Im Jahr der Geisteswissenschaften ist sie wieder auf dem Spielplan: Die Krise. Krise der Geisteswissenschaften. Aber gibt es sie überhaupt, diese exklusive Misere? Falls ja, worin genau besteht sie? Und warum kreist der Krisendiskurs dauernd und immer nur um die Geisteswissenschaften?
Inzwischen handelt es sich sogar um eine Krisenerzählung mit zwei Teilen: In Teil I wird behauptet, die Geisteswissenschaften seien in Bedrängnis, weil ihnen Gelder entzogen und Stellen gestrichen würden; sie erhielten keine Unterstützung von Seiten der Politik und hätten die öffentliche Meinung gegen sich, nicht einmal mehr die Feuilletons seien ihnen gewogen; sie könnten oder wollten sich nicht ständig ins Rampenlicht stellen und würden dafür bestraft; die Formate der Wissenschaftsförderung, von den Verbundforschungseinrichtungen bis zur Exzellenzinitiative, seien wie das ganze Drittmittelunwesen nicht auf die besonderen Eigenarten und Bedürfnisse geisteswissenschaftlicher Tätigkeit abgestimmt.
In Teil II ändert sich zwar nicht unbedingt der Befund, wohl aber die Tonlage: Es sei nun an der Zeit, hört man, mit dem Lamento aufzuhören; das angeblich schlechte Erscheinungsbild der Geisteswissenschaften in der Öffentlichkeit habe auch mit der Larmoyanz ihrer Vertreter zu tun und sei daher von ihnen mitverschuldet; viele Fächer seien überspezialisiert, und ihre Vertreter könnten ihr Anliegen der Öffentlichkeit nicht mehr allgemeinverständlich vermitteln; aus der Diskussion der großen Fragen der Zeit hätten sich die Geisteswissenschaftler weitgehend zurückgezogen und sich überhaupt stark entpolitisiert. Statt unablässig zu klagen, müsse man endlich wieder in die Offensive gehen und der restlichen Welt begreiflich machen, dass sie die Geisteswissenschaften nötig habe. - Diese Wendung des Narrativs läuft darauf hinaus, dass sich die Geisteswissenschaftler ermannen und neues Selbstbewusstsein an den Tag legen sollen. Allerdings bleibt unklar, wodurch dieser Wandel in der Befindlichkeit motiviert wird. (Es handelt sich dabei um eine Trendwende, die, wir mir scheint, auffällige Parallelen zur wirtschaftlichen Erholung in Deutschland aufweist.)
Aber eine Offensive aus der Defensive heraus ergibt noch keine starke Position. Oft steckt das Problem ja schon in der Art und Weise der Definition: Wer in einem Atemzug von Krise` und Geisteswissenschaften` spricht, löst eine Kette von Reflexen aus. Viele nicht unmittelbar Betroffene werden dann gar nicht mehr zuhören wollen, ist ihnen diese Geschichte doch schon oft genug erzählt worden. Auch flammende Appelle zur Rettung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen gibt es mehr, als irgendjemand verkraften kann. Sie erreichen daher selten ihr Gegenüber und haben eher den Charakter von In-group-Kommunikationen, in denen sich eine Gemeinschaft nicht nur ihrer Werte, sondern auch ihrer Grenzen versichert.
Auch die Art und Weise der Argumentation bei solchen Appellen folgt erwartbaren Reflexen. Wer das Schlagwort Krise der Geisteswissenschaften` aufbringt, wird erstens einen gewissen kulturapokalyptischen Ton anschlagen. Er wird zweitens die Geisteswissenschaften als Statthalter der Kultur durch ihre klassischen Gegner bedroht sehen: Technik (einschließlich der technologischen Revolution in den Medien) und Ökonomie. Damit schreibt er eine Konstellation fort, in der sich die Geisteswissenschaften seit ihrer disziplinären Ausformung im 19. Jahrhundert verfangen haben: hier die Realia`, dort das zusehends nutzlose klassische Bildungsgut. Daraus folgt, dass man in die Situation kommt, den Wert des Nutzlosen zu verteidigen. Zwar - so lautet das Argument - sei der ökonomische Nutzen gering, wenn jemand tote Sprachen erlerne, sich in Papyri vertiefe oder den Wanderungsbewegungen künstlerischer Ornamente nachforsche, aber eine Kulturnation müsse sich einen solchen Überfluss ebenso leisten wie subventionierte Opern oder Museen.
Mit diesem Imperativ zum Bestandsschutz für nutzlose, aber wertvolle Bildungs- und Kulturgüter verbindet sich regelmäßig eine pessimistische Gesellschaftsprognose, und zwar mit Blick auf das Überhandnehmen eines rein ökonomischen Denkens. Wie vieles andere auch scheinen dann die Geisteswissenschaften in der Gefahr, einem sich über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausbreitenden Ökonomismus zum Opfer zu fallen. So lautet der Tenor der meisten Äußerungen, die letztlich auf der alten Opposition von Geist und Geld beruhen und damit auf Argumentationsmuster zurückgreifen, die mindestens so alt sind wie die Wissenschaft der Ökonomie selbst, die also bis weit ins 18. Jahrhundert reichen.
Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens stellt sich die Frage, ob es strategisch geschickt ist, sich von seinem Gegner (in diesem Fall: dem ökonomischen Denken) die Kriterien der Selbstbeurteilung (Nutzlosigkeit) diktieren zu lassen, um dann ein mehr oder minder kämpferisches "Ja, aber" vorzubringen. Zweitens ist zu fragen, ob dieser Befund so pauschal überhaupt richtig ist. (Gut gemeinte Gesellschafts- und Kapitalismuskritik schützt ja nicht vor Gedankenlosigkeit.)
Was ist denn so liebenswert nutzlos an den Geisteswissenschaften? Gibt es heute noch jemanden, der die Ausbildung guter Deutsch- und Fremdsprachenlehrer für unnütz hält, insbesondere nach dem deutschen PISA-Desaster? Ist Allgemeinbildung etwa kein Wirtschaftsfaktor? Wer bezweifelt, dass ein wirtschaftlich prosperierendes Land ein funktionsfähiges Rechtssystem braucht, das heißt kundige Juristen, die es ständig den Gegebenheiten anpassen und bespielen`? Stellen Unternehmensleitungen, die bei der Rekrutierung von mittlerem und Führungspersonal über die weichen`, sprich: kulturellen Standortfaktoren genau im Bilde sind und erheblich von der Attraktivität kommunaler Einrichtungen profitieren, die Ausbildung von fähigen Bühnendramaturgen und Museumskuratoren in Frage? Wie denken der Wirtschaftsdezernent der Stadt Kassel, die alle fünf Jahre die Documenta ausrichtet, oder der Finanzsenator des Wissenschaftsstandorts Berlin, aber letztlich auch jeder um gehobenen Tourismus bemühte Kreisrat über die Amortisation von Investitionen in Bildung und Kultur? Man muss das nicht zu seinem Lieblingsargument machen, aber es ist eine ökonomische Tatsache, dass der Kulturbetrieb in postindustriellen Gesellschaften eine der Branchen mit höchster Wertschöpfung ist.
Das Klischee vom Luxuscharakter der Geisteswissenschaften ist falsch; es gibt genügend Indikatoren, die dies belegen: Da ist zum einen die große, von Jahr zu Jahr unverdrossen wachsende Nachfrage von Seiten junger Schulabgänger nach einem Studienplatz in geisteswissenschaftlichen Fächern, die trotz gleichen oder sogar sinkenden Personalstands in den betroffenen Fächern immer noch einigermaßen ordentlich bewältigt wird. Auch wenn davon nicht alle zu einem Studium dieser Art berufen sind, die meisten können sehr gut begründen, warum sie sich für die akademische Beschäftigung mit Gegenständen entscheiden, die nicht unmittelbar verwertungsrelevant scheinen. Und anders, als gemeinhin behauptet wird, sind die Berufsaussichten für Geisteswissenschaftler sogar vergleichsweise gut. Man muss allerdings nach Abschluss des Studiums je nach Fachrichtung mit einer schwierigen Orientierungsphase rechnen; geradlinige Berufswege sind eher die Ausnahme. Aber hier stehen die kreativen Berufe im Bereich Kultur an der Spitze einer Bewegung (Stichwort: "Bastelbiographie"), die sich, wenn die Prognostiker Recht behalten, als eine gesamtgesellschaftliche Realität durchsetzen wird.
Wenn man von der Nutzen- zur Kostenanalyse übergeht, wird die Bedeutung der Geisteswissenschaften noch deutlicher. Wie das Schicksal der Okkupation des Irak durch die USA zeigt, können sich die Kosten für mangelnde soziokulturelle Kompetenz, für fehlende Dolmetscher, Religionsexperten und Ethnologen, für den übergangenen Rat von Kennern der Kultur des Mittleren Ostens schnell auf zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge summieren. Weniger spektakulär, aber gleichwohl beträchtlich sind die Folgen fehlender Sprach- und Kulturkompetenz in internationalen Organisationen und Firmen, bei politischen und humanitären Kriseninterventionen, im Prozess der europäischen Einigung und in vielen vergleichbaren Fällen.
Nun gibt es tatsächlich eine Misere, aber sie betrifft nicht exklusiv die Geisteswissenschaften und diese auch nicht alle in gleichem Maße. Das Pluralwort Geisteswissenschaften` erweist sich hier für die Analyse der Entwicklung an deutschen Hochschulen eher als hinderlich.
Zunächst einmal haben die deutschen Universitäten insgesamt mit schwierigen Bedingungen zu kämpfen. Gemessen an früheren Verhältnissen in Deutschland und im internationalen Vergleich sind sie heute erheblich unterfinanziert. Daran werden auch punktuelle Maßnahmen wie die Exzellenzinitiative, die ja nur einen Teil der den Hochschulen in den vergangenen Jahren abgeforderten Einsparungen nach einem aufwändig ermittelten Leistungsschlüssel zurückerstattet, nichts ändern. Die Finanzknappheit ist für kleine Fächer besonders verhängnisvoll, etwa in den Alterstumswissenschaften. Mit den Fächergruppen brechen ganze Traditionsbestände weg - teilweise einfach deshalb, weil die Nachfrage fehlt. Generell trifft Geldknappheit jedoch die Geisteswissenschaften am wenigsten hart, und zwar aus drei Gründen:
Erstens liegt es in der Natur ihrer Gegenstände und Arbeitsweisen, dass sie auf ein muttersprachliches Nuancierungspotenzial nicht verzichten können. Kurz gesagt ist hier die Bindung an die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache am größten, und das setzt dem viel beklagten brain drain insbesondere in die angelsächsischen Länder gewisse Grenzen. (Es bringt allerdings auch den Nachteil der Isolation und Inselbildung mit sich; deutschsprachige Forschungsergebnisse werden international kaum noch wahrgenommen.) Zweitens ist geisteswissenschaftliche Forschung im Allgemeinen nicht teuer und kann deshalb im Einzelfall auch bei mangelnder Finanzierung erfolgreich sein. Drittens schließlich lebt diese Forschung von Inspirationen, die nicht einfach monetär verrechenbar sind. Dazu zählt nicht zuletzt der Inspirationsraum europäischer Städte und Kulturlandschaften mit ihrer langen und reichhaltigen Tradition, die in vielen Teilen der Welt, vor allem in den USA, kein vergleichbares Gegenstück hat. Das erklärt, warum Deutschland mit anderen europäischen Ländern in der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung nach wie vor eher zu den Exporteuren als Importeuren gehört. (Manches kommt dann, über mehrere Rezeptionsstufen vermittelt, als Re-Import aus den USA wieder zurück.)
Viele Geisteswissenschaftler neigen dazu, Missstände, die sie im universitären Alltag zu bewältigen haben, auf ihre kollektive Benachteiligung gegenüber den` Naturwissenschaftlern zurückzuführen. Das liegt oft schlicht darin begründet, dass sie sich kaum je mit einem Naturwissenschaftler unterhalten. Sonst würden sie nämlich erfahren, dass Naturwissenschaftler über ganz ähnliche Dinge jammern wie ihre Kollegen aus den humanities: Verknappung der ohne zusätzlichen Antragsaufwand verfügbaren Ressourcen, Überreglementierung, Bürokratie, verordnete Interdisziplinarität und so weiter. Tatsächlich gibt es in fast allen Fachgruppen Begünstigte und Benachteiligte. Und plötzlich ändert sich das Bild: Man muss nicht mehr die bedrohte Kultur gegen Technokratie und ökonomischen Utilitarismus ausspielen, sondern findet quer durch die Disziplinen hindurch Allianzen von Gewinnern` und Verlierern` der Forschungsförderung und Wissenschaftspolitik.
Statt, einen alten Graben vertiefend, Geistes- und Naturwissenschaften wie zwei monolithische Blöcke gegeneinander aufmarschieren zu lassen, sollte genauer hingesehen werden: Bei differenzierterer Betrachtung stellen sich nämlich ganz andere Grenzverläufe her: Da scheiden sich in der Tat modische` Wissenschaften von Fächern, die nur eine geringe öffentliche Wertschätzung genießen. Auf manchen Gebieten finden Entwicklungen statt, die von vornherein profitabel sind oder es zu werden versprechen, während anderswo - selbst wenn dort Durchbrüche von enormer theoretischer Tragweite erzielt werden sollten - abseits jeglicher Profitinteressen geforscht wird.
Teilweise verläuft diese Grenzlinie zwischen angewandter und Grundlagenforschung, oder nüchterner: zwischen Wissenschaften, die große Dinge in Aussicht stellen (derzeit etwa die Humangenetik), und rein theoretischen Disziplinen. Man findet entsprechende Gegensätze innerhalb der Physik, Biologie, Mathematik ebenso wie innerhalb von Fächern, die sich traditionell den Geisteswissenschaften zurechnen (etwa der Linguistik). Ein Vertreter der string theory, der kosmologische Modelle durchrechnet, die jenseits experimenteller Verifizierbarkeit liegen, hat aus diesem Blickwinkel mehr mit einem theoretischen Mathematiker und vielleicht sogar mehr mit einem Philosophen gemein als mit seinem Kollegen im selben Institut zwei Bürotüren weiter, der seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Nanotechnologie serienweise zur Patentreife bringt und deshalb vom Landesministerium hofiert wird. - Ein anderes Beispiel: Von Eingeweihten erfährt man, dass Evolutionsbiologen, die sich wirtschaftlich folgenlos mit Schmetterlingsflügeln und Insektenbeinen befassen, niemanden so inbrünstig hassen wie ihre wichtigtuerischen Kollegen von der Genetik, die alle öffentliche Zuwendung auf sich ziehen, weil sie mit der Entwicklung genmanipulierten Saatgutes oder neuartiger Heilverfahren das Versprechen verbinden, die Menschheit von ihren drängendsten Problemen zu erlösen.
Das wäre reichhaltiger Stoff für einen neuen Artikel, den Berufenere schreiben mögen. Worauf es mir hier ankommt, ist, die Geisteswissenschaften aus einer Rolle der Opposition herauszuholen, in der sie nur verlieren können. Man sollte sie nicht zu einem Kranz von Orchideenfächern stilisieren (was nicht zutreffend ist) und nicht in eine falsche romantische Opposition zu unserer technisch-ökonomischen Zivilisation bringen. Der eigentliche Gegensatz heißt nicht: Geist versus Natur/Technik/Ökonomie, sondern: theoretisches versus praktisches Erkenntnisinteresse, langfristige versus kurzfristige Wissenschaftsplanung (soweit man Wissenschaft überhaupt planen kann).
Ein Gutteil der wissenschaftlichen Arbeit beschränkt sich schlicht darauf, Erkenntnisse und Fähigkeiten nicht verloren gehen zu lassen, sie vor dem Sog des Vergessens zu schützen und sicherzustellen, dass sie an aktuelle Theoriesprachen und Fragestellungen anschließbar bleiben. Ein anderer, wesentlicher Teil besteht darin, Erkenntnisse um ihrer selbst willen zu sammeln, zu ergänzen, zu vertiefen. Das ist für die meiste Zeit einigermaßen unspektakulär und Außenstehenden nicht leicht zu vermitteln. Und doch bildet dies den eigentlichen Nährboden für Innovationen, die schließlich die ganze Menschheit bewegen. Wann und wo dies geschieht, ist kaum voraussagbar - wie jeder weiß, der etwas von echter wissenschaftlicher Forschung versteht. Wissenschaft ist immer eine Mischkalkulation' aus Erkenntnis- und Anwendungsinteresse, zweckfreier Neugier und (oft unerwarteter) Nützlichkeit.
Man muss die ökonomische Denkart also besser verstehen, als sie sich teilweise selbst versteht, und um den Faktor einer wissensökologischen Nachhaltigkeit ergänzen, der in der Tat in Politik und Wirtschaft gern aus dem Blick gerät. Das ist ein Problem, das - sagen wir - die Assyrologen mit vielen industriefern arbeitenden Naturwissenschaftlern teilen. Mit der Ökologie der Wissenschaften verhält es sich wie mit anderen Biotopen: Sie bewegen sich in langen Zyklen und gedeihen langfristig nur dann, wenn die Artenvielfalt gesichert ist. - Hier kommen die Geisteswissenschaften wieder ins Spiel, aber diesmal nicht als betroffene Opfer, sondern als Quelle einer letztlich für die Praxis sehr relevanten Einsicht: Wie alle Kulturen sind auch Wissenskulturen hochgradig reizempfindliche und sich wechselseitig beeinflussende Gebilde; Innovationspfade halten sich nicht an die Aufgliederung in Sparten und Disziplinen, sondern verlaufen gleichsam querfeldein, wie man an der Geschichte besonders produktiver und revolutionärer Wissenschaftsepochen studieren kann. Es geht ja, über die Ansammlung von positivem Fachwissen hinaus, um die Eröffnung allgemeiner Denkmöglichkeiten, die alles bisher Gedachte und Denkbare überschreiten, sich folglich auch nicht auf ein umgrenztes Feld des Wissens beschränken und nicht durch Planungsvorgaben steuerbar sind.
Innerwissenschaftlich befinden sich die Geisteswissenschaften, ohne sich dessen vollständig bewusst zu sein, geradezu auf Expansionskurs. Das macht sich an den erheblichen Geländegewinnen` bemerkbar, die kulturalistische Ansätze in jüngster Zeit auch auf bisher fremden Territorien zu verzeichnen haben. Es ist ja inzwischen viel von politischer Kultur, von Rechts-, Unternehmens- und Wissenschaftskulturen (sogar Laborkulturen) die Rede. Das heißt nichts anderes, als dass eine der Herkunft nach geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise auch für die Analyse sozialer und technischer Prozesse, die denkbar weit von schöngeistiger Liebhaberei liegen, an Bedeutung gewinnt. Eine entsprechende Reichweite erlangen Begriffe, die zuvor scheinbar den Schönen Künsten vorbehalten waren: Poetik`; mitsamt ihren Derivaten, Performanz`, Evidenz`, Repräsentation`, Fiktion` und das Imaginäre`. All diese Wörter haben sozusagen ihren Stammplatz auf dem Gebiet der Ästhetik im engeren Sinn; aber sie werden in wachsendem Maß auf die Gesamtheit der sozialen Aisthesis und damit der gesellschaftlichen Produktion von Wissen bezogen, wie sie nach und nach ins Blickfeld umfassender kulturwissenschaftlicher Analysen gerät. 1
Diese Entwicklung erlegt den zuständigen Fachdisziplinen eine ungewohnte und paradoxe Aufgabe auf: Sie müssen sich der inflationären Verwendung des Begriffs Kultur` und der daraus abgeleiteten Kategorien erwehren und vielmehr die Grenzen eines oft voreiligen Kulturalismus betonen. Wie die unheilvolle Formel des Kampfes der Kulturen` oder die unbedachte Verallgemeinerung des Kollektivsingulars Islam` zeigen, kann die Überschätzung von kulturellen und religiösen Faktoren ebenso fatale Auswirkungen haben wie kulturelle Inkompetenz auf der anderen Seite. Es würde klüger (und billiger!) sein, weltgesellschaftliche Konflikte wirtschaftlich, politisch und diplomatisch zu behandeln, anstatt sie etwa zu religiösen Endzeitszenarien zu vergrößern. Auch dazu bedarf es der Geisteswissenschaften - um auf die Kosten hinzuweisen, die entstehen können, wenn man am falschen Ort Kultur` sagt, statt: Armut, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Umweltzerstörung, Staatszerfall.
1 Näheres
hierzu in: Albrecht Koschorke, Codes und Narrative.
Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung, in:
Walter Erhart (Hrsg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung
oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, Stuttgart 2004, S. 174 -
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