenrechtsbewegung: die Todesstrafe.
Eines fällt in dieser Debatte freilich schwer: All diese einzelnen Berichte, all diese Vorwürfe zu einem objektiven Bild zusammen zu fügen. Blicken wir nur auf Ausrutscher in einem überwiegend vorbildlichen System? Oder verstoßen die USA systematisch oder in besonders zahlreichen Fällen gegen die Menschenrechte? So etwas lässt sich weder sinnvoll quantifizieren noch leicht mit der Situation in anderen Ländern vergleichen. Doch die USA haben ein Problem: äußerst hohe Ansprüche. Amerika will das Vorbild und die größte Macht der freien Welt sein - ganz anders als zum Beispiel China, wo die Führungsriege mit ihrem autoritären Ruf ganz zufrieden ist. "Soft Power" hatte der Harvard-Politikexperte Joseph Nye einmal die Verführungskraft der USA genannt, die sich aus dem freiheitlichen, wohlhabenden Image des Landes nähre. Sie sei ebenso wichtig sei wie ihre Wirtschafts- und Militärmacht und sichere Amerika seinen Einfluss. Ist diese "Soft Power" inzwischen verloren gegangen, weil Anspruch und Wirklichkeit in der Menschenrechtsfrage weit auseinander klaffen?
Man kann durch die USA reisen und immer wieder Menschen treffen, die von der Freiheitsliebe dieser Nation zeugen. Leute, die gegenüber Eingriffen jedweder Staatsmacht so misstrauisch sind, dass sie in den Ohren europäischer Besucher wie Rebellen daherreden, obwohl sie eigentlich nur auf ihr Grundgesetz pochen. Der Rancher Hiibel Dudley Hiibel aus Nevada zog 2004 bis vor das Washingtoner Verfassungsgericht, weil er klären wollte, ob er denn dem Dorfpolizisten wirklich auf Verlangen seinen Ausweis zeigen müsse. Er hatte das Grundgesetz eben so verstanden, dass es keine Passkontrollen im Inland geben dürfe. Gegen Guantánamo gibt es nicht nur Gesetzesinitiativen von Kongressabgeordneten, sondern erst Ende Juni demonstrierten dagegen auch Tausende auf dem Capitol Hill. Die American Civil Liberties Union (ACLU), die mit zu dieser Demonstration aufgerufen hatte, warb dazu mit amerikanischen Flaggen, Zitaten aus dem Grundgesetz und ihrem jüngsten Slogan: "Sicher und frei".
Doch mitten in diesem freiheitlich gesonnenen Land machen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder auch Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationensystematische, nicht bloß zufällige Menschenrechtsverstöße aus. Im Inland trifft es vor allem eine Gruppe, die für das Selbstverständnis der USA - und für das Florieren der Wirtschaft - immer schon wichtig war: die Immigranten. Erst im Mai besuchte der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Jorge A. Bustamente, demonstrativ Los Angeles und hörte sich die Beschwerden zahlreicher Einwanderer an.
In der Frage, wie diese Leute zu behandeln sind, schwindet bereits der öffentliche Konsens rings um "Freiheit" und Menschenrechte. Gastarbeiterprogramme oder gar "Amnestien" für längst ansässige Migranten vorzuschlagen, ist für einen Politiker beinahe Selbstmord; der Zugang dieser Leute zu öffentlichen Leistungen wie Krankenhäusern im Notfall oder Schulen für ihre Kinder wird zwar vom Gesetz garantiert, in der Praxis aber nicht immer gewährt. Welche bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte auch für Ausländer gelten sollen, bleibt heiß umstritten.
Der Autor ist Redakteur der "Zeit".