Im ersten Halbjahr 2007 übernahm Deutschland den EU-Ratsvorsitz in einer schwierigen Phase der europäischen Integrationsgeschichte. Nach den gescheiterten Referenden über den europäischen Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), nach der langen und ergebnislosen Phase der (Selbst-) Reflexion der europäischen Eliten über die zukünftige Gestaltung der EU sowie der Kritik am "Elitenprojekt Europa" musste der deutsche Vorsitz davon ausgehen, dass die Vorbehalte gegen die mit dem Verfassungsvertrag geplanten Integrationsschritte, gegen die europäischen Organe und gegen ihre Politiken erheblich zugenommen haben. Gleichzeitig aber waren aus der Sicht vieler Mitgliedstaaten die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft hoch. Insbesondere durch die Wiederbelebung der Verhandlungen über den VVE sollte die Handlungsfähigkeit der EU unter Beweis gestellt werden.
EU-Präsidentschaften haben kein Zepter in der Hand. Sie füllen ein symbolisches Machtdispositiv im System des Ministerrates der EU auf Zeit und in den engen Grenzen aus, die ihnen die Verträge der EG und EU gestatten. Sie erfüllen somit vertraglich vorgesehene Pflichten und Funktionen (Organisation und Koordination; Vermittlung; Impulsgebung und Steuerung sowie Repräsentation), 1 die sich aus den laufenden Arbeiten aller EU-Organe sowie spezifischen Sprecher- und Vertretungsaufgaben im außen- und sicherheitspolitischen Bereich ableiten. Jede Präsidentschaft ist zudem mit einem umfassenden "Pflichtprogramm" konfrontiert, das die Fortführung im Entscheidungsprozess befindlicher Gesetzgebungsvorhaben sowie das Bearbeiten von "Terminarbeiten" umfasst. Das galt auch für die deutsche Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2007. Außeninduzierte, politische Prozesse und Arbeitszyklen internationaler Organisationen und Regime wie die G8-Präsidentschaft Deutschlands waren bei der Durchführung der gerade einmal sechs Monate währenden EU-Ratspräsidentschaft ebenfalls zu berücksichtigen. Am Beispiel der Verhandlungen über die Revision des Verfassungsvertrages soll im Folgenden gezeigt werden, unter welchen Bedingungen die Funktionen der Präsidentschaft genutzt wurden und welche Schlüsse hieraus für künftige Ratspräsidentschaften gezogen werden können.
Für die Vorgespräche und anschließenden Verhandlungen zur Revision des im Oktober 2004 unterzeichneten, aber im Mai und Juni 2005 in zwei Referenden abgelehnten VVE waren in erster Linie Impulsgeber-, Koordinations- und Vermittlungsfunktionen des Vorsitzes gefragt.
Analytisch war das Dossier der Kategorie relativ stark "vorbehandelter" Themen zuzurechnen, bei denen die Organisationsfähigkeit des Vorsitzes zur Ersterkundung nationaler Positionen weniger stark gefragt ist. Es handelte sich gleichwohl um einen Schwerpunkt, bei dem nur die Eckdaten nationaler Positionen zu Beginn der Vorbereitungen der Ratspräsidentschaft weitestgehend bekannt waren. Der Vorsitz verfügte in den allermeisten Fällen nicht über einen sicheren Einblick in die Untiefen nationaler Rückfallpositionen. Gefragt war damit die Vermittlungsfunktion auf unsicherem Terrain. Die Präsidentschaft konnte sich hierbei nicht auf die Existenz weiterer Vermittler verlassen. Lediglich in zugespitzten und daher auch erst spät eingegrenzten Einzelfragen wie dem Streit mit Polen über die Frage der Stimmengewichtung im Ministerrat war die Präsidentschaft in der Lage, einen Kreis aus Frankreich, Großbritannien, Spanien und Luxemburg mit dem Premierminister Litauens als "Verbindung" zwischen den Lagern zu etablieren, der die Gespräche mit dem polnischen Staatspräsidenten aufnahm und in Rücksprache mit der deutschen Delegation verhandelte. Das Dossier "VVE" gehörte zu den politisch sensibelsten Themen der Ratspräsidentschaft. Wesentlich erleichtert wurde das Vorhaben der Präsidentschaft durch fünf Faktoren: Erstens die Vorarbeiten der österreichischen Ratspräsidentschaft, die im ersten Halbjahr 2006 die Debatte um den VVE energisch vorangetrieben hatte und in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juni 2006 ein klares Mandat an den deutschen Vorsitz formulierte. 2 Zweitens die Vorarbeiten der finnischen Ratspräsidentschaft, die im zweiten Halbjahr 2006 die Grenzen der pragmatischen Fortentwicklung des europäischen Primärrechts auf der Grundlage der bestehenden Verträge auslotete. Zwar testete Finnland diese Reformalternative "nur" für den Bereich der strafrechtlichen und polizeilichen Zusammenarbeit. Gleichwohl machte aber das Scheitern dieser Variante allen Beteiligten klar, dass der Ausweg aus der Reformkrise nicht darin bestehen konnte, mit kleineren, funktional eng begrenzten Schritten voranzuschreiten. Drittens die Madrider Zusammenkunft und Erklärung der "Freunde des Verfassungsvertrages" für ein "besseres Europa" vom 26. Januar 2007. Auf Initiative der Regierungen Spaniens und Luxemburgs kamen hier die immerhin 21 Staaten zusammen, die den VVE bereits ratifiziert hatten bzw. dem VVE grundsätzlich positiv gegenüberstanden (Irland, Dänemark, Schweden und Portugal) und mit der Teilnahme an der Konferenz ihre Bereitschaft zur Ratifikation dieses Textes bekundeten. 3 Die Konferenz barg zwar das Risiko der Antagonisierung vermeintlicher "Befürworter" und "Gegner" des VVE. Aber genau diese beschworene Gefahr - seitens Frankreichs, der Niederlande und Großbritanniens - erleichterte es der Präsidentschaft, ihre Autorität als Vermittlerin zwischen den Fronten zu festigen. Zugleich veränderte sich mit dieser Zusammenkunft die Diskursmacht der Akteure: Denn waren bis dahin vor allem die "Neinsager" und Kritiker des VVE in einem virtuellen Wettbewerb darum hervorgetreten, wer den markigsten Begriff für den Abgesang auf das unliebsame Vertragswerk formuliert, stellte nun eine übergroße Mehrheit der Regierungen klar, dass sie - mit der deutschen Bundesregierung - an der Substanz dieses Vertrages festhalte und nur auf dieser Grundlage bereit sei, in Verhandlungen über das weitere Vorgehen zu treten. Mit dieser Ansage mussten die kritischen Staaten nun auch mit konkreten Vorschlägen zur Frage aufwarten, wie sie eine Alternative zum VVE konsensfähig machen wollten. Viertens stellten die neue niederländische Regierung in ihrem Koalitionsvertrag und der französische Präsident Sarkozy (bereits als Kandidat) frühzeitig klar, an welchen Stellen des VVE sie Nachbesserungsbedarf erkennen und wie sie sich einen formal zwar anderen, sachlich aber stark am VVE orientierten, "konsolidierten" bzw. Reformvertrag vorstellten. Hiermit wurde nicht nur für die Präsidentschaft, sondern vor allem auch für Großbritannien, Tschechien und Polen deutlich, dass der "Rückbau" am VVE selbst aus Sicht der beiden "Nein-Staaten" an Grenzen stößt und diese Regierungen an den im Konvent und der anschließenden Regierungskonferenz vereinbarten Reformen weitestgehend festhalten wollen. Fünftens erreichte die Bundesregierung im Rahmen der "Berliner Erklärung" eine wichtige Vorbedingung für den Erfolg des Gesamtvorhabens: Erklärtes Ziel der Regierung war es, die Stimmung in Europa für einen möglichen Verfassungskompromiss positiv zu beeinflussen. Auch wenn in der Erklärung der VVE selbst nicht erwähnt wurde, konnte die Bundeskanzlerin doch durchsetzen, dass sich alle Staats- und Regierungschefs sowie die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments darauf verständigten, "die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen." Durch diesen Schlusssatz war die Präsidentschaft berufen, den weiteren Reformprozess zum VVE zeitlich zu begrenzen. Hieraus leitete die Präsidentschaft zwei operative Maßgaben ab: Erstens musste das angestrebte Mandat zum Juni 2007 konkret genug ausfallen, um die Regierungskonferenz innerhalb von maximal sechs Monaten abschließen zu können. Daher war - zweitens - auch nur ein enger, vertrauter und von den Staats- und Regierungschef direkt beauftragter Kreis an der Ausarbeitung dieses Mandats zu beteiligen.
Die Rolle des vermittelnden, zur Neutralität aufgerufenen Vorsitzes geriet von Anfang an mit der Rolle des Impulsgebers und nationalen Interessenvertreters in ein Spannungsverhältnis. Innenpolitisch stand die Bundesregierung allerdings im Vergleich zu ähnlichen Situationen (Vertragsverhandlungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza) weniger stark unter Druck. Einzig die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Verfassungsbeschwerde des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler gegen das Zustimmungsgesetz zum VVE bis auf Weiteres nicht zu verhandeln, engte den Handlungsspielraum des Vorsitzes ein. Denn durch die Karlsruher Entscheidung zur Nichtentscheidung konnte sich die Bundesrepublik fortan nicht mehr zu den Staaten zählen, die ohne jede Einschränkung hinter dem VVE stehen. Dies stärkte mittelbar Länder wie Großbritannien, Polen und die Tschechische Republik, die sich seit den gescheiterten Referenden bequem zurücklehnten. Das wahrscheinliche Szenario war damit, dass unter deutschem Vorsitz der Weg für Verhandlungen über einen Änderungsvertrag zu den bestehenden EG- und EU-Verträgen vorgezeichnet werden musste, dessen Gehalt in den Hauptstädten Europas allerdings sehr unterschiedlich definiert wurde. Die Bundesregierung enthielt sich jedoch jeder Stellungnahme zum Karlsruher Querschuss. 4 Insofern konnte sie zwar in der Sache beschädigt, aber argumentativ mit einem relativ weiten, für den weiteren Verlauf belastbaren Ideenkatalog in die Verhandlungen gehen.
Angesichts des ins Stocken geratenen Ratifizierungsprozesses des Verfassungsvertrags beauftragte der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 die deutsche Präsidentschaft, in der ersten Jahreshälfte 2007 mit den EU-Mitgliedstaaten ausführliche Konsultationen zu führen und anschließend dem Europäischen Rat einen Bericht vorzulegen. Der Bericht sollte mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen und als Grundlage für Beschlüsse dienen, wie der Reformprozess der EU fortgesetzt werden soll. Hieraus leitete sich für den deutschen Vorsitz eine besondere Impulsgeber- und Vermittlungsfunktion ab - die des "Wegbereiters" und "Erwartungsmanagers".
Die intern bereits Ende 2005 abgestimmte und vor Beginn der Präsidentschaft allen europäischen Partnern mehrfach verdeutlichte "rote Linie" der Bundesregierung bestand darin, eine Vertragsrevision zu vereinbaren, deren Ergebnis sehr eng am bereits in 18 Staaten ratifizierten VVE orientiert werden sollte. Andernfalls hätte die Präsidentschaft die Unterstützung des Kreises der "Freunde des VVE" aufs Spiel gesetzt. Auch wenn der Vorsitz zur Neutralität verpflichtet war, ergriffen deutsche Regierungsvertreter von Anfang an Partei für diese Linie: Hierzu gehörte, dass die Bundesrepublik offen zum Verfassungsvertrag stand und diesen in "seiner politischen Substanz erhalten" wollte. 5 Im Hinblick auf die EU-Mitgliedstaaten wurde sodann eine nie explizierte, aber für den weiteren Gang der Verhandlungen wichtige Rangordnung herausgearbeitet: An erster Stelle galt es, "die Einschätzung [der] französischen und niederländischen Partner zur Kenntnis zu nehmen, wonach der vorliegende Vertrag nicht noch einmal in dieser Form vorgelegt werden 6kann." 7 An zweiter Stelle waren diejenigen Staaten zu berücksichtigen, die den VVE bis Anfang 2007 noch nicht zur Ratifikation vorgelegt hatten, und dies auch während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht beabsichtigten. Erst an dritter Stelle kamen diejenigen zum Zuge, die den Vertrag ratifiziert hatten und sich hinter die Ausgangsposition der Bundesregierung stellten. 8 Diese Hierarchie kam klar zum Ausdruck, indem die Bundesregierung die Losung ausgab, dass sich zwar "alle bewegen [müssen], aber im Lichte dieser Konstellation vielleicht einige mehr als andere". 9
Die Rolle als Erwartungsmanager hatte somit eine für die Bewertung der Präsidentschaft wichtige Folgewirkung: Aufgrund der eigenen Haltung zum Verfassungsprozess zog sich die Bundesregierung in Verhandlungsarenen zurück, die nicht öffentlich und nur unter Beteiligung eines sehr kleinen Kreises tagten. Der Ratsvorsitz griff auf für Regierungskonferenzen eingeübte Verfahren zurück, um Informationen über den Verhandlungsspielraum der einzelnen Regierungen zu erlangen und diese im Aufstieg zum Gipfel des Europäischen Rates im Juni 2007 im Hinblick auf ihre Kerngehalte und hinter den Positionen liegende Interessen einzugrenzen, einander anzunähern und schließlich konsensfähig aufzubereiten. Im Unterschied zu vorangegangenen Regierungskonferenzen, die in aller Regel von politischen Beamten und Staatssekretären der Außenministerien vorbereitet wurden, schlug Bundeskanzlerin Merkel in einem Schreiben am 2. Januar 2007 an die Staats- und Regierungschefs jedoch eine direkte, streng vertrauliche Konsultation zwischen den Regierungszentralen vor. Die Liste der daraufhin benannten, jeweils maximal zwei "Focal Points" machte deutlich, dass die unter normalen Umständen einbezogene Arbeitsebene der Außenministerien und ihrer Akteure in den Ständigen Vertretungen bei der EU weitgehend außen vor blieb. Die Verhandlungen über den Reformvertrag sollten in erster Linie "zwischen den Hauptstädten" unter gleichberechtigter Mitwirkung der Präsidenten des Europäischen Parlaments und der Kommission geführt werden. Auf Seiten der anderen Verhandlungspartner wurde der erweiterte "Bannkreis" der in die Beratungen der Focal Points einbezogenen Akteure ebenfalls eng gesteckt.
Die Termine für die bilateralen Treffen mit den Focal Points wurden für den Zeitraum zwischen Ende April und Anfang Mai 2007 vereinbart. Die Basis hierfür bildeten zwölf Fragen der deutschen Focal Points. Die Chefunterhändler der Präsidentschaft legten im April 2007 einen Fragebogen für die folgenden Sitzungen vor, der sich an den bis dahin ermittelten Änderungswünschen am VVE orientierte.
Die Fragen wurden unter den Focal Points im Vorstadium zum Europäischen Rat mit dem maximalen Ziel der Erstellung eines Mandats für eine Regierungskonferenz, die vor Ende 2007 ihren Abschluss finden sollte, bilateral und auf einer gemeinsamen Sitzung beraten. Parallel hierzu führten die Bundeskanzlerin selbst sowie - in enger Absprache mit ihr - der französische Staatspräsident sowie die Staatschefs Spaniens, Luxemburgs und Italiens intensive und direkte Einzelgespräche mit ihren Amtskollegen aus Großbritannien, Tschechien und Polen, um auf allerhöchster Ebene vermeintliche Maximal-, d.h. öffentlichkeitswirksam inszenierte, "echte" Minimalpositionen bzw. "red lines" und die dazwischen liegenden Rückfallpositionen der Vertragsreform auszuloten.
Am 6. Juni 2007 legten die Focal Points einen Bericht der Präsidentschaft über den Stand des Reformprozesses vor, der einige wichtige Vorabklärungen im Hinblick auf das Mandat fixierte: So konnte der Verzicht auf den Verfassungsbegriff und die Neustrukturierung der Verträge nach dem klassischen Muster vergangener Regierungskonferenzen als Ausgangspunkt festgehalten werden. Darüber hinaus wurde die Liste der zwölf Ausgangsfragen vom April 2007 auf drei offene Punkte reduziert und - als Ergebnis der Focal Point-Beratungen - um vier neue Punkte ergänzt, so dass für den Europäischen Rat ein relativ klares Bild über den wahrscheinlichen, zeitintensiven Ablauf der Beratungen entstand: Die Frage der Symbole und des Vorrangs des EU-Rechts vor nationalem Recht (Frage 4); terminologische Änderungen im Vertragstext, die sich hieraus ergeben (Frage 5); die rechtliche Qualität der Grundrechtecharta (Frage 6); die Besonderheiten der GASP und ESVP im Verhältnis zum gesamten Politikbereich der europäischen Außenpolitik (neuer, von Großbritannien eingebrachter Punkt); die Umsetzung und Kontrolle der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (von Tschechien eingebracht); und die Rolle der nationalen Parlamente in der EU (von den Niederlanden eingebracht). Hinzu kam die von Polen in die Diskussion gebrachte Frage der Änderung des Entscheidungsmodus im Ministerrat, die zwar nicht in dem Bericht der Präsidentschaft erwähnt wurde, aber doch allen Beteiligten präsent war und den Sitzungsverlauf des Europäischen Rates in erheblichem Maße bestimmen sollte.
Auf der Grundlage dieses Berichts arbeiteten die deutschen Focal Points einen Entwurf für das Mandat der Regierungskonferenz aus. In den Feinabstimmungen mit den Fachkollegen behielt der Vorsitz zu jeder Zeit die Autorität über den in englischer Sprache abgefassten "Urtext". Abgesehen von einigen wenigen Punkten (Organbezeichnungen, Ausformulierungen zu Protokollen und Erklärungen) konnte so in Zusammenarbeit mit dem Juristischen Dienst des Ratssekretariats ein Text redigiert und dem Europäischen Rat vorgelegt werden, dessen Substanz sehr viel weiter ging, als dies bei Einberufungsmandaten für Regierungskonferenzen üblicherweise der Fall ist. Es handelte sich um ein "geschlossenes" Mandat, das politische Kontur, funktionale Reichweite und inhaltlich-rechtliche Tiefe des Rückbaus des Verfassungsvertrages und seines Umbaus in einen Reformvertrag auf der Grundlage der bestehenden EG- und EU-Verträge abschließend definierte. 10
Die deutsche Präsidentschaft hat mit der Einigung auf das Mandat zur Einberufung der Regierungskonferenz ein Ergebnis erzielt, das alle Staaten auf ein politisches Ziel, nämlich die rasche Ausarbeitung eines runderneuerten Vertragswerkes eint. Als Ergebnis des Europäischen Rates vom Juni 2007 manifestieren sich im Mandat zur Einberufung der Regierungskonferenz nun aber erneut politikbereichsspezifische Ausnahmeregeln für einige Staaten (Großbritannien im Bereich der polizeilichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit 11sowie - im Verbund mit Polen 12 - im Hinblick auf Geltungsbereich und Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta 13 ) und -teilweise als Reaktion hierauf - neue Regeln zum Eintritt in Formen der verstärkten Zusammenarbeit unter dem Dach der EU. 14 Sowohl diese neuen Ausnahmen als auch die damit einhergehenden Kooperationsformen einer Gruppe von Staaten werfen die Frage nach dem künftigen, inneren Zusammenhalt der Union auf. Welche Lehren können aus dem praktizierten Verfahren und dem hierbei ermittelten Funktionsprofil der deutschen Ratspräsidentschaft beim Blick auf das Dossier des VVE für künftige Vorsitze gezogen werden?
Erstens ist selbst ein großer, vorsitzführender Staat in Krisensituationen, deren Lösung in die Form ratifikationsbedürftiger Verträge gegossen wird, bei der Wahrnehmung seiner Impuls-, Vermittlungs- und Erwartungsmanagementfunktionen abhängig von einem "Freundeskreis", der bei allen EU-Staaten und EU-Organen ein hohes Maß an Vertrauen genießt.
Zweitens ist eine alle Seiten befriedigende Vermittlungsfunktion in institutionellen Krisen nur zum Preis extremer Transparenz (z.B. in der Konventsmethode) oder starker Intransparenz möglich. Wählt man die erste Variante - der Reformvertrag erlaubt dieses Verfahren künftig explizit -, ist eine erfolgreiche Vermittlung verschiedener Interessenlagen leichter, wenn diese Funktion gemeinsam mit neutralen Akteuren gestaltet wird, die keinen mitgliedstaatlichen Weisungen unterliegen, sondern glaubhaft im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten agieren können. Ob der im Reformvertrag geschaffene Präsident des Europäischen Rates hierzu in der Lage sein wird, hängt davon ab, wie er die unterhalb der Europäischen Ratsebene auch künftig agierenden Teampräsidentschaften der Staaten (deren durch die Außenminister bestückte Ratsformation "Allgemeine Angelegenheiten" ja bestehen bleibt) einbindet, vor allem aber als Partner und "Freunde der Präsidentschaft" akzeptiert. Greifen die Mitgliedstaaten dagegen auf die jetzt praktizierte Variante der Geheimverhandlungen zurück, ist das Risiko groß, dass nicht nur einzelne Akteure, sondern auch die Präsidentschaft die "Bodenhaftung" verliert und an den Interessen und Bedürfnissen der Bürgergesellschaften vorbei handelt. Der Preis hierfür wird dann spätestens bei Wahlen zu zahlen sein. Der große Verlierer ist in beiden Varianten die Europäische Kommission. Sie wird nur noch dann eine entscheidende Kovermittlungsrolle übernehmen können, wenn es um die Reform der Funktionen und Politiken der Integration geht. Denn unter diesen Umständen sind die Staaten auf politisch-programmatische Leitlinien, Expertisen und Initiativen auf der Grundlage eines europäischen Gemeininteresses angewiesen, das sie aufgrund ihrer divergierenden Interessenlagen nicht glaubhaft definieren können.
1 Vgl. zu den
Funktionen der Ratspräsidentschaft: Daniela Kietz, Methoden
zur Analyse von Ratspräsidentschaften, SWP-Diskussionspapier,
Nr. 5/2007; Andreas Maurer, Die Zukunft der Präsidentschaft im
Ratssystem der Europäischen Union, in: Österreichische
Zeitschrift für Politikwissenschaft, 35 (2007) 2, S. 139 -
156.
2 Vgl. Punkt 47 - 48 der
Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat vom
15./16. 6. 2006, Dok. Nr. 10633/1/06, 17. 7. 2006.
3 Vgl. Die EU-Verfassungs-Freunde
sammeln sich. Treffen der Befürworter des Entwurfs in Madrid,
in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. 1. 2007; sowie die
Erklärung: Ministertreffen der Freunde des
Verfassungsvertrags: Für ein besseres Europa, Madrid, 26. 1.
2007.
4 Vgl. Andreas Maurer/Daniela Schwarzer,
Querschuss aus Karlsruhe, in: Financial Times Deutschland vom 3.
11. 2006, S. 30.
5 Rede von Bundesaußenminister
Steinmeier in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestags, 6. 9.
2006.
6 Vgl. Peter Ludlow, Angela Merkel's
Mandate. The June European Council and Treaty Reform, Juli 2007,
in: Eurocomment Briefing Note, 5 (2007) 3-4.
7 Ausblick auf die deutsche
Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der
Bundesregierung, Rede von Staatssekretär Silberberg für
die Veranstaltungsreihe "EU-Countdown: In 100 Tagen zur
EU-Präsidentschaft", 4. 10. 2006.
8 Vgl. ebd.
9 Ebd.
10 Vgl. Rat der EU, Schlussfolgerungen
des Vorsitzes - Brüssel, 21./22. 6. 2007, Dok. Nr. 11177/07,
23. 6. 2007: Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz
2007.
11 Vgl. Punkt 19-L des Mandats für
die Regierungskonferenz 2007.
12 Vgl. Fußnote 18 des Mandats
für die Regierungskonferenz 2007.
13 Vgl. Fußnote 19 des Mandats
für die Regierungskonferenz 2007.
14 Vgl. Mandat für die
Regierungskonferenz 2007: Änderungen des EG-Vertrags, Anlage
2, Punkt A-2 c) und d).