VERFASSUNG
Als Reaktion auf den Nationalsozialismus sind die Menschenrechte in Deutschland geschützt
Deutschland lag nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 in Schutt und Asche. Auch sein Recht und seine Verfassung waren verwüstet. Die vier Alliierten gründeten in ihren Besatzungszonen neue Länder, nachdem Hitler die alten der Weimarer Republik beseitigt hatte. Bald ergaben sich Spannungen, besonders zwischen den USA und der Sowjetunion. Beide wollten ihre Position international ausweiten. Der Kalte Krieg begann und kulminierte im Mai 1948 mit der Berliner Blockade. Die Westalliierten beschlossen daraufhin als Bollwerk gegen die Sowjetunion die Gründung eines deutschen Staates auf ihrem Gebiet. So entstand die Bundesrepublik.
Am 1. Juli übergaben die Militärgouverneure in Frankfurt den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder die "Frankfurter Dokumente". Sie ermächtigten die Deutschen, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die die Verfassung des neuen Staates ausarbeiten sollte. Diese müsste eine Verfassung auf demokratischer und stark föderalistischer Grundlage sein - mit der Garantie von Menschenrechten.
Die Ministerpräsidenten zögerten. Sie fürchteten, ein Teilstaat würde die deutsche Einheit gefährden, und einigten sich auf einen Kompromiss: Sie nahmen das Angebot allerdings mit einer Einschränkung an, dass nur ein Grundgesetz beschlossen werden sollte. Dieses würde wie eine Verfassung wirken, jedoch keine vollständige und endgültige Verfassung sein. Die Alliierten waren einverstanden.
Der Parlamentarische Rat tagte in Bonn und beschloss das Grundgesetz am 8. Mai 1949, dem Jahrestag der Kapitulation. Bereits am 12. Mai gaben die Alliierten ihm ihre Zustimmung, und in der darauffolgenden Woche wurde es in den Länderparlamenten angenommen - nur in Bayern fand es keine Zustimmung. Trotzdem wurde das Grundgesetz am 23. Mai verkündet. Ein Provisorium, das 51 Jahre später, am 3. Oktober 1990 gesamtdeutsche Verfassung wurde - und seinen Namen behielt.
Das Grundgesetz hat zwei Teile. Am Anfang stehen in den ersten 19 Artikeln die Grundrechte, Menschenrechte. Dann erst folgt das Staatsorganisationsrecht mit Artikel 20, der Staatsfundamentalnorm "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Eine mit Bedacht gewählte Reihenfolge: Erst kommt der Einzelne, dann der Staat. Nie wieder sollte es zugehen wie unter Adolf Hitler: "Du bist nichts, dein Volk ist alles."
Die Grundrechte beginnen in Artikel 1 mit der Würde des Menschen. Ebenfalls als Reaktion auf ihre Verachtung in der NS-Zeit, wurde die Würde des Menschen zum ersten Mal verfassungsmäßig verankert und mit dem Zusatz versehen, die sich aus ihr ergebenden Grundrechte seien unmittelbar geltendes Recht. In der Weimarer Verfassung galten sie hingegen nur als "Programmsätze". Dann folgen Artikel 2 als Hauptfreiheitsrecht, Artikel 3 als Hauptgleichheitsrecht und am Schluss werden dem ganzen mit Artikel 19 Absatz 4 "als prozessualem Hauptgrundrecht die Zähne eingesetzt", wie es der Staatsrechtler Günter Dürig einmal nannte: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." Dies, verbunden mit der Gründung eines allgemeinen Bundesverfassungsgerichts, das es in der Weimarer Republik ebenfalls nicht gegeben hatte, führte dazu, dass die Bundesrepublik derjenige Staat wurde, in dem die Menschenrechte besser geschützt sind als irgendwo sonst in der Welt. Dieses Modell hat sich zum "Exportschlager" entwickelt: Viele Staaten haben es übernommen, in Westeuropa etwa Spanien und Italien, in Ländern der Dritten Welt und in Osteuropa.
Lange hatten die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat um die Fassung des allgemeinen Gleichheitsrechts in Artikel 3 gestritten. Wie in der Weimarer Verfassung sollte es ursprünglich nur heißen "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln." Was das meinte, war klar. Es zielte auf unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen. Dagegen führte die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert einen zähen Kampf. Zweimal unterlag sie in Abstimmungen. Aber im Januar 1949 errang sie ihren großen Sieg. Seitdem heißt es ohne jede Einschränkung in Artikel 3 Absatz 2: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
In erster Linie zielte das auf das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik gab der Mann seiner Frau und den Kindern den Namen und bestimmte den Wohnsitz. Er hatte die "väterliche Gewalt", entschied also ebenfalls allein über Schule, Ausbildung und Umgang der Kinder, verfügte über das Vermögen seiner Frau und entschied über ihre Berufstätigkeit. Er konnte sogar ihr Arbeitsverhältnis jederzeit kündigen. In einer Übergangsbestimmung hatte das Grundgesetz dem Gesetzgeber eine Anpassungsfrist bis Ende März 1953 gegeben. Aber nichts geschah. Nun übernahm das Bundesverfassungsgericht die Rolle des Kämpfers für die Gleichberechtigung der Frau. 40 Jahre lang hat es den Bundestag, die Gerichte und die - männlich dominierte -Wissenschaft vom Familienrecht vor sich hergetrieben, an seiner Spitze für die ersten zwölf Jahre eine kluge Juristin: Erna Scheffler war damals die einzige Frau im Parlament. Wegen ihrer geringen Körpergröße wurde sie zwar "Kleine Erna" genannt, doch war sie mehrfach verantwortlich für große und weitreichende Entscheidungen. 1993 beseitigte der Bundestag die letzte Ungleichheit des BGB im Namensrecht. In derselben Weise hat das Gericht übrigens im Mai dieses Jahres den Artikel 6 durchgesetzt, nach dem den nichtehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung zu geben sind wie den ehelichen. Mit dem Lüth-Urteil kam 1958 der große Paukenschlag für die Meinungsfreiheit, "den Mutterboden, die unverzichtbare Grundlage jeder anderen Form von Freiheit". Es war das wohl wichtigste Urteil in der Geschichte des Verfassungsgerichts. Erich Lüth, Hamburger Senatsdirektor, hatte 1950 bei der Eröffnung der "Woche des deutschen Films" zum Boykott der Filme des Regisseurs Veit Harlan aufgerufen. Dieser hatte mehr als 20 Propagandafilme für die Nationalsozialisten gedreht, darunter die wohl schlimmste Judenhetze der Filmgeschichte: "Jud Süß". Die Vertriebsgesellschaft eines neuen Films, den Harlan 1950 gedreht hatte, klagte auf Unterlassung des Boykotts nach einer Vorschrift des BGB über Sittenwidrigkeit - und hatte Erfolg. Erich Lüth habe den Mund zu halten, so die Konsequenz des Urteils.
Lüth legte dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Das Urteil wurde aufgehoben. Mit seinem Grundrechtsabschnitt habe das Grundgesetz eine Wertordnung errichtet, erklärten die Karlsruher Verfassungsrichter, die alle Rechtsgebiete beeinflusse, auch das BGB mit seinen Vorschriften über Sittenwidrigkeit. Sie müssten im Geist dieses Wertsystems angewendet werden. Das Landgericht Hamburg habe deshalb mit seinem Urteil gegen die Meinungsfreiheit in Artikel 5 verstoßen. Die Grundrechte als Wertsystem für alle Gebiete des Rechts - das war nicht nur ein großer Sieg für Erich Lüth. Es war auch eine außerordentliche Stärkung des Werts der Grundrechte.
Seitdem sind sie nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen Eingriffe des Staats in seine Rechte, sondern ein Wertsystem mit "Ausstrahlungswirkung". Das hatte Folgen für die politische Geschichte der Bundesrepublik. Es wurde zur Basis für Entscheidungen, wie etwa die Urteile zum Schwangerschaftsabbruch von 1975 und 1993, über "Soldaten sind Mörder" bis zum "Kruzifix-Beschluss" von 1995, der ein politisches Erdbeben auslöste.
Doch es gab auch Rückschläge. Ein Beispiel ist das "G-10-Gesetz", das im Rahmen der Notstandgesetzgebung von 1968 entstand. Danach kann seitdem der Verfassungsschutz ohne richterliche Anordnung Telefongespräche abhören, ohne dass es möglich ist, sich dagegen zu wehren. Die Kontrolle findet nur durch das kleine "G-10-AuGremium" des Bundestages statt. Das ist ganz offensichtlich ein Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie des Artikels 19, Absatz 4. Doch das Bundesverfassungsgericht entschied 1970, die Änderung sei verfassungsgemäß - ein Sonderfall zum Schutz der Verfassung.
Dieses Urteil tangiert das schwierige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Konfrontiert mit den Gefahren eines internationalen Terrorismus, dessen symbolisches Datum der 11. September 2001 geworden ist, werden wir uns jedoch weiter in diesem Spannungsfeld bewegen. Werden die Dämme der Freiheit halten unter dem Druck der Sicherheitsflut? Allen Skeptikern zum Trotz: Es sieht so aus, als wenn das "Wertsystem" des Grundgesetzes der Belastung standhalten würde. Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus der Zeit nach dem 11. September deuten zumindest darauf hin. Das am meisten umstrittene Gesetz der 90er- Jahre war die Einführung des großen Lauschangriffs, wie es seine Gegner nannten, was offiziell jedoch akustische Wohnraumüberwachung hieß und den heimlichen Einsatz von Abhörwanzen in privaten Wohnräumen meinte. 1998 war dieses Gesetz als Ergänzung des Artikels 13 vom Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen worden. 2004 jedoch hoben es die Karlsruher Richter unter Hinweis auf die in Artikel 1 festgeschriebene Würde des Menschen wieder auf.
Gleiches geschah im Februar 2006 mit dem Urteil zur Verfassungswidrigkeit des 2004 verabschiedeten Flugsicherheitsgesetzes. Es hatte der Luftwaffe den Abschuss von Flugzeugen erlauben sollen, die von Terroristen gekapert wurden. Auch hier verwies das Bundesverfassungsgericht auf Artikel 1 und die von ihm dazu seit langem verwendete "Objektformel". Danach verstößt es gegen die Würde des Menschen, wenn man ihn wie eine Sache behandelt. Damit hat sich auch die unwürdige Debatte um die "Rettungsfolter" erledigt, die 2002 die Öffentlichkeit beschäftigte, als der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner dem Entführer - und Mörder - des jungen Jakob von Metzlers die Folter androhen ließ, obwohl die ebenfalls durch Artikel 1 verboten ist.
Der Autor ist emeritierter Professor für Rechtsgeschichte an der FU Berlin.