REFORM
Die Bundesländer müssen den Jugendstrafvollzug neu regeln. Die Vorbereitung auf ein Leben danach steht im Zentrum.
Der Befehl an die Politik war eindeutig und kam von ganz oben: Für den Jugendstrafvollzug ist eine eigene gesetzliche Grundlage zu schaffen, entschied das Bundesverfassungsgericht im Mai 2006. Zudem setzten die Karlsruher Richter die aufgrund der Föderalismusreform neu zuständigen Länderparlamente unter Zeitdruck. Allerhöchstens bis Ende 2007 sei der derzeitige gesetzlose Zustand noch hinnehmbar. Dann müsste es verbindliche Rechte für die rund 7.000 jungen Gefangenen (14 bis 24 Jahre) in Deutschland geben.
Angefacht wurde die Diskussion zusätzlich durch den Mord an einem 20-jährigen Häftling durch drei Mitinsassen in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Siegburg. Die vier 17- bis 20-Jährigen waren in dem stark überbelegten Jugendgefängnis in einer rund 20 Quadratmeter großen Zelle dauerhaft gemeinsam untergebracht. Aufgrund von Personalmangel wurden die Gefangenen zudem an den Wochenenden bereits mit der Ausgabe des Mittagessens bis zum nächsten Morgen um neun Uhr eingeschlossen. Dadurch waren die vier 17- bis 20-Jährigen in ihrer Gemeinschaftszelle über 20 Stunden ohne jegliche Kontrolle. Dies nutzten die drei Gefangenen, um ihren körperlich unterlegenen Mitinsassen über mehrere Stunden zu schlagen und bestialisch zu quälen. Zudem vergewaltigten sie ihr Opfer mit Hilfe eines Holzstiels und zwangen ihn anschließend, sich selbst aufzuhängen. Trotz des erheblichen Lärms bei der Tatausführung reagierte keiner der Justizvollzugsbeamten.
Dieser Mord wurde erst durch eine Obduktion des Opfers aufgedeckt und führte zu einer öffentlichen Debatte über die Ausstattung der deutschen Jugendgefängnisse. Im Ergebnis nutzten dann viele Landesjustizministerien das ohnehin anstehende Gesetzgebungsverfahren für einen grundlegenden Umbau des Jugendstrafvollzuges: Ab Januar 2008 wird es in allen Bundesländern spezielle Therapieangebote für gewaltbereite jugendliche Gefangene geben. Gleichzeitig sollen Vergünstigungen, wie zum Beispiel längere Besuchszeiten, an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden..
"Wir wollen fördern, aber auch fordern", sagt der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP). Dort gilt bereits seit dem 1. August dieses Jahres das neue Landesjugendstrafvollzugsgesetz: "Wir haben die Therapiemöglichkeiten ausgebaut. Zudem haben jugendliche Gefangene jetzt das Recht auf Arbeit und schulische oder berufliche Ausbildung", erläutert Goll. Parallel dazu wird von den Jugendlichen aber auch mehr Mitarbeit eingefordert, die im Gegenzug mit Vergünstigungen, wie zum Beispiel unüberwachten Ausgängen, belohnt werden.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch in vielen anderen Bundesländern: So fließen in Hessen, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern zusätzliche Millionen in den Jugendstrafvollzug. Finanziert werden dadurch unter anderem zusätzliche Ausbildungsplätze, eine pädagogische Betreuung auch an den Wochenenden und verpflichtende Deutschkurse für ausländische Gefangene.
Besonders umfangreich sind die Veränderungen in Nordrhein-Westfalen: So baut das Land eine neue Jugendstrafanstalt in Wuppertal mit rund 500 Haftplätzen, die voraussichtlich ab dem Jahr 2009 genutzt werden kann. Bereits jetzt stehen im Jugendarrest, wo kurze Freiheitsstrafen vollstreckt werden, über 60 neue Haftplätze zur Verfügung. Zudem werden 450 neue Stellen geschaffen. Der Großteil dieses zusätzlichen Personals soll zwar im Erwachsenvollzug eingesetzt werden, aber auch in den Jugendgefängnissen wird deutlich aufgestockt: So werden zum Ausbau der Sport-, Ausbildungs- und Therapiemöglichkeiten im Jugendvollzug zwölf Diplompädagogen neu eingestellt.
"Die Gefangenen sollen künftig die Möglichkeit haben, mindestens drei Stunden Sport in der Woche zu treiben", sagt Ulrich Hermanski, Sprecher des nordrhein-westfälischen Justizministeriums. Zudem wird es in allen fünf nordrhein-westfälischen Jugendhaftanstalten künftig spezielle Therapieangebote für gewaltbereite Gefangene geben. Parallel dazu will NRW an einer weitgehenden Öffnung des Vollzuges festhalten.
Das neue Jugendstrafvollzugsgesetz in NRW erlaubt zudem einen mehrtägigen Aufenthalt außerhalb der Gefängnismauern, wenn dies zum Beispiel für eine Ausbildungsmaßnahme erforderlich ist. Im Ergebnis ist es möglich, dass der verurteilte Straftäter in einem Lehrlingsheim wohnt und diese Zeit auf seine Haft angerechnet bekommt. "Wir wollen Gefangene, bei denen weder eine Flucht noch erneute Straftaten zu befürchten sind, nicht wegschließen, sondern möglichst schnell wieder in die Gesellschaft integrieren", sagt Hermanski.
Das konservativ-liberal regierte NRW geht damit einen ähnlichen Weg wie die sozialdemokratisch geführten Länder Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Berlin und Rheinland-Pfalz. Deren Entwürfe sehen vor, dass Gefangene, die bei ihrer Resozialisierung aktiv mitarbeiten, grundsätzlich in den offenen Vollzug kommen. Zudem besteht in den sozialdemokratisch geführten Bundesländern ebenfalls die Möglichkeit, Häftlinge in externen Erziehungseinrichtungen unterzubringen, wo hohe Zäune fehlen und eine Flucht oder erneute Straftaten somit möglich wären. Der rheinland-pfälzische Justizminister Heinz Georg Bamberger (SPD) verteidigt das Konzept: "Ich halte es für wichtig, hier konzeptionell offen zu bleiben. Wir wollten einen rechtlichen Rahmen für einen Jugendvollzug in freien Formen."
Andere, konservativ regierte Länder (Bayern, Niedersachsen, Hamburg und Hessen) haben dagegen den Vorrang der weitgehend geschlossenen Unterbringung ausdrücklich in ihr neues Land hineingeschrieben. Um in diesen Ländern in den offenen Vollzug zu kommen, müssen die Gefangenen daher besondere Voraussetzungen erfüllen, wie zum Beispiel eine gefestigte Persönlichkeit (Hessen) oder eine nachgewiesene Drogenabstinenz (Hamburg). Das nordrhein-westfälische Gesetz schreibt hingegen vor, dass alle Gefangenen, bei denen eine Flucht oder erneute Straftaten nicht zu befürchten sind, zwingend in den offenen Vollzug kommen müssen. Dies bedeutet eine Unterbringung in Haftanstalten, in denen es keine besondere Fluchthindernisse wie hohe Stacheldrahtzäune gibt.
So ist hingegen in Hamburg und Bayern ein Vollzug in offenen Formen außerhalb der Haftanstalten überhaupt nicht vorgesehen: "Wir können nur gezielt auf Gefangene einwirken, die sich in der Haftanstalt befinden", verteidigt der Hamburger Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) sein Konzept. Er favorisiert grundsätzlich einen Ausbau der Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der Gefängnismauern.
"In der Hamburger Jugendvollzugsanstalt Hahnöfersand gibt es über 50 unterschiedliche Qualifizierungsangebote", sagt Lüdemann. Die jungen Gefangenen könnten ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachholen und auch einen handwerklichen Gesellenbrief erwerben. "Wir haben Lernwerkstätten in den Bereichen Holz, Metall, Farbe, Maurerei und Gartenbau", so Lüdemann. Für den Berufsschulunterricht kommen externe Lehrer in die Anstalt. Neben der praktischen Ausbildung könnten die Jugendlichen zusätzlich ein soziales Training absolvieren. Dort würden Vorstellungsgespräche geübt und wie man eine Bewerbung schreibt.
"Für leistungsschwächere Jugendliche haben wir zudem eine spezielle Lerngruppe, in der es hauptsächlich darum geht, die Gefangenen sinnvoll zu beschäftigen und soziale Defizite aufzuarbeiten", sagt Lüdemann. Für gewaltbereite Gefangene gebe es in Hahnöfersand zudem seit langem eine sozialtherapeutische Abteilung. Zusätzlich soll jetzt eine spezielle Wohngruppe für Sexualstraftäter aufgebaut werden. Lüdemann sieht daher keine Notwendigkeit, Gefangene zur Behandlung in externe Einrichtungen zu verlegen.
Im Ergebnis wird sich der Jugendstrafvollzug in Deutschland in den nächsten Jahren stark auseinander entwickeln, was von Landespolitikern aber nicht als Nachteil gesehen wird: "Die Kritiker haben einen Wettbewerb der Schäbigkeit unter den Bundesländern vermutet, wir verzeichnen aber einen Wettbewerb der Konzepte", sagt der hessische Justizminister Jürgen Banzer (CDU). So geht Hessen zum Beispiel bei der Entlassungsvorbereitung einen Sonderweg: Während die meisten Ländergesetze unverbindlich bleiben, sieht der hessische Entwurf vor, dass spätestens sechs Monate vor dem Haftende gemeinsam mit dem Gefangenen dessen künftiges Leben in Freiheit geplant werden soll.
Zudem muss die Bewährungshilfe bereits während der Haft Kontakt mit dem Gefangenen aufnehmen. So soll unter anderem ermöglicht werden, dass der Häftling schon vor einer Entlassung in eine Therapieeinrichtung außerhalb des Gefängnisses vermittelt wird. "Wir wollen dadurch sicherstellen, dass die Gefangenen in der besonders kritischen Entlassungsphase durchgehend betreut, aber auch kontrolliert werden", so Banzer. Insgesamt erhofft er sich von den unterschiedlichen Länderkonzepten positive Impulse für die Fortentwicklung des Jugendstrafvollzuges.
Unabhängige Experten beurteilen den Umbau des Jugendstrafvollzuges durch die Bundesländer differenzierter: "Den befürchteten Wettbewerb der Schäbigkeit hat es wirklich nicht gegeben", sagt Frieder Dünkel, Professor für Strafvollzugsrecht an der Universität Greifswald. Eine Notwendigkeit für die regional unterschiedliche Ausgestaltung des Vollzuges sieht Dünkel allerdings auch nicht, da sich die Insassen in den Jugendgefängnissen bundesweit kaum unterscheiden würden. Insofern werde mit 16 neuen Ländergesetzen ein unnötiger Aufwand getrieben.
"In der neuen Zuständigkeit der Länder liegt aber auch eine Chance", räumt Dünkel ein. So gebe es nur sehr wenig verlässliches Datenmaterial darüber, welche Behandlungsmethoden im Jugendstrafvollzug besonders erfolgversprechend seien. Viele Bundesländer hätten noch nicht einmal eine Rückfallstatistik. Dies soll mit einem Ausbau der kriminologischen Forschung, der in allen neuen Landesstrafvollzugsgesetzen festgeschrieben wird, geändert werden.