Reden halten", sagt Elke Reinke, "das kann ich auch heute noch nicht richtig." Eitelkeit liegt der 49-jährigen Abgeordneten der Linkspartei fern. Ihre Schwächen benennt sie in überraschender Offenheit. Den meisten Politikern - in Selbstinszenierung geübt, im Umgang mit Medien geschult - würde so etwas wohl nicht über die Lippen kommen. Das ist in gewisser Weise auch verständlich. Doch Reinke ist ungewöhnlich anders, weil ihr Weg in die Politik ein ganz und gar ungewöhnlicher ist. Er begann im Herbst 2003 vor dem Arbeitsamt in Aschersleben: Elke Reinke war Montagsdemonstrantin gegen die Hartz-Gesetze - und arbeitslos, seit über zwölf Jahren.
Kurz nach der Wiedervereinigung, 1991, verlor die studierte Elektro-Ingenieurin ihren Arbeitsplatz in einem Leichtmetallwerk in Sachsen-Anhalt. Was folgte, war eine Odyssee von Weiterbildungen und Umschulungen. Sie lernte Englisch, wurde Speditionskauffrau. Doch eine Festanstellung blieb Reinke auch weiterhin verwehrt. Zu Beginn der zweiten Amtszeit Schröders wurde alles anders, aber nicht besser. Der tiefe Einschnitt kam mit dem nüchternen Namen "Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes" daher. Für Reinke bedeutete das nichts Anderes als Sozialabbau in einem bislang ungekannten Ausmaß. "Das war für mich", erinnert sie sich auch heute noch bewegt, "wie eine Strafe für etwas, wofür ich nicht verantwortlich bin."
Von da an habe es kein Stillhalten mehr gegeben. "Ich wollte mich wehren und habe mich mit anderen Betroffenen zusammengetan." Gemeinsam mit immer mehr Menschen versammelte sich Reinke ab Herbst 2003 immer zum Monatsende, wenn die Arbeitslosenzahlen bekannt gegeben wurden, vor dem Arbeitsamt in ihrem Ort. Protestieren, aber auch informieren war ihr wichtig. "Wir wollten in der breiten Öffentlichkeit auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam machen." Im Februar 2005 trat Reinke, die bis 1989 Mitglied der SED gewesen war, in die WASG ein. Nur ein halbes Jahr später passierte, womit niemand gerechnet hatte: Die Arbeitslose zog in den Bundestag ein. Die Linkspartei hatte sie auf Platz fünf der offenen Landesliste Sachsen-Anhalt gesetzt. "Mit einem Mandat", gibt Reinke zu, "habe ich aber nie gerechnet." Auch am Wahlabend nicht, als die Demoskopen wenigstens in einem Punkt Recht behalten sollten: Die Linke hatte den Wiedereinzug in den Bundestag geschafft, mit fast doppelt so vielen Stimmen wie zuvor und 54 Sitzen.
Einer davon stand für Elke Reinke bereit, die auf diese sonderbare Wendung in ihrem Leben doch recht gefasst reagierte. "Ich hab erst einmal abgewartet, bis es amtlich war und ich es schriftlich hatte." Oder mischte sich in die Verwunderung des Augenblicks doch ein wenig Angst, der Verantwortung des Mandats nicht gewachsen zu sein? "Natürlich hatte ich damals nicht das politische Fachwissen", sagt Reinke, die nun Mitglied im Familienausschuss ist, in der Rückschau. Aber Fachwissen sei auch nicht alles. "Mit meiner Erfahrung, dachte ich, und mit gesundem Menschenverstand schaffe ich das."
Pure Theorie kann die eigene Erfahrung nicht ersetzen. Das dürfte Reinke besonders deutlich spüren, wenn im Bundestag das Arbeitslosengeld thematisiert und der Sozialabbau kritisiert wird.
Die Zahlen, die dann kursieren, die Zumutungen, die den Menschen dann abverlangt werden - wer im Parlament kennt sie aus eigener Erfahrung besser als Elke Reinke? Vielleicht nannte gerade deshalb einmal ein Parteikollege Reinke den "Inbegriff einer Hartz-IV-Person". Genießt sie nun ein besonderes Vorrecht, sich zu äußern, wenn es um dieses Thema geht? "Jeder Politiker", widerspricht Reinke energisch, "soll seine Ohren und Augen für dieses Thema aufmachen." Ein verquerer Sozialfall-Stolz liegt ihr fern. "Ein Linker muss nicht arm sein, um sich für Arme einzusetzen." Und daher tut Reinke als Abgeordnete auch heute noch das, was sie im Herbst 2003 als Hartz-IV-Empfängerin begonnen hat: Sie fährt regelmäßig nach Aschersleben zur Montagsdemo. Mögen ihre Reden im Parlament auch nicht so geschliffen klingen, Beharrlichkeit und Stehvermögen zeigt sie doch: in Aschersleben wie in Berlin.