GroSSe Koalition
Das von den Partnern ungeliebte Bündnis startet nach der Sommerpause in die zweite Halbzeit. Alexander Gauland zieht eine Zwischenbilanz.
Der Start war holprig und die Umstände machten wenig Hoffnung. Die erste Große Koalition war ein strategisches Bündnis mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Für die CDU ging es darum, nach den Verwerfungen der Kanzlerschaft Erhard Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen; für die SPD, Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. Die gegenwärtige Koalition dagegen ist nur der Überraschung des Wahlausgangs geschuldet. Die CDU wollte die schwarz-gelbe Alternative, für die SPD waren durch Schröders Agenda die Regierungshoffnungen zerstoben. Die neue Zusammenarbeit hatte kein identitätsstiftendes Projekt, sie wurde vom Wahlvolk gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten erzwungen. Auswandern, das Licht ausmachen, lauteten die neoliberalen Trotzreaktionen.
Deutschland, so die auch in den Medien weit verbreitete Analyse, war am Ende, da es sich Aufbruch und Reformen verschloss. Der Rücktritt Münteferings vom Parteivorsitz und Stoibers schneller Rückzug nach Bayern waren da nur zusätzliche Belastungen. Doch die Koalition hatte Glück. Der Wirtschaftsaufschwung und der schnelle Rückgang der Arbeitslosigkeit übertrafen alle Vorhersagen und entwaffneten auch jene, die allein in der gnadenlosen Liberalisierung des Arbeitsmarktes das ökonomische Heil erblicken. Doch deren Kritik ist nur leiser geworden, nicht verstummt. Zu wenig, zu langsam, zu widersprüchlich lautet ihr Urteil. Dabei wird stillschweigend unterstellt, dass Große Koalitionen immer und sofort das ganz große Rad drehen müssen. Was 30 Jahre lang liegen geblieben ist, soll nun möglichst in wenigen Monaten über die parlamentarische Bühne gebracht werden - Föderalismusreform, Steuerreform, Gesundheitsreform. Denn, so die ebenso falsche wie ständig wiederholte Prämisse dieses Urteils: Mit der Kraft der Großen kann nur Großes bewegt werden.
Dass die Föderalismusreform ohne die Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern verabschiedet wurde, die Gesundheitsreform noch immer zwischen Kopfpauschale und Einheitsversicherung pendelt, wird den Volksparteien übelgenommen - sie hatten doch schließlich genügend Zeit. Dabei ist die Bilanz nicht schlecht. Bundestag und Bundesrat sind in ein neues Gleichgewicht gebracht, die Arbeitslosigkeit ist rückläufig, die Unternehmen sind durch die Unternehmensteuerreform entlastet, die Maastricht-Kriterien werden wieder eingehalten und der Konsum boomt. Hätte es ähnliche Eckewerte vor der letzten Bundestagswahl gegeben, die CDU hätte wohl noch länger auf das Regieren warten müssen. Was Hans Eichel nie gelungen ist, schaffte Peer Steinbrück mit dem ersten eigenständigen Haushalt - die Trendwende.
Natürlich gab es auch Negatives, Belastendes für Häuslebauer, Pendler, Verbraucher und Rentner. Besonders die beiden letzten Gruppen haben durch die Mehrwertsteuererhöhung und die Rente mit 67 ein Sonderopfer für manche politischen Fehler in der Vergangenheit gebracht. Doch auch hier zeigte sich, dass der Hang zu Untergangsvisionen von der Realität nicht gedeckt ist. Monatelang hatte die FDP das Abwürgen der Konjunktur prophezeit, Ärzte- und Apothekerverbände hatten vor dem Zusammenbruch des Gesundheitswesens gewarnt und die Gewerkschaften vor Altersarmut und dem Abbruch des Sozialstaates. Das erste erwies sich als reine Propaganda, Ulla Schmidts halbe Reform als halb so schlimm und die ganz allmähliche Anpassung des Renteneintrittsalters an die Demografie auch nicht als soziale Katastrophe. Dafür wurden mit dem Elterngeld Weichen für die Zukunft gestellt.
Auch das personelle Potenzial der beiden Großen unterscheidet sich wohltuend von den vielen Rücktritten bei Rot-Grün. Noch hat Angela Merkel keinen Minister verloren und Wirtschafts- wie Verteidigungsminister, die zu Beginn in Berlin zu fremdeln schienen, machen ihre Sache solide. Dass mit Steinbrück und Steinmeier zwei ausgemacht kompetente Minister die sozialdemokratische Parteifahne hochhalten, kann allein die Kanzlerin zugunsten ihrer Partei ausgleichen. Sie hat sich als europäische Ratspräsidentin wie als G8-Vorsitzende zur taktisch versierten Außenpolitikerin gemausert und weit über die Parteigrenzen hinaus Punkte sammeln können. Dass die erzielten Kompromisse mit den Vereinigten Staaten im Umweltschutz und mit den Polen über die europäische Verfassung meist noch nicht ausgefüllte Formelkompromisse sind, schmälert diesen Erfolg nicht. So ist nun einmal multilaterale Konsenssuche, zumal, wenn man es mit einem angeschlagenen US-Präsidenten und nationalpopulistischen polnischen Zwillingen zu tun hat.
Am schwierigsten bleibt die Große Koalition für das Profilierungsbedürfnis der beiden sie tragenden Partner. Angela Merkel befriedigt es einstweilen durch Kanzlerglanz, die SPD aber hat noch kein Rezept gegen die Konkurrenz am linken Rand gefunden. Jetzt rächt sich, dass die Parteien zwar immer versprochen haben, die Ursachen für die Fast-Niederlage der CDU und den Fast-Sieg der SPD aufzuarbeiten, doch nie haben sie wirklich damit begonnen, sich selbst und ihren Anhängern zu erklären, woran es denn nun lag. Angela Merkel ist schließlich Kanzlerin geworden und die SPD an der Regierung geblieben, die beiden wichtigsten Wahlziele sind also erreicht. Doch was für die schon abgeschriebene Schröder-Partei ein Triumph war, erlebte die Merkel-CDU fassungslos als Schock, über den man am besten wegregierte, so lange er noch weh tat. Und da die Phantomschmerzen bis heute anhalten, ist eine offene, von der Parteiführung angestoßene Diskussion bislang ausgeblieben.
Dabei täte sie der CDU mehr Not als der SPD, denn schließlich sollte nach Leipzig ein neues liberales Projekt verwirklicht werden, von dem nun kaum noch etwas übrig ist. Dass Westerwelle gern in dieser Wunde bohrt, ist verständlich, dass die Kanzlerin die Analyse scheut, nicht gerade zukunftsweisend. Zu eng ist ihr Profil mit dem verpatzten Neuanfang verbunden, als dass Fragen nach ihren wirklichen Überzeugungen ausbleiben können. Es ist schon problematisch, als deutsche Margaret Thatcher in die Wahlschlacht zu ziehen und als wandelnder Vermittlungsausschuss à la Kurt Georg Kiesinger herauszukommen. Zu Recht fragen sich ihre früheren Unterstützer aus dem Unternehmerlager: War alles gar nicht so schlimm wie es in Leipzig schien oder ist die Kanzlerin gar keine von uns, sondern nur eine geschickte ostdeutsche Machtpolitikerin mit viel etatistischem Untergrund?
Die Frage kann letztlich nur sie selbst beantworten, doch eine Antwort auf die Gegenfrage nach der Alternative dürfte Kritikern noch schwerer fallen. Es ist ja nicht so, dass eine solche Alternative nicht zur Wahl gestanden hätte. Sie ist von den Wählern bloß nicht akzeptiert worden. Dass eine solche psychologische Umsteuerung keinen Erfolg verspricht, wenn man zugleich immer wieder betont, dass alles falsch oder viel zu wenig sei, ist schon bei Machiavelli nachzulesen. Wenn schon, denn schon: Wenn schon eine andere als die versprochene Politik, dann muss dahinter die Überzeugung von der "neuen Richtigkeit" spürbar sein, die am Ende auch Anhänger und Wähler überzeugt. Es ist zwar richtig, dass große Mehrheiten großer Parteien zu großen Reformen taugen, aber es ist viel Kraft notwendig, um unterschiedliche ideologische Positionen zu einem Kompromiss zusammenzuführen.
Es mag in der Realität zwischen einer gemäßigten Bürgerversicherung à la Schweiz und einer sozial abgefederten Kopfpauschale kein bedeutsamer Unterschied liegen, in der Wahrnehmung der Anhänger beider Parteien erscheint es als der Unterschied zwischen Solidarität und Rücksichtslosigkeit oder mit anderen Augen zwischen sozialistischer Staatsmedizin und verantworteter Freiheit. Diese Gräben zuzuschütten, kostet viel Kraft - mehr Kraft als die Ausarbeitung eines kompromissfähigen Gesetzentwurfes. Es ist das Problem von Angela Merkel in dieser Koalition, dass sie zu engagiert in die eine Richtung marschiert ist, um schon überzeugend den Kompromiss mit der anderen vertreten zu können. Doch wer den Stab über einem zu langsamen Umbau der Gesellschaft brechen will, sollte sich die wahlarithmetisch möglichen Alternativen Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün-Gelb auf der Zunge zergehen lassen. Im ersten Fall lebten die CDU-Wähler in einem fremden Land, im zweiten wären die Reformen von Protesten der Gewerkschaften begleitet und die Rente mit 67 noch immer ein Programmpunkt, der Schwarze wie Grüne einer Zerreißprobe aussetzte. Nach zwei Jahren Großer Koalition liegt nur das Antidiskriminierungsgesetz als unverdaulicher Brocken im Magen der CDU-Anhänger. Das Gegrummel der Unzufriedenen wie der Medien verkennt die Voraussetzungen eines solchen Notbündnisses, dass es weder CDU- noch SPD-Politik machen und schon gar nicht jene Lagerideen verwirklichen kann, die sich in einer neoliberalen FDP und einer sozialpopulistischen PDS angesammelt haben.
Akzeptiert man das, waren es zwei erfolgreiche Jahre. Deutschland wurde nicht unter Wert regiert. Dass Wahlen aller Voraussicht nach heute nicht viel anders ausgehen würden als damals, macht den freidemokratischen Vorschlag, die CDU solle mehr neoliberale Medizin anbieten, zum Rohrkrepierer. Denn was die CDU vielleicht zu Lasten der FDP rechts gewinnen würde, verlöre sie links an die SPD. Es bliebe ein Nullsummenspiel: In Deutschland wächst die Gesamtzahl derer nicht, die sich mit mehr Eigenverantwortung und weniger Sozialstaat anfreunden mögen.
Das bleibt am Ende die Hoffnung der SPD, wenn die Umfragezahlen wieder nichts Gutes verheißen. Für eine linke Verhinderungskoalition dürfte es allemal reichen und irgendwann - nach dem Abgang Lafontaines - auch wieder für einen sozialdemokratischen Bundeskanzler. Bis dahin heißt es für die SPD: finassieren und den großen Entscheidungen ausweichen.