Anglagende Diagnose
Die Regenwälder leiden unter dem »Tropenholzfieber« des Menschen
Schminkt man sich morgens die Lippen, fährt mit dem Auto zur Arbeit und telefoniert dann mit dem Handy, ist man schon mindestens dreimal dem Regenwald begegnet: Lippenstift enthält Palmöl, die Bremsen brauchen Gummi aus Kautschuk und Handys enthalten Koltan. Nur drei von unzähligen begehrterten Rohstoffe, die seit Jahrzehnten auf Kosten der Wälder in Afrika, Lateinamerika und Südostasien gewonnen werden. Denn neben der Holzgewinnung, werden dort hunderttausende Hektar urwüchsiger Wälder gerodet, um Palmölplantagen oder Kautschukwälder anzulegen - jedes Jahr fallen so schätzungsweise 16 Millionen Hektar Wald den Motorsägen zum Opfer. Wertvolle Ökosysteme geprägt von Baumriesen und einer Unzahl von Tieren und Pflanzen, die wechselseitig voneinander abhängig sind, verschwinden von unseren Landkarten.
Auf ihren Forschungsreisen hat Emanuelle Grundmann die letzten intakten Wälder in den entlegensten Winkeln der Erde besucht. Auf einer Reise in den Kongo tauchten beim Anblick eines 1000-jährigen Baumes vor ihrem geistigen Auge schreckliche Bilder auf: "der misstönende Laut der Motorsägen und der Planierraupen, die Schreie der Holzfäller". Im Laufe der Jahre ist aus ihren "Tränen Wut" geworden. Diese Wut gegen die industrielle Ausbeutung der Wälder hat sie in ihrem Buch "Wälder, die wir töten" zu Papier gebracht.
Grundmann weiß, dass der publizistische Kampf gegen die Vernichtung der Wälder nicht allein mit rationalen Argumenten zu gewinnen ist. Daher versucht sie den Leser auf zwei verschiedene Arten für sich zu gewinnen: Zum einen liefert sie Fakten und zeigt ungeahnte Zusammenhänge zwischen Krieg, Korruption und Entwaldung auf. Bevor sie den Leser aber mit der erschreckenden Bilanz der Ausbeutung der Wälder konfrontiert, möchte sie ihn erstmal für die Schönheit und die Einzigartigkeit des "smaragdgrünen Paradieses" gewinnen.
In einer gut verständlichen Sprache beschreibt sie die Komplexität des Ökosystems "Regenwald": einem faszinierenden Netzwerk von Tieren, Pflanzen und Menschen, den indigenen Völkern. "Einer Welt", so Grundmann, "in der auf die eine oder andere Weise alle Arten miteinander verbunden sind." So tragen beispielsweise Fledermäuse den Pollen der Parkia-Blüte weiter, deren Frucht später die Leibspeise der Orang-Utans bildet oder Fische in Sumpfwäldern sorgen für die Verbreitung von Samen der Kautschukbäume. Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen, die dem Menschen in den Zeiten des Klimawandels bewusster denn je werden. So bindet allein der Regenwald etwa 40-mal mehr Kohlenstoff als wir Menschen regelmäßig produzieren.
Doch selbst dieses Wissen hindert den Menschen in seinem "Tropenholzfieber" nicht daran, die Wälder und ihre Rohstoffe weiter brutal auszubeuten. Und ebenso wie sie im Wald das Wechselspiel der Arten beschreibt, stellt sie im zweiten Teil ihres Buches die Netzwerke aus politischen und wirtschaftlichen Interessen, aus Korruption und Kriminalität bis hin zu Mord dar, die alle vom "Ausverkauf im Regenwald" profitieren. Dabei nennt sie bewusst "Ross und Reiter" und stellt namentlich eine Reihe von Firmen an den Pranger.
Die langen Aufzählungen, wo wie viel zehntausende Kubikmeter Merbeau, Wengé oder Teakholz importiert werden, übersteigen dabei oft das Vorstellungsvermögen. Beeindruckender sind eher die einfachen Beispiele: So erhält ein Holzverkäufer für einen Kubikmeter Merbauholz in Papua 11 Doller, nach einer Odyssee über zahlreiche Zwischenhändler erzielt dieses Holz dann als Parkett verarbeitet in den USA einen Preis von 2.288 Dollar. Auch wenn nicht jeder die Böden seiner Wohnung mit teurem Tropenholz auslegt, zeigt Grundmann, wie der unstillbare Durst nach Papier, Koltan oder Erdöl - vor allem der Bewohner der Nordhalbkugel - die tropischen Regenwälder vernichtet. Weltweit verdient eine übermächtige Holz-industrie daran Milliarden. Ihre Beschreibungen von Korruption und Ränkespielen der mächtigen Holzlobby wirken dabei wie fast wie ein Polit- und Umweltthriller eines Krimiautors - aber sie sind Realität.
Beklemmend sind ihre Ausführungen auch, wenn Grundmann zeigt, welche Folgen, die Entwaldung noch mit sich bringt. Neben der dramatischen Abnahme der Artenvielfalt und der Ausrottung indigener Völker, geißelt sie besonders den "Diebstahl am Leben" - die moderne Biopirarterie, bei der sich große Pharmariesen in Wäldern gewonnene Stoffe patentieren lassen, deren Entdecker aber leer ausgehen. Desillusioniert wird der Leser, wenn Grundmann ihm vor Augen führt, dass viele wohlklingende Initiativen der Weltbank zum Schutz der Wälder oder aber auch Institute wie das National Institute für Biodiversity in Wahrheit nur Augenwischerei sind. Antworten auf die bange Frage, ob es noch Chancen für den Wald gibt, hat die Autorin allerdings kaum. Sie konstatiert knapp und ein wenig "schwarz-weiß", dass es am mangelnden politischen Willen liege. Politiker und Industrielle hätten gelernt, "Kreide zu fressen" und dabei lediglich ein paar praktische "Öko-Vokabeln" wie Nachhaltigkeit gelernt. So hat auch Grundmann letztlich nur den Rat, umweltbewusst zu kaufen, auf Holzsiegel zu achten und einheimische Produkte zu bevorzugen. Wir sollten daran denken, nicht nur, wenn wir uns die Lippen nachziehen oder das Handy ans Ohr halten.
Wälder, die wir töten.
Riemann Verlag, München 2007; 320 S., 18 ¤