WASSERLANDSCHAFTEN
Die Geschichte Deutschlands, schreibt David Blackbourn, ist eine Geschichte der Trockenlegungen
Viel wissen wir nicht über den 2. Juli 1753, jenen Tag, an dem die Oder auf einer Strecke von zwölf Meilen in ihr neues Bett gelegt wird. Nur eins steht fest: Da, wo vorher Wasser war, ist jetzt Land - und da, wo vorher Land war, ist jetzt Wasser. Zwölf Meilen Flussbegradigung im preußischen Jottwehde, wo es weit mehr Wölfe gibt als Schafe: Vielleicht ein kleiner Schritt für die Ingenieure. Aber, sagt Harvard-Professor David Blackbourn, ein gewaltiger Sprung für Deutschland. Der Startschuss für einen Entwicklungsprozess, der Deutschland verändert hat - langsam und leise, an vielen kleinen Orten, aber in der Summe doch grundlegender als so mancher Krieg. Denn die Geschichte des modernen Deutschlands, so Blackbourns zentrale These, ist die Geschichte seiner Landschaft. Genauer gesagt: die Geschichte seiner Wasserlandschaften. Noch genauer gesagt: die Geschichte der Eindämmung, Begradigung und Nutzung seiner Gewässer.
"Hier habe ich eine Provinz in Frieden erobert", soll Friedrich II. gesagt haben, als er das Werk seiner Ingenieure und seiner Soldaten erblickte, in jenen Julitagen 1753. Dabei war der Feldzug zur Eroberung der preußischen Sümpfe keineswegs die erste Landnahme. Aber, schreibt Blackbourn, sie war eben weitreichender und emblematischer als die Trockenlegungen in der Magdeburger Börde oder im bayrischen Donaumoos.
Für Blackbourn ist die Trockenlegung des Oderbruchs eine "Heldentat". Auch der Talsperrenbau in Baden, die Errichtung des bayrischen Walchenseekraftwerkes oder die Schiffbarmachung des Rheines schildert er als große Errungenschaften deutscher Planungs- und Konstruktionskunst. Als Ausgeburten des Willens, "die vernunftlosen Mächte der Natur den sittlichen Zwecken der Menschheit dienstbar [zu] unterwerfen", wie es Hermann von Helmholtz einst seinen naturwissenschaftlichen Forscherkollegen bei einem Kongress ins Stammbuch schrieb.
Dabei hat Blackbourn die für den Leser bestmögliche Haltung zu seinem Untersuchungsgegenstand eingenommen: Er bespöttelt einerseits den Ingenieurskult des 18. und 19. Jahrhunderts. Und versucht gleichzeitig, ihn aus dem Kontext zu verstehen. Halb fasziniert ihn deutscher Planungs- und Ordnungsfimmel, halb macht er sich darüber lustig. Wenn er sich etwa über die preußischen Colonisten-Tabellen im Oderbruch beugt und feststellt: "In jedem Dorf war festgelegt, wie groß die Häuser, Gärten, Felder und Weiden sowie der Bestand an Hausvieh und Haustieren bis zur letzten Gans und Ziege sein sollte."
Blackbourn hat sich für sein Werk nicht nur durch Archivstapel von Dokumenten gefräst hat, sondern er schnürte auch so manches Mal die Wanderstiefel. Man merkt das seinem Text an, aber leider zu selten. Denn das eigentlich recht locker-flockig geschriebene Buch ist an vielen Stellen arg hüftsteif übersetzt worden.
Blackbourn ist einer, der sich um das ökologische Gleichgewicht sorgt. Er spannt einen Bogen von der Trockenlegung des Oderbruchs unter Friedrich II. zur Flutkatastrophe 1997. Und wirft damit die Frage auf, ob Wasserbauingenieure nicht letzten Endes genau jene Probleme lösen, die wir ohne Wasserbauingenieure gar nicht erst hätten. Oder war andererseits die Begradigung der Flüsse, die Zubetonierung der Auenlandschaften, die Besiedlung der Moore nicht eben jener Preis, den uns Industrialisierung und Urbanisierung einfach abverlangt haben? Immerhin, so befindet Blackbourn, hat Deutschland aus seinen Fehlern gelernt.
Trotz Parteinahme für die ökologische Sache scheut sich der Autor nicht, auf Kontinuitäten in der Naturschutzbewegung vom Nationalsozialismus bis hin zu den Grünen hinzuweisen. Der Affekt gegen die Großstadt und gegen den "kalten" Materialismus; der liberale Kapitalismus als Feind der schönen deutschen Landschaft; das "undeutsche" am Baustoff Beton, die "Verschandelung" der Dörfer durch Werbeplakate; und die Abscheu gegen die Anpflanzung "nicht-bodenständiger" Bäume und Sträucher: Das alles sieht Blackbourn als Teil des "Avocado-Phänomens": grüne Schale, brauner Kern.
Ein provozierender Gedanke, ähnlich wie sein Vergleich zwischen dem "im Osten" ausgelebten deutschen Blut-und-Boden-Wahn und der Kolonialpolitik unserer Nachbarn: "Der Osten diente den Deutschen als Versuchslaboratorium", schreibt Blackbourn in seinem Kapitel über die NS-Zeit. "Ähnlich wie die Kolonien Englands und Frankreichs waren die besetzten Gebiete ein Terrain, auf dem neue Ideen ausprobiert werden konnten." So kühl, so lakonisch, so flapsig kann das nur ein Amerikaner schreiben.
Manchmal allerdings geht dem Autor der Gaul durch, man hätte sich an einigen Stellen ein strengeres Lektorat gewünscht. Muss man etwa wissen, wie viele Gulden (400) und wie viele Malter Roggen (2) der Rechnungsadjunkt für Wasserbauten am Rhein im Bezirk Rastatt verdiente?
So ist Blackbourns Werk in manchen Passagen ein ziemlicher Parforceritt. So manches Fass, das er da quasi im Vorbeilaufen aufmacht - etwa der Vergleich der Ökologiebewegungen und Umweltgesetzgebungen in der Bundesrepublik und der DDR oder die Frage nach dem Sinn von Gentechnologie in der Nahrungsmittelproduktion - wäre besser zugeblieben. Dann wäre das Buch noch klüger geworden und noch lesenswerter, als es eh schon ist.
Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007; 592 S., 39,95 ¤