Kooperation
Eine Vielzahl von Organisationen regelt das politische, wirtschaftliche und kulturelle Miteinander an der Ostsee
Heute ist der Blick auf die Ostsee wieder frei. Am Strand umspült das Meer sanft die Findlinge, Tausende von ihnen liegen verstreut an der Küste. Die rund geformten Steine geben dem Lahemaa Nationalpark im Nordosten Estlands sein unverwechselbares Gesicht. Zu Sowjetzeiten war diese Küstenregion Sperrgebiet. Mitten im Westmeer, wie die Ostsee hier genannt wird, steckten Zäune. Sie sollten die Flucht übers Meer verhindern, genau wie die Soldaten auf ihren Wachposten. Einige Esten schafften es dennoch, ins gerade mal 80 Kilometer entfernte Finnland zu fliehen.
Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 wandelte sich das Leben vieler Ostsee-Anrainer radikal. Mittlerweile verbindet die Ostsee wieder mehr, als dass sie trennt. Seit jeher sind sich die Finnen und Esten nicht nur geografisch nah, geprägt haben sie genauso eine ähnliche Kultur und miteinander verwandte Sprachen. Die Finnen waren es auch, die Estland halfen, eine erstaunliche Karriere hinzulegen: von der unterdrückten Nation zur Informationsgesellschaft.
Gemeinsam mit den Schweden investierten sie zum Beispiel Anfang der 90er-Jahre in die Infrastruktur. Denn die gab es in Estland kaum. Sowohl, was das Bankwesen betraf als auch die Telekommunikation. Nach dem Vorbild der nordischen Nachbarn setzte das Land ganz auf die moderne Kommunikationstechnik. Zwar profitieren nicht alle von "E-Estland", dennoch gilt das baltische Land als Musterstaat der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Esten verdanken es ihren guten Netzwerken. Natürlich verdienen inzwischen auch die Schweden und Finnen am prosperierenden Staat, der mit schwedischen Shoppingcenterketten und finnischen Mobiltelefonen übersäht ist.
Die wirtschaftliche Ebene ist das eine, genauso wichtig ist die politische Zusammenarbeit: Sei es im Nordic-Baltic 8, bei dem sich alljährlich die Außenminister und Ministerpräsidenten der fünf nordischen und der drei baltischen Staaten treffen. Oder im Nordischen Rat, im Baltischen Rat und im BEN, dem Baltic Euroregional Network. Noch umspannender sind die politischen Kooperationen in der Nördlichen Dimension der EU und Ostseeparlamentarierkonferenz sowie im Ostseerat. Viele Netzwerke arbeiten außerdem mit Nichtregierungsorganisationen zusammen.
Doch selbst Experten fällt es schwer, die politisch-institutionellen Verflechtungen des Ostseeraumes genau zu überschauen. Eine wichtige Rolle spielt unbestritten der 1992 gegründete Ostseerat. "Er ist so etwas wie ein Regenschirm, der die gesamten Formen der Zusammenarbeit im Ostseeraum umspannt", sagt Tiiu Viljasaar vom Estnischen Außenministerium. Sie ist für die Zusammenarbeit der Ostsee-Anrainer zuständig.
Der Ostseerat besteht aus elf Mitgliedstaaten und sieht sich als Forum zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, das auf politischer aber auch wirtschaftlicher Ebene wegbereitend war - und somit der Europäischen Union (EU) schon "integrierte" Mitglieder lieferte. Von Anfang an gehörten neben den fünf nordischen Staaten und Deutschland auch die drei baltischen Länder, Polen und Russland zu den gleichberechtigten Mitgliedern.
Spielte bei den regelmäßigen Treffen der Außenminister und Fachminister in den ersten Jahren der Demokratisierungsprozess in den ehemaligen Sowjetrepubliken eine wichtige Rolle, debattieren die Mitglieder heute - wie auch schon seit 1992 - vor allem über die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, den Zivilschutz, den Menschenhandel, den Umweltschutz und den Aufbau einer Wissensgesellschaft. Alle Ostsee-Anrainer verbindet das gemeinsame Interesse, ein sicheres, sauberes und wirtschaftlich erfolgreiches Leben an der Ostsee zu führen.
Seit dem Beitritt der vier osteuropäischen Länder 2004 wird die Ostsee von Politikern gern als "Binnenmeer der Europäischen Union" bezeichnet, immerhin sind nun acht Ostseerat-Staaten Teil der EU. Lediglich die Anrainer Russland und Norwegen zählen nicht zu den EU-Mitgliedern. Außerdem Island, das noch nicht mal an der Ostsee liegt, aber aufgrund der engen Verbundenheit zu den nordischen Staaten ebenfalls zum Rat gehört.
Mit der EU-Erweiterung verlor der Rat jedoch zunehmend an politischer Bedeutung, sagt der Politikwissenschaftler Helmut Hubel. "Der Ostseerat war von Anfang an eher ein gesellschaftliches Netzwerk", so der Experte für Internationale Beziehungen von der Universität Jena. "Im Ostseerat geht es mehr um die ‚low policies' - also um Themen wie den Umweltschutz und den Zivilschutz." Für die militärische Sicherheit ist die Nato zuständig. Und wenn die meisten Staaten sowieso EU-Mitglieder sind, warum sollten sie dann noch alles im Ostseerat ausdiskutieren? Zumal deren Beschlüsse zwar politisch, aber nicht rechtlich bindend sind.
Der Erfolg der Arbeit von multilateralen Zusammenschlüssen im Ostseeraum hat immer etwas mit den Interessen der Teilnehmer zu tun. Und die sind, so sehr sie auch die Gemeinsamkeiten betonen mögen und Mitglieder zahlreicher Kooperationen sind, sehr unterschiedlich. Das zeigt sich insbesondere bei Russland. Zwar ist Präsident Wladimir Putin grundsätzlich an einer Zusammenarbeit interessiert, immerhin werden rund 40 bis 50 Prozent der Gewinne durch Auslandsgeschäfte mit den umliegenden EU-Staaten erzielt. Trotzdem verbittet sich der weltweit größte Staat, der reich an Bodenschätzen wie Erdöl ist, politische Einmischungen.
"Russland bleibt bei den Ostseekooperationen ein Fremdkörper - und will es auch sein", sagt Politikwissenschaftler Hubel, der sich intensiv mit den Beziehung zwischen Russland und der EU beschäftigt. Man müsse bedenken, dass viele Firmen wie zum Beispiel der Energiekonzern Gasprom zu über 51 Prozent unter staatlicher Kontrolle stünden. Da sind dann westliche Ideale für eine Zusammenarbeit zwar gut gemeint, doch wenig effektiv.
Russland bildet nicht nur die östliche Grenze des gemeinsamen Ostseeraumes, durch die Exklave Kaliningrad befindet sich der Staat auch mittendrin. Kaliningrad zählt zu einer der Problemregionen: Das soziale Gefälle ist auch im Vergleich zu den direkten Nachbarn Polen und Litauen sehr hoch, die Bildungsmöglichkeiten sind schlecht, es gibt hier die höchste HIV-Rate des Ostseeraums und generell einen Mangel an demokratischen Strukturen.
Seit einigen Jahren bemüht sich die Ostseeparlamentarierkonferenz (BSPC) auf parlamentarischer Ebene darum, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Die Besonderheit der BSPC ist, dass Landes- und Regionalparlamente darin gleichberechtigt vertreten sind. Viel Zeit und Geld investierte das Bundesland Schleswig-Holstein in die Zusammenarbeit mit Kaliningrad, es fanden beispielsweise Austauschprogramme der Gebietsduma und der Partnerstadt Kiel statt. So gut die Arbeit mal gewesen sein mag: Seit Russland zunehmend zentral von Moskau aus kontrolliert wird, hat die lokale Duma kaum noch Einfluss und Handlungsspielräume.
Franz Thönnes, Vorsitzender des Ständigen Ausschusses der Ostseeparlamentarierkonferenz und SPD-Bundestagsabgeordneter aus Schleswig-Holstein, glaubt dennoch, dass sich die Zusammenarbeit mit der russischen Exklave lohnt. "Die Parlamentspartnerschaft zwischen Schleswig-Holstein und Kaliningrad hat eine Signalwirkung", sagt Thönnes. Die jahrelange Arbeit könne mittel- und langfristig gesehen zu einem selbstbewussteren Parlamentarismus auf der regionalen Ebene auch in Russland führen. Sehr diplomatisch.
Klarere Worte findet Thönnes, wenn es darum geht wie sich das Verhältnis zu Russland verändert hat, seit sich die Zahl der EU-Mitglieder im Ostseeraum erhöhte. "Unsere russischen Nachbarn achten deutlich darauf und zeigen bisweilen eine hohe Sensibilität, wenn sie den Eindruck haben, in EU-Politiken vereinnahmt zu werden", sagt der SPD-Politiker. Das gelte für die parlamentarische Zusammenarbeit und die Arbeit auf Regierungsebene. "Hier ist auf unserer Seite ein gutes politisches Fingerspitzengefühl erforderlich. Sowohl in Brüssel wie auch in den nationalen Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten."
Beispiele dafür seien in jüngster Zeit Themen der integrierten Meerespolitik gewesen. Neben der Reinhaltung der extrem befahrenen Ostsee geht es hier auch um die Sicherheit auf See. So erfordern die zunehmenden Öltransporte von Ost nach West höhere Sicherheitsstandards wie Doppelhüllentanker, Lotsenpflicht und gesondert ausgewiesene Schifffahrtswege. "Bei Fragen wie diesen könnte in Zukunft die Nördliche Dimension der EU einen größeren Einfluss haben", sagt Helmut Hubel.
Gegründet wurde die bisher noch weitgehend unbekannte Institution 1997 auf Initiative Finnlands. Ziel ist es, die Politiken der nordischen EU-Mitglieder zu bündeln, um Synergieeffekte zu erzielen. "Idee war unter anderem, einen Beitrag zur Überwindung der sozioökonomischen Entwicklungsunterschiede zwischen West und Ost zu leisten", erklärt Hubel. Mit der Gründung wurden die damaligen Nicht-EU-Mitglieder Polen ebenso wie die baltischen Staaten und Russland einbezogen. Nun, in der 27-Länder-Union, könnte die Nördliche Dimension der EU eine weitere Rolle übernehmen: eine Art Klammer zwischen Russland und der EU bilden. Vielleicht könnte sie auch bei Konflikten mit Russland vermitteln.
Auch wenn sich die Bedeutung der jeweiligen politischen Kooperation mit der Zeit verschiebt, so zählen der Ostseerat, die Ostseeparlamentarierkonferenz und die Nördliche Dimension der EU - neben der EU selbst - noch zu den einflussreichsten Initiativen. Das liegt unter anderem daran, dass sie im gesamten Raum agieren. "Selbst wenn der Hauptakzent der intergouvermentalen Kooperation nun auf einer Zusammenarbeit innerhalb der EU liegt", so Tiiu Viljasaar vom estnischen Außenministerium, "gibt es bei uns auch Herausforderungen, die vor allem in regionalen Kooperationen behandelt werden." Regional arbeitet zum Beispiel der Baltische Rat und auf kommunaler Ebene die Union der Ostseestädte, Union of the Baltic Cities (UBC).
Viele der politischen, sozioökonomischen oder kulturellen Gruppen sind miteinander verflochten. So ist die Europäische Kommission auch Mitglied des Ostseerates und die Ostseeparlamentarierkonferenz hat einen permanenten Beobachterstatus in der Helsinki-Kommission (Helcom), der durch Mecklenburg-Vorpommern und Dänemark wahrgenommen wird. Kein Wunder also, dass kaum einer bei den politisch-institutionellen Verflechtungen durchblickt. Auch deshalb spricht keiner der Experten vom Ostseeraum als einer politischen Einheit. Dazu sind die Beziehungen auf allen Ebenen einfach zu komplex.
"Die Ostsee-Anrainer sind weit von einer politischen Einheit entfernt", sagt Hubel von der Universität Jena, und auch der BSPC-Vorsitzende Franz Thönnes meint: "Selbst für eine Vision ginge mir das zu weit. Dennoch brauchen wir eine gemeinsam verstandene politische Verantwortung für den Ostseeraum." Er lebt das auch im Privaten vor: Sogar die Sommerferien verbringt Thönnes auf seinem Lieblingsmeer. Gemeinsam mit einem dänischen Freund und dessen Frau schippert er an Bord eines alten Gaffelseglers die Schärenküsten West-Schwedens und die Südküste Norwegens entlang; und betätigt sich als Smut in der Kombüse. Eine echte Ostsee-Freundschaft.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.