RUSSLAND
Vor den Duma-Wahlen: Die Zivilgesellschaft gerät zunehmend unter Druck. Behörden erhalten weitreichende Kontrollmöglichkeiten.
Im Juni verließ Manana Aslamasian Hals über Kopf Russland. Die aus Armenien stammende Medienexpertin war wegen eines Verstoßes gegen die Zollbestimmungen angezeigt worden. Zehn Jahre Haft drohten ihr nun, weil sie ihr Bargeld bei der Einreise nach Moskau nicht ordnungsgemäß deklariert haben soll. Für die russischen Behörden scheinbar ein willkommener Anlass, nicht nur Aslamasian, sondern auch die Organisation "Internews", deren Leiterin sie ist - und die sich um die Weiterbildung von Journalisten aus der russischen Provinz kümmert - ins Visier zu nehmen: Sicherheitskräfte durchsuchten Büroräume und beschlagnahmten Computer. Nach 15 Jahren stellte nun die US-finanzierte Organisation ihre Arbeit ein.
Im März schon war auch die mutige Journalistin Fatima Tlisowa ins Exil gegangen. Sie hatte in ihrer nordkaukasischen Heimat Korruption und Machtmissbrauch politischer Eliten nachgespürt und war dafür 2006 von der Hamburger Bucerius-Stiftung ausgezeichnet worden. In den USA erhielt Tlisowa politisches Asyl. Drohungen und Folterungen hatte sie über sich ergehen lassen. Als jedoch ihr Sohn grundlos festgenommen wurde und sie auf mysteriöse Weise schwer erkrankte, entschloss auch sie sich zur Ausreise.
Die Einschüchterungen ziehen immer breitere Kreise. Ein verschärftes Extremismusgesetz soll auch den letzten Kritikern vor den Duma-Wahlen im Dezember noch einen Maulkorb verpassen. Die Formulierung des Gesetzes ist unscharf und erlaubt, jegliche Abweichung von der Kremllinie als extremistisch zu brandmarken. In vorauseilendem Gehorsam weigerten sich so auch im Frühsommer 25 Druckereien, eine Zeitung des oppositionellen Bündnisses "Anderes Russland" mit einem Demonstrationsaufruf zu veröffentlichen. Vergehen mit extremistischem Hintergrund können schließlich nach dem neuen Gesetz mit fünf Jahren Haft geahndet werden.
Der Kreml hat sich nie als Förderer der Zivilgesellschaft hervorgetan. Seit der "Orangen Revolution" in der Ukraine 2004 reagiert Moskaus Führungsriege jedoch höchst gereizt auf Regungen, die nicht "von oben" verordnet wurden. Vor allem gerieten ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und deren russische Partner ins Visier. Häufig werden sie der Spionage und subversiven Tätigkeit verdächtigt. So unterstellte der Geheimdienst etwa dem Dänischen Flüchtlingsrat, "verzerrte Informationen zu verbreiten" und einen "Terroristen zu beschäftigen". Vorwürfe, die zum antiwestlichen Kurs des Kremls passen. Denn dass der Westen die Massen der "farbigen Revolutionen" in Georgien und der Ukraine nur kaufen musste, davon sind die Machthaber felsenfest überzeugt. Eine Einstellung, die ein Menschenbild offenbart, das den Bürgern misstraut und sie nicht reif "für Demokratie" hält. In den Berichten von Transparency International und Freedom House sowie im Bertelsmann Transformations-Index rutschte Russland im vergangenen Jahr in puncto Bürgerrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Nachbarschaft von Weißrussland und China. Im Bereich "Wahlen" erhielt Russland gar die "sechs" (1997 3,5) vor der "sieben" als schlechtester Note für autoritäre Systeme. 1997 hatte das Land noch eine 3,5 bekommen.
Doch auch um die Zivilgesellschaft ist es nicht besser bestellt. Besonders auffällig zeigt sich dies im Vergleich zur Ukraine, die sich seit dem friedlichen Machtwechsel verbessern konnte. Die Abschaffung der Gouverneurswahlen und die Einführung einer Sieben-Prozent-Hürde für die Dumawahlen, die Zulassung von Parteien erst ab 50.000 Mitgliedern und Versuche, jetzt auch noch die lokale Selbstverwaltung zu unterbinden, machen aus der russischen Demokratie eine inszenierten Veranstaltung. Institutionen schmücken sich mit denselben Bezeichnungen wie im Westen, ohne aber deren Funktion zu erfüllen. Der Volksmund taufte dies treffend: "Putjemkinsche" Fassaden. Dass es an Rückkoppelung mit der Gesellschaft fehlt, spüren auch die Verantwortlichen. Staat und Souverän führen ein Eigenleben. Eine Art Nachahmung der Zivilgesellschaft wurde daher in Angriff genommen. Die aus handverlesenen Honoratioren bestehende Gesellschaftskammer dient etwa als ein loyaler Ersatz der lebendigeren Bürgergesellschaft, besitzt aber weder Mandat noch Einfluss.
Mit einer Verschärfung des 2006 in Kraft getretenen NGO-Gesetzes zielt der Staat darauf ab, die Zivilgesellschaft in ein enges Korsett zu zwängen. Dem Gesetz zufolge sind nun alle NGOs verpflichtet, sich neu zu registrieren und Rechenschaftsberichte vorzulegen. Die Registerbehörde, Gosregistrazija, erhielt zudem weitreichende Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten, von denen sie auch Gebrauch macht.
Doch haben die Kontrolleure eins nicht bedacht: Neben den gefürchteten Menschenrechtsorganisationen und Politzirkeln, die nur einen Bruchteil aller NGOs ausmachen, stranguliert die Maßnahme vor allem unpolitische Initiativen: Der Großteil des Bürgerengagements konzentriert sich auf den Sozial- und Kulturbereich, auf Veteranen- und Kindergruppen. Aufgaben, derer sich der Staat entledigte. Die Auflagen haben gerade für diese Initiativen massive Konsequenzen: Etwa 80 Prozent der 359.000 registrierten NGOs müssten eigentlich geschlossen werden, da sie die Meldefrist im April verstreichen ließen. Menschenrechtler forderten Ende Juni eine Gesetzesänderung. Ob mit Erfolg - das bleibt abzuwarten.
Der Autor ist Moskau-Korrespondent der "tageszeitung".