2007l ist ein Jahr der tragischsten Daten, die die russische Geschichte der neuesten Zeit geprägt haben. Es sind der 90. Jahrestag des bolschewistischen Umsturzes im Oktober 1917 und der folgenden Revolution sowie der Beginn des Großen Terrors 1937, der sich zum 70. Mal jährt. Welche Rolle spielen diese Daten im Bewusstsein der heutigen Einwohner Russlands, in ihrem kollektiven und kulturellen Gedächtnis? 1
Die Ereignisse vom Oktober 1917 sind bis heute umstritten und werden gegensätzlich beurteilt. Die Skala der Bewertungen reicht von der "großen sozialistischen Revolution" bis zur "Machtergreifung" durch eine Gruppe von Extremisten oder einen Haufen Fremder und zu einer Verschwörung von Freimaurern. Den Sturm des Winterpalasts durch die Bolschewiki in Petrograd kann man als Umsturz bezeichnen. Danach begann die Revolution, die in kürzester Zeit das politische System, die Struktur der Gesellschaft, die Eigentumsverhältnisse und die geistige Atmosphäre in Russland veränderte.
Zeitzeugen und Akteure der Ereignisse sind längst nicht mehr am Leben, nur Einzelne von ihnen haben noch den Beginn von Gorbatschows Perestroika erlebt. Aber die historische Bewertung der "Energie des Irrtums" derer, die sich am Prozess des revolutionären Umbruchs von 1917 bis in die 1930er Jahre hinein beteiligt haben, ist wichtig. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren, aufgewachsen unter dem Einfluss radikaler linker Strömungen und Praktiken (der ältere Bruder Lenins, ein überzeugter Anhänger von Terrormethoden, wurde 1887 wegen Vorbereitung eines Attentats auf den Zaren hingerichtet), verstanden sich die russischen Radikalen als Marxisten, die sich die Errichtung einer revolutionären Diktatur zum Ziel setzten. 1917 hatten viele eine langjährige Haft in zaristischen Gefängnissen und Verbannungsorten und ein Leben in der Emigration hinter sich. Im Unterschied zu den Akteuren der von ihnen gestürzten Provisorischen Regierung, die nach der Februarrevolution 1917 an die Macht gekommen waren, waren sie weder im beruflichen noch im gesellschaftlichen Leben des vorrevolutionären Russlands integriert. Auch Lenin hatte über zehn Jahre außerhalb Russlands verbracht.
Diese Personen (mit ihrem Führer, der 1924 starb) kamen entweder noch in den 1920er Jahren ums Leben, oder sie machten der neuen Stalin'schen Kohorte von Führern Platz, die jünger waren und der sozialen und kulturellen Peripherie entstammten. Sie waren noch weniger gebildet, hatten den Bürgerkrieg mitgemacht und waren davon überzeugt, jegliches Problem mit Entschlossenheit lösen zu können. Sie ließen sich leicht in den Stalin'schen Apparat eingliedern. Die Generation derer, die den Oktober organisiert hatten, wurde in den Jahren der Parteisäuberungen verdrängt und verschwand in der Periode des Großen Terrors 1937/38 endgültig von der Bühne.
Die Oktober-Ereignisse wurden bald nach dem Sieg im Bürgerkrieg (1921) von den Machthabern mythologisiert. Das Datum der Machtübernahme durch die Bolschewiki, der 7. November (wegen der Einführung des neuen Kalenders rückten alle Daten zwei Wochen vor), wurde zum wichtigsten Staatsfeiertag der UdSSR. Erst 1996 wurde der Tag umbenannt in "Tag der Versöhnung und Eintracht", um dann im Jahre 2005 abgeschafft zu werden.
Die Ereignisse des Oktober 1917 dienten zur Begründung der Ideologie, die vollständige Unterordnung unter die Staatsmacht und die Partei verlangte und sich im "großen Führer Stalin" verkörperte. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kam es zum Verzicht auf die wesentlichen Ideen, die die Organisatoren des Oktober 1917 beseelt hatten - Weltrevolution, Internationalismus, weltweite proletarische Verbrüderung. Die Mythologie des revolutionären Umbruchs, der von den heldenhaften bolschewistischen Kommissaren durchgeführt worden war, die die Volksmassen in den Kampf gegen die "feindlichen Klassen" geführt hatten, wurde abgelöst durch die Ideologie einer industriell entwickelten, militarisierten Großmacht unter der Leitung einer militarisierten Führerfigur (in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges war Stalin erst Oberkommandierender, dann "Generalissimus"). Die Staatssymbolik (von der neuen Hymne, die die "Internationale" ersetzte, bis zur Einführung einer Militäruniform mit Schulterstücken, die an die zaristische erinnerte) entsprach der einer imperialistischen Großmacht. Der Sieg im Vaterländischen Krieg von 1941/1945 wurde sowohl im Gedächtnis des Volkes als auch für die staatliche Propagandamaschinerie zum Hauptereignis.
Indes hatte seit Ende der 1930er Jahre ein Teil der studentischen Jugend als Reaktion auf die grausamen Verfolgungen begonnen, die bolschewistische Revolution und ihre Protagonisten zu idealisieren, und zwar als Opposition gegen das Regime Stalins. Diese Tendenzen nahmen zu, als nach Stalins Tod das so genannte Tauwetter einsetzte (1953 - 1964). Die Epoche der Revolution und die 1920er Jahre kamen wieder "in Mode". Viele Namen tauchten wieder auf aus dem Nichtsein im Gulag. Die neue Generation wollte die revolutionären Ideale von den "Verfälschungen des Stalinismus" "befreien" und der Partei die "Leninschen Normen" zurückgeben. Die Zielsetzung der am weitesten fortgeschrittenen sozialen Gruppe entsprach der des "Prager Frühlings": dem Traum von einem Sozialismus "mit menschlichem Antlitz".
Als Nikita Chruschtschow seinen Posten als Erster Sekretär des ZK der KPdSU verlor, folgten lange Jahre der Breschnew'schen Stagnation (1964 - 1985), eine Epoche der Resignation angesichts unerfüllt gebliebener liberaler Hoffnungen. In diesen Jahren kam das oppositionelle Denken in Russland allmählich zur Erkenntnis, dass der bolschewistische Umsturz und die neue Ordnung ein Territorium des blutigen Fanatismus geschaffen hatten. Seit Ende der 1980er Jahre, unter dem Einfluss der Perestroika und des Zerfalls der UdSSR, wurde die Einstellung zum Oktober 1917 immer negativer. Man revidierte die Sicht auf den Bürgerkrieg und unterzog den von den Bolschewiki unmittelbar nach der Machtübernahme entfesselten Terror einer kritischen Beurteilung.
In den vergangenen Jahren sind bei der Bewertung dieser Ereignisse widersprüchliche Tendenzen zu beobachten. Einerseits demonstrieren den Machthabern nahestehende Ideologen ihre grundsätzlich negative Einstellung zu allen Revolutionen, sei es nun die Februar- oder die bolschewistische Oktoberrevolution, da ihnen jeder Aufruf zur Systemveränderung und zur Destabilisierung verdächtig erscheint. Politische Opposition schadet in ihren Augen nur einem starken Staat, Orthodoxie, Autokratie und Volksverbundenheit gelten als Grundlagen für eine starke Macht. Die Ideologen bedienen sich der Texte eines so renommierten Autors wie Alexander Solschenizyn, der die revolutionären Geschehnisse von 1917 immer wieder scharf abgelehnt hat, und zwar vom Standpunkt der Erhaltung der vorrevolutionären Gesellschaftsordnung. Dabei spricht man wenig davon, was das Land in die revolutionäre Katastrophe geführt hatte - der Unwille der Autokratie zu einschneidenden Veränderungen, zu politischen und ökonomischen Reformen, die Unfähigkeit der zaristischen Regierung zur Überwindung der ausufernden Korruption, das Streben, Feinde unter Andersgläubigen zu suchen, die Aufstachelung so genannter patriotischer Kräfte, die zu Beginn der Revolution grausame Pogrome gegen Juden verübten. Zu dieser antihistorischen Sicht trägt Nostalgie nach einem zaristischen Russland bei, die sich in den 1990er Jahren zu einem Kult um die erschossene Zarenfamilie und den letzten Zaren entwickelt hat.
Andererseits gewinnen linksradikale Kräfte Zuwachs, die bei Parlamentswahlen die KP unterstützen und die meist den älteren Teil des russischen Elektorats stellen. Neobolschewistische Stimmungen breiten sich auch bei einem Teil der oppositionellen Jugend aus.
Das wichtigste Indiz für das, was sich im kulturellen Gedächtnis in Russland abspielt, ist nicht nur die Erhaltung der Denkmäler, die die Hauptperson des Oktober 1917 darstellen - der Lenin-Denkmäler -, sondern vor allem die Tatsache, dass bis heute auf dem zentralen Platz des Landes das Mausoleum mit seinem nicht bestatteten Leichnam existiert, ungeachtet aller Forderungen, Lenin endlich der Erde zu übergeben. Das Mausoleum war zunächst als Provisorium gedacht, es sollte denen, die nicht zur Beisetzung nach Moskau kommen konnten, die Möglichkeit geben, vom geliebten Führer Abschied zu nehmen. In den 1930er Jahren wurde das provisorische Mausoleum aus Holz durch eines aus Stein ersetzt, das für die Ewigkeit konzipiert war. Der Rote Platz wie auch das Bild Lenins machten mit der Zeit charakteristische Veränderungen durch.
Der Erfolg der Bolschewiki hing unmittelbar mit Lenin zusammen, mit seinen taktischen Fähigkeiten und der Entschlossenheit, mit der er die Schwächen der Provisorischen Regierung ausnutzte: ihre Zögerlichkeit, ihre Art, alle drängenden Probleme aufzuschieben, sowie die antibürgerliche Stimmung der Massen, die bereitwillig die populistischen Losungen der Bolschewiki unterstützten. Mit Lenin ist die Entstehung des Führerkults verbunden. Seine Beisetzung 1924 wurde zum symbolischen Abschied des gesamten Volkes. Seine Mitkämpfer, die den Machtkampf schon begonnen hatten, als er noch lebte, rissen sich buchstäblich darum, den Sarg zu tragen. Den Sieg trug Stalin davon, der schon zu Lenins Lebzeiten eine immense Machtfülle in seinen Händen konzentriert hatte und schneller als alle anderen erkannte, dass eine Epoche der Sekretäre und Apparatschiks bevorstand. Um seine Macht zu legitimieren, kam Stalin die Sakralisierung des Toten äußerst gelegen. Lenin blieb, unbestattet, eine Geisel des von ihm kreierten Systems und der von ihm konstituierten Mythologie. Das Mausoleum wurde zum zentralen sakralen Ort des Landes. Hier sollten Stalin und seine Nachfolger jahrzehntelang die Massen jubelnder Bürger begrüßen sowie Militär- und Sportparaden abnehmen, die den Mobilisierungscharakter des sowjetischen Systems symbolisierten.
Lenin blieb für die nächsten 50 Jahre ein Symbol, dem Henker und Opfer sowie jene Henker, die später selbst zu Opfern wurden, ihren Eid leisteten, Oppositionelle wie Stalinisten. Für die linke und rechte Opposition in der Partei symbolisierte Lenin Ende der 1920er Jahre die Reinheit der revolutionären Ideale, die von Stalin entstellt und usurpiert worden seien. Bis zum Tod Stalins sollten sich viele auf den "guten Lenin" im Gegensatz zu seinem grausamen Antipoden Stalin berufen. Mit Hilfe von Schriftstellern, Künstlern und Regisseuren wurde ein mythologisches Bild des "menschlichsten aller Menschen" geschaffen. Dieses Lenin-Bild diente der ideologischen Rechtfertigung nicht mehr nur für das Häuflein seiner rasch verschwindenden Mitkämpfer, sondern auch für Millionen Sowjetbürger, die als Stütze des Regimes dienten, das in den 1930er Jahren entstand.
Das Bild des guten und weisen Lenin existierte lange und lebt in geringem Maße noch heute fort. Die Veränderungen, die nach Stalins Tod 1953 stattfanden - Verzicht auf den Terror, Abschaffung des Gulag-Systems, Rehabilitierung von Millionen von Opfern - erhielten in der offiziellen Sprache die mythologische Bezeichnung "Rückkehr zu den Lenin'schen Normen". Diese Formel passte sehr gut in das Schema der Liberalisierung und der Entlarvung des "Personenkults". Allerdings bewirkten die während der Breschnew-Zeit zum Stillstand gekommene Demokratisierung der Gesellschaft und die Versuche, die Figur Lenins zu nutzen, um die Hilflosigkeit der Partei bei der hoffnungslosen Aufgabe, den Kommunismus aufzubauen, zu verschleiern, dass zu Lenins 100. Geburtstag 1970 als Reaktion auf den immensen Propagandalärm um dieses Datum eine Unmenge von Witzen im Volk die Runde machte, die das Bild des humanen Führers der proletarischen Revolution endgültig zunichte machten.
Mit dem Beginn der Perestroika belegten veröffentlichte deklassifizierte Dokumente aus den Archiven die unglaubliche Grausamkeit sowie den Pragmatismus, mit dem Lenin seit der Machtübernahme und im Bürgerkrieg vorgegangen war, und welche Grundlagen auf diese Weise für den Stalinismus geschaffen worden waren. Das Mausoleum mit seinem Leichnam wurde in den 1990er Jahren zu einem absurden Kulturobjekt. Die Ehrenwache wurde abgeschafft, die Staatsführer nutzen es nicht mehr als Tribüne. Die an Touristen verkauften traditionellen russischen Matrjoschki bekamen eine neue Gestalt - aus Lenin erscheint Stalin, aus ihm Breschnew, dann Gorbatschow, Jelzin usw. Auf dem Roten Platz finden sich Gestalten, die als Hauptpersonen der russischen Geschichte der 1920er Jahre maskiert sind. Wer will, kann sich mit dem letzten russischen Zaren sowie mit Lenin und Stalin photographieren lassen. Im Winter richtet man auf dem Roten Platz eine große Eisbahn ein, im Sommer finden Rockkonzerte statt.
Zum nächsten Schritt, zur Bestattung seines Leichnams, ist es noch nicht gekommen. Nicht nur die Angst vor Protesten der kommunistischen Wähler ist der Grund dafür. Im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen erwachte die sowjetische und dann auch die leninistisch-stalinistische Tradition wieder zum Leben. Die Ursachen und Formen dieser Nostalgie waren unterschiedlich - Unzufriedenheit mit den Reformen und ihren sozialen und politischen Folgen, aber auch mit dem kommerziellen und politischen Erfolg von Personen aus der früheren sowjetischen Elite. Schrittweise gaben die Machthaber das westliche Demokratiemodell wieder auf und suchten nach einem "eigenen" Weg, vor allem nach einer nationalen Idee. Dabei griffen sie immer intensiver auf die sowjetischen Mythen und die alten Propagandamethoden zurück.
Von Anfang an waren Terror und Repression die wichtigsten Machtinstrumente für die kommunistische Partei. Bereits 1918 hatten die Kommunisten den "Roten Terror" ausgerufen; in den 1920er Jahren inhaftierten sie Vertreter der "feindlichen Klassen" oder schickten sie in die Verbannung - Geistliche, Intellektuelle, politische Gegner, Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre sowie Angehörige der linken und rechten Opposition. Sie verhafteten Ingenieure und Spezialisten und beschuldigten sie als "Volksschädlinge". Anfang der 1930er Jahre wurden Millionen von Bauern "entkulakisiert" und in ferne Regionen des Landes deportiert.
Allein von 1934 bis 1944 haben in der UdSSR zwölf bis 14 Millionen Menschen das System des Gulag, der Sondersiedlungen und anderer Formen der Zwangsarbeit erleiden müssen. Dennoch blieb das Jahr 1937 im Gedächtnis des Volkes als das Jahr besonders schwerer Verfolgungen haften. Obwohl aus der Masse von Geheimdokumenten, die mit den Repressionen zusammenhängen, bislang nur ein geringer Teil für Historiker zugänglich ist, haben wir vieles über den Mechanismus des Großen Terrors und über die Zahl der Opfer erfahren, die selbst für damalige Maßstäbe phantastisch war. In 14 Monaten der Jahre 1937/38 wurden 1,7 Millionen Bürger verhaftet und 700.000 erschossen. Zu Opfern wurden vor allem jene, von denen die Machthaber glaubten, dass sie tatsächlich oder potenziell unzufrieden waren mit der totalen Vernichtung der fähigsten Bauern in den Dörfern als Folge der Hungersnot von 1930/32 und mit den grausamen Methoden, mit denen die Industrialisierung des Landes durchgeführt wurde.
Bis heute sind im Zusammenhang mit dem Großen Terror Mythen verbreitet, und immer häufiger trifft man auf den Standpunkt, in diesen Jahren sei ausschließlich die Parteinomenklatur vernichtet worden (wie es in der berühmten Rede Chruschtschows 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU hieß, als erstmals offen über die Repressionen gesprochen wurde). Viele berufen sich auf Aussagen von Solschenizyn, der die Repressionen der Jahre 1929/32 denen von 1937/38 entgegensetzt: Damals habe es eine das ganze Volk betreffende Tragödie der Bauern gegeben, später dagegen wurde die Parteielite vernichtet, also die Organisatoren und Verantwortlichen für die Repressionen. Heute kann man die "Stalin'schen Erschießungslisten" für 40.000 Personen - Sowjetfunktionäre, Parteiarbeiter und Kulturpolitiker - einsehen, die die Unterschrift Stalins und anderer Mitglieder des Politbüros tragen. Der Geheimbefehl des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) Nr. 00447, der Anfang der 1990er Jahre zugänglich wurde und nach dem am 5. August 1937 die umfassendsten Verfolgungen einsetzten, enthält eine lange Liste der Kategorien von zu verhaftenden Personen. Es folgten Befehle zu den so genannten nationalen Operationen (der polnischen und der deutschen), denen Zehntausende einzig ihrer polnischen oder deutschen Herkunft wegen zum Opfer fielen.
Der Höhepunkt der Massenverhaftungen zur Zeit des Großen Terrors von 1937 fiel auf die Feiertage zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Viele von denen, die in jenen Tagen in Moskau oder anderen Großstädten verhaftet wurden, nahmen als letzte Erinnerung an das Leben außerhalb des Stacheldrahts die festlich illuminierten Straßen und die aus leuchtenden Lampen gebildete römische Ziffer XX zu Ehren des 20. Jahrestages mit. Das Land versank in einem blutigen Albtraum, den zu leugnen sogar denen schwer fällt, die heute versuchen, Stalin reinzuwaschen.
Das Bacchanal des Massenterrors ging mit einer Propagandakampagne gegen "Volksfeinde" einher, sie stimulierte und ermunterte Denunziantentum, Heuchelei, Doppeldenken und Opportunismus. Das Jahr 1937 bedeutete die massenhafte Anwendung außergerichtlicher Mechanismen. Urteile wurden in Abwesenheit und in beschleunigten Verfahren gefällt, ohne angefochten werden zu können, und zwar durch speziell geschaffene "Troikas" (die aus einem Vertreter des örtlichen NKWD, der Staatsanwaltschaft und der Parteiorgane bestanden). "1937" steht für den planmäßigen Charakter der Massenoperationen, die Festsetzung von "Limits", d.h. der Anzahl derer, die verhaftet werden sollten. Es steht für die Einteilung der Verhafteten in Kategorien: Die erste bedeutete die Erschießung, die zweite eine langjährige Inhaftierung im Gulag. 1937 brachte auch die massenhafte Anwendung von Folter während des Untersuchungsverfahrens. Überdies stellten die Ereignisse des Jahres 1937 die westliche linke Intelligenz vor die unmögliche und unsittliche Wahl zwischen Stalin und Hitler; ein krasses Beispiel hierfür ist Lion Feuchtwangers Buch "Moskau 1937", das die Schauprozesse gegen hohe Partei- und Regierungsfunktionäre rechtfertigte.
Nach den Männern wurden auf Befehl des NKWD ihre Frauen als Familienmitglieder von "Volksverrätern" verhaftet; die Kinder kamen in Heime. Rund 20.000 Frauen wurden unmittelbar nach der Verhaftung ihrer Männer festgenommen und in eigens für sie eingerichtete Lager verbracht. In den Städten leerten sich in großen Häusern ganze Stockwerke; die Menschen fürchteten nächtliches Türklingeln. In den freigewordenen Wohnungen und Zimmern (1937 wurden allein in Moskau über 10.000 Wohnungen frei) quartierten sich häufig Mitarbeiter des NKWD ein. Speicher brachen zusammen unter dem Gewicht der konfiszierten Gegenstände. Bücher und Artikel wurden vernichtet, Bilder verbrannt. Nachts fuhren "Raben" durch die Stadt, besondere Autos für den Transport von Verhafteten. Verwandte und Nahestehende reihten sich in stundenlange Schlangen, um in Sprechstunden beim NKWD etwas über das Schicksal ihrer Nächsten in Erfahrung bringen. Es folgte die langjährige Lüge der Behörden, die den Verwandten der Verhafteten zunächst etwas von "Lagern ohne das Recht auf Korrespondenz" erzählten, um die Erschießungsurteile zu bemänteln, und später gefälschte Todesurkunden über einen angeblichen "natürlichen" Tod im Lager ausstellten.
Nach dem Großen Terror waren die Menschen noch lange von Angst und Schrecken erfüllt. Vielleicht war es gerade diese Angst, die die Moskauer im August 1991 nach dem gescheiterten Putsch auf den Lubjanka-Platz vor den Sitz des KGB (dem Nachfolger der Geheimdienste WTschk-GPU-NKWD-MGB) trieb, um das Denkmal des Tscheka-Gründers und Kampfgenossen Lenins, Felix Dzierzyn'ski, vom Sockel zu stoßen. Gegenüber wurde ein kleiner Gedenkstein für die Opfer der Repressionen aufgestellt, der aus dem ersten sowjetischen Lager auf den Solowezki-Inseln stammte. Man ging davon aus, dass hier oder anderswo ein weit bedeutenderes Mahnmal errichtet werden würde, das dem Ausmaß der Tragödie gerecht wird, und dass gerade der Gulag und die Erinnerung an die furchtbaren Repressionen zu zentralen Punkten im postsowjetischen gesellschaftlichen Bewusstsein würden.
In den vergangenen 17 Jahren wurden in verschiedenen Städten Gedenktafeln und Gedenkzeichen an den Stellen errichtet, an denen sich Massengräber befinden. Dies geschah in der Regel auf öffentliche oder sogar Privatinitiative einzelner Bürger, manchmal nach langem Kampf mit den lokalen Behörden. Opferlisten wurden erstellt, die über 2,5 Millionen Personen kurze Informationen enthalten (von insgesamt rund vier Millionen, deren Verfolgung ein politischer Artikel zugrunde lag). Hunderte von wissenschaftlichen Monographien und Dokumentensammlungen wurden veröffentlicht, die die politischen Repressionen und den Gulag zum Thema haben. Allerdings bewirkten Enttäuschungen über die demokratischen Reformen sowie Nostalgie nach der sowjetischen Vergangenheit, dass das Interesse am Thema erlosch. Bis heute gibt es kein nationales Denkmal für die Opfer der politischen Verfolgungen, es gibt kein Museumszentrum, das zum Symbol für die Abrechnung mit der Vergangenheit geworden wäre. Es gibt auch kein symbolisches Datum, das als nationaler Tag des Gedenkens und der Trauer dienen könnte. Weder die Regierung noch die Bevölkerung sind daran interessiert, die Erinnerung an die politischen Verfolgungen zum Fundament für den Aufbau einer neuen Bevölkerung zu machen wollen. Es ist kein Zufall, dass man für das, was Russland im 20. Jahrhundert durchgemacht hat, noch keinen Terminus gefunden hat. (Der Begriff des Totalitarismus war eine Übernahme aus westlichen Quellen und lässt viele Fragen offen).
Auch Stalin ist im historischen Bewusstsein der Russen wieder aufgetaucht. Wiederum kam es, wie bereits in der Breschnew-Epoche, zu einer schleichenden Restalinisierung, wieder wurde Stalin zur Verkörperung des Imperiums, einer starken Regierung, schließlich des Nationalstolzes, des Nationalismus. Ständig liegen Projekte für neue Stalin-Denkmäler in der Luft, einige von ihnen wurden in der Provinz schon realisiert - unter dem Vorwand, das Andenken an den Großen Vaterländischen Krieg zu verewigen.
Opfer dieser neuen Mythologisierung der Sowjetzeit, besonders der Stalin-Periode, sind vor allem die Jugendlichen. Daten unabhängiger soziologischer Umfragen zeigen einen Anstieg von Stalins Beliebtheit; unter denen, die Stalins Wirken positiv bewerten, finden sich immer mehr Jugendliche. Der Prozess der Überwindung der Stalin-Zeit erweist sich als weit schwieriger und qualvoller, als es Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre schien, als die heute 15 - 18-Jährigen geboren wurden. Was konnten sie wissen vom langen und mühevollen Kampf um die historische Wahrheit, der sich vor ihrer Geburt abgespielt hatte? Die Eltern waren mit dem schwierigen Prozess beschäftigt, sich in die neue Zeit zu integrieren, und vermittelten ihren Kindern zu häufig eine unreflektierte Nostalgie. Da die lebendigen Zeugen der Stalin'schen Repressionen aussterben und das kollektive Gedächtnis schwindet, leben Jugendliche heute faktisch nur in einem Raum der Geschichte, nicht der lebendigen Erinnerung. Im Laufe der Revision unserer Vergangenheit werden die Buchläden mit quasihistorischer und populärer Literatur überflutet, die offen oder verdeckt das Regime und Stalin selbst sowie seine Mitkämpfer und vor allem die Sicherheitsorgane rehabilitiert. Sich in diesem trüben Meer zurechtzufinden, ist für jugendliche Leser nicht einfach.
Im Schulunterricht ist für ein gründliches Studium des Terrors und der politischen Verfolgungen kein Platz. In den vergangenen Jahren mischten sich die Machtstrukturen immer intensiver in den Geschichtsunterricht ein. Deutlich zeigte sich dies auf der russischen Konferenz der Geschichtslehrer im Juni 2007, auf der ein Lehrbuch für neuere Geschichte von 1945 bis 2006 vorgestellt wurde, das bereits in dem "neuen" Geist verfasst ist: Offen wird das Ziel verkündet, "für die Jugend eine glückliche Identität zu schaffen", andernfalls "könnten die Bürger Russlands als Antipatrioten aufwachsen". Entsprechend dieser Ideologie soll die russische Jugend die Geschichte nur "ausbalanciert" vorgesetzt bekommen.
Die Hauptfrage heute ist, ob die Vergangenheit als ideologische Begründung für neue Konflikte dienen wird, für einen neuen "kalten Krieg", für die Legitimierung eines autoritären Regimes? Oder kann der Weg des Verstehens und des Anerkennens der Verantwortung für die Vergangenheit zu einem wichtigen Faktor bei der Herausbildung demokratischer Werte werden? Eines steht fest: Die Verantwortung für die Vermittlung und Erhaltung der Wahrheit über die totalitäre Vergangenheit ist heute nahezu die wichtigste Aufgabe für die Zivilgesellschaft in Russland.
1 Übersetzung
aus dem Russischen: Vera Ammer, Euskirchen. Diesem Text liegt
folgende Literatur zu Grunde: Boris Dubin, Zit' v Rossii na rubeze
stoletij (Leben in Russland zur Jahrhundertwende), Moskau 2007;
Jurij Levada, Iscem celoveka (Wir suchen den Menschen), Moskau
2006; Otcy i deti. Pokolenceskij analiz sovremennoj Rossii. Sbornik
statej (Väter und Söhne. Eine Generationenanalyse des
heutigen Russland. Aufsatzsammlung), Moskau 2005; I. Karacuba/I.
Kurukin/N. Sokolov, Vybiraja svoju istoriju (Die Wahl unserer
Geschichte), Moskau 2005; 1937. Stat'i i dokumenty (Aufsätze
und Dokumente), Moskau 2007.