IMMANUEL KANT
Warum Freiheit vernünftig ist
Die Geschichte des Fortschritts ist oft eine Geschichte skurriler Sonderlinge. Da wäre zum Beispiel der Philosoph Immanuel Kant. Bis heute wird dieser als zuweilen verschrobener Charakter beschrieben. Was soll man auch denken von einem, der etwa überzeugt war, "unverehelichte Männer erhielten länger ein jugendliches Aussehen, als verehelichte"?
Der Philosoph hielt sich an andere Schätze: "Es ist die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein." Diese Liebe mag ungewöhnlich sein; aber auf die Philosophie wirkte sie produktiv.
Das gilt auch für Kants wenige Einlassungen zum Menschenrecht. Dieses sei "das Heiligste", was Gott auf Erden habe, so schwärmt er in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden". Und ein paar Zeilen weiter preist er es gar als "Augapfel Gottes". Bei einem Aufklärer mag solch ein Hymnus nicht verwundern.
Indes: ein wenig führt er in die Irre. Denn so oft Kant hier auch von Gott redet - letztlich ist er der erste Philosoph, der Menschenrechte auch ohne Gott oder Naturbezug zu denken weiß. Im Gegensatz zu seinen Wegbereitern, etwa Locke oder Rousseau, entstammen Menschenrechte für ihn nicht mehr der Sphäre des Naturrechts, sie ergeben sich aus der bloßen Einsicht in ihre Notwendigkeit. Dieser Umstand hat Folgen. Denn in einem bis heute anhaltenden Streit zwischen Universalisten und Relativisten, in welchem es um nicht weniger als die Frage geht, ob Menschenrechte Normen oder Forderungen sind, bezieht Kants so genanntes Vernunftrecht eindeutig Stellung. Für dieses müssen Menschenrechte eben nicht erst entdeckt oder erfunden werden. Es gibt sie schlicht, weil sie logisch sind.
Noch die Humanisten hatten für die ersten Gehversuche in Sachen Menschenrecht auf den biblischen Gott zurückgreifen müssen. Zwar hatten sie noch keinen rechten Begriff von universeller Freiheit, dafür aber formten sie eine Idee, die für diese später notwendig werden sollte: Erstmals seit der Antike sprachen sich Denker für eine menschlichen Würde aus. Doch erst die Aufklärung sollte einen Menschenrechtsbegriff in die Diskussion bringen, der auch heute noch Verwendung findet.
Hierfür bedienten sich deren Vordenker eines einfachen Kniffs: Sie verlagerten das Recht auf Freiheit und Gleichheit in vorgeschichtliche Sphären. So schrieb etwa John Milton, dass nur Dummköpfe noch bestreiten könnten, "that all men naturally were born free". Und John Locke behauptete gar, dass jeder Mensch mit dem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und auf den Genuss aller naturgesetzlich gegebenen Rechte geboren sei - ein Anspruch, der dem Menschen selbst das Recht gebe, seine Regierung frei zu wählen.
Es war die Natur, aus der all diese Denker ihre neuen Forderungen ableiteten. Als vorstaatliche Gegebenheiten waren die Menschenrechte in dieser fest verankert. Und genau hier setzt Kant mit seiner großen metaphysischen Liebe ein.
Als erster nämlich ist er davon überzeugt, dass Freiheit sich letztlich schon aus der praktischen Vernunft ergäbe. Ohne Freiheit wäre der Mensch weder in der Lage moralisch zu handeln noch für sich oder andere verantwortlich aufzutreten.
Bei aller Kritik, die später auch gegen diese Meinung geübt wurde; bis heute ist Kants Ansatz richtungsweisend. Denn ein Menschenrecht als Vernunftrecht ist immun gegen relativistische Kritik. Wenn Freiheit eine notwendige Voraussetzung des Menschseins ist, dann gilt diese auch jenseits aller kulturellen und religiösen Besonderheiten. Das macht Kant als Menschenrechtsdenker dieser Tage wieder aktuell. In Zeiten drohender Kulturkonflikte ist sein "Augapfel Gottes" nämlich vor allem eins: Der Augapfel eines jeden Gottes.